tb-1 Gegenstand der ErkenntnisPhilosophie des LebensOgden/Richards - Theorie der Definitionencc catch 4     
 
HEINRICH RICKERT
Zur Lehre von der Definition IV

Die naturwissenschaftliche Methode
Begriff und Wirklichkeit
"Wenn wir bisher von Definitionen sprachen, so war, wie ausdrücklich bemerkt, mit diesem Wort immer der Akt des Definierens gemeint. Doch, wie wir wissen, verwendet die Sprache das Wort Definition auch zur Bezeichnung des  Produktes,  welches durch das Definieren entsteht, als für das  definitum." 

III. Definition und Begriff

1. Die Unterscheidung von
analytischen und synthetischen Definitionen

Wir haben also zwei Arten von Definitionen kennengelernt, die man nach den Wissenschaften, in denen sie angewendet werden, analytische und synthetische Definitionen zu nennen pflegt. Doch sind diese Namen eigentlich wenig bezeichnend. Bei Ueberweg finden wir die Bemerkung, daß der Unterschied nicht sowohl den Charakter der Definition selbst als vielmehr nur die Art ihrer Genesis im Subjekt betrifft 1). Aber auch dies ist nur bedingt richtig. Denn weil es sich bei der Definition, soweit sie  B i l d u n g   e i n e s   B e g r i f f s  ist,  i m m e r  um eine  Z u s a m m e n f ü g u n g  von Merkmalen handelt, so kann auch die Genesis der Definition streng genommen nicht "analytisch" genannt werden. Die Unterscheidung beruth vielmehr nur darauf, daß die  V o r a r b e i t  für die Begriffsbildung in dem einen Fall das Material von Elementen durch eine Analysis und die Ausscheidung der unwesentlichen Merkmale aus "allgemeinen Vorstellungen" gewonnen hat, das andere Mal dagegen Elemente von der Definition zu einem Begriff zusammengefügt werden, die noch nicht in einer "Vorstellung" zusammen waren, also auch nicht durch Analyse in diesem Sinne gewonnen zu werden brauchten.

Eine Definition analytisch zu nennen nach einem Denkakt, der ihr zwar notwendig vorangehen, aber auch schon abgeschlossen sein muß, ehe die eigentliche Definition als Begriffsbestimmung vorgenommen werden kann, scheint an und für sich nicht angemessen, und es ist dies um so weniger am Platz, als die Definition, wenn sie den Begriff bildet, selbst immer eine  S y n t h e s e  darstellt. Die analytische Definition als Begriffsbildung würde demnach eine analytische Synthese sein. Die Bezeichnung aber wird vollends aufgegeben werden müssen, falls sich zeigen läßt, daß diese beiden Arten von Definition in Gegensatz zu einem andern, bisher noch nicht betrachteten Denkakt gestellt werden können, der, Definition und Analyse zugleich, am angemessensten analytische Definition zu nennen ist.


An einer früheren Stelle dieser Schrift wurde darauf hingewiesen 2), daß bevor die Definition ihren sprachlichen Ausdruck finden kann, ein logischer Denkprozeß vorangegangen sein muß, durch welchen der Begriff gebildet wird. Die Untersuchung hat sich vorläufig nur mit diesem Prozeß der Begriffs b i l d u n g  beschäftigt, und die Definition, soweit wir sie bisher gehandelt haben, hat sich uns als die Synthese der wesentlichen Merkmale an den Objekten zu Begriffen dargestellt. Diese Begriffe sollten als Subjekte oder Prädikate in den Urteilen dienen, deren System das ausmacht, was wir eine Wissenschaft nennen. Eine Wissenschaft entsteht nicht mit einem Schlage, sondern durch fortschreitende Bearbeitung der Erfahrung oder durch Konstruktion von Begriffen. Ein jeder Begriff bildet einen der Bausteine, als welchen das System errichtet wird. In ihm ist ein Ereignis von wissenschaftlicher Arbeit gleichsam kristallisiert. Soweit waren wir bisher gekommen.

Aber das genügt nicht, um die Lehre von der Definition zum Abschluß zu bringen. Der Begriff muß, wenn seine Bedeutung in dem Ganzen der wissenschaftlichen Erkenntnis hervortreten soll, in seine Bestandteile  z e r l e g t  werden. Dabei setzt nun wieder die Definition ein, und zwar in jenem bekannten Sinne, in dem sie fast ausschließlich betrachtet zu werden pflegt, nämlich als  B e g r i f f s a n a l y s e . Sie tritt dann immer als Satz auf, in dem die Bedeutung eines Wortes angegeben wird. Doch ist sie auch jetzt keine  W o r t e r k l ä r u n g , sondern sie "erklärt" den  B e g r i f f , der bei dem Worte gedacht wird. Das ist notwendig, denn der Begriff als solcher, welcher, wie wir wissen, eine Zusammensetzung der wesentlichen Merkmale der Objekte ist, bleibt sofern man ihn nur in seiner Eigenschaft als  Z u s a m m e n f a s s u n g  betrachtet, für die wissenschaftlichen Untersuchungen unfruchtbar. Die Definition als Synthese hat in ihn zwar die Resultate vorangegangener wissenschaftlicher Arbeit niedergelegt, und er soll diese Resultate so lange aufbewahren, bis man sie zu weiterer Arbeit wieder braucht. Aber um sie brauchen zu können, muß man sie aus dem fertigen, starren Begriff herausholen, sie gewissermaßen wieder lebendig machen, und den Denkakt, der den Begriff zu diesem Zwecke in seine Bestandteile zerlegt, nennen wir am besten analytische Definition, um sie von der vorangegangenen Begriffsbildung, der synthetischen Definition, zu unterscheiden.

Wir gebrauchen hiernach die Ausdrücke analytische und synthetische Definition in einem ganz andern Sinne, als die Logik sie zu gebrauchen pflegt. Nicht um die Unterscheidung zweier Arten von Wissenschaften handelt es sich, von denen die einen mit einer Analyse gegebener Objekte, die anderen mit freier Konstruktion durch Synthesis von Elementen ihre Untersuchungen beginnen, und die davon den Namen analytische und synthetische Wissenschaften erhalten haben, sondern um die zwei Akte der  B e g r i f f s b i l d u n g  und der  B e g r i f f s z e r l e g u n g , die in beiden Arten von Wissenschaften gleichmäßig vorkommen, und die in der Mathematik genau dasselbe leisten wie in irgendeiner empirischen Wissenschaft. Diese zwei Denkakte müssen scharf voneinander getrennt werden, und wir brauchen daher für die beiden Prozesse, von denen der eine eine Synthesis der wesentlichen Merkmale der Objekte zu seinem Begriff, der andere eine Analysis des Begriffs in seine Merkmale darstellt, auch zwei besondere Termini. Selbstverständlich ist es nach dem Vorhergehenden, daß eine analytische Definition immer erst erfolgen kann, wenn ihr eine synthetische Definition vorangegangen ist, daß sie also die synthetische Definition mit einschließt, und daß man daher von Definition ohne weiteren Zusatz reden kann, wenn man den gesamten Denkakt, der sowohl die Synthese als auch die Analyse umfasst, bezeichnen will.


2. Begriff und Urteil

Ehe wir jedoch die synthetische Definition als die Vorarbeit zur eigentlichen, analytischen Definition verlassen und die Regeln für die Definition als Begriffszerlegung bestimmen, müssen wir untersuchen, welchen Platz die beiden Denkakte im System der logischen Formen überhaupt einnehmen. Wir werden zu diesem Zweck nicht viel mehr zu tun haben, als einige Konsequenzen aus dem vorher Ausgeführten zu ziehen.

Wenn wir bisher von Definitionen sprachen, so war, wie ausdrücklich bemerkt, mit diesem Wort immer der Akt des Definierens gemeint. Doch, wie wir wissen, verwendet die Sprache das Wort Definition auch zur Bezeichnung des  P r o d u k t e s , welches durch das Definieren entsteht, als für das  d e f i n i t u m . Es kann nun nach dem Vorhergehenden nicht zweifelhaft sein, daß die Definition in dem zweiten Sinne  v ö l l i g   i d e n t i s c h   i s t   m i t   d e m   B e g r i f f .

Es findet sich diese Einsicht, so selbstverständlich sie scheint, unseres Wissens zuerst bei SIGWART ausdrücklich ausgesprochen. "Eine Vorstellung", sagt er, "ist nur dann ein Begriff, wenn sie klar ist, d. h. wenn, was darin gedacht wird, vollkommen bewußt ist.  D i e   D e f i n i t i o n   i s t   a l s o   d e r   B e g r i f f   s e l b s t , nicht etwas vom Begriff Verschiedenes" 3). Dieser Satz Sigwarts steht zwar nicht im Einklang mit seiner Bestimmung der Definition als bloßer Worterklärung, aber er ist unzweifelhaft richtig, und es ist nur merkwürdig, daß Sigwart, der die Definition, von dieser Stelle abgesehen, ein  U r t e i l  nennt, daraus nicht eine Konsequenz gezogen hat, die nicht allein nahe lag, sondern die im Grunde nur eine Weiterbildung der Logik in der von ihm selbst eingeschlagenen Richtung bedeutet.

Die Definition als Produkte oder als definitum ist, wie wir wissen, der Begriff. Was ist nun nach dem Vorhergehenden der Begriff selbst?

Wenn wir den Prozeß der Begriffszerlegung betrachten, so stellt er sich uns in der Form des Urteils dar, und die analytische Definition, gewöhnlich schlechthin Definition genannt, wird auch von der Logik immer als ein Urteil bezeichnet, wobei dann unter "Urteil" das dem Aussage s a t z  entsprechende oder von ihm gemeinte  g a n z e  Gedankengebilde zu verstehen ist, im Unterschiede von der an dem einzelnen  W o r t  haftenden Bedeutung, die nur einen  T e i l  des logischen Gehaltes darstellt. In den meisten Fällen sollte man, genau genommen, die Definition, die mehrere Merkmale aufzählt, einen Komplex von Urteilen nennen, denn die Angabej e eines Merkmals ist immer ein Urteil, und zwar handelt es sich dann bei der Definition um einen Komplex von "analytischen Urteilen", die alles ausdrücklich hervorheben, was in dem Begriff schon vorher gedacht war. Die analytische Definition setzt demnach den Begriff in ein Urteil oder in eine Reihe von Urteilen um, deren Subjekte jedesmal der zu analysierende Begriff, und deren Prädikate die Merkmale bilden, welche die synthetische Definition vorher als wesentlich in ihn aufgenommen hatte.

Wenn wir nun sehen, daß die Inhaltsangabe eines Begriffs, welche die Logik die Aufzählung seiner Merkmale nennt, aus einer Reihe von Urteilen besteht, so werden wir daraus schließen können, daß auch die synthetische Definition, die wir als eine Zusammensetzung von Merkmalen bezeichneten, aus einer Reihe von Urteilen bestehen muß. Es kommt uns dies nicht so deutlich zum Bewußtsein, weil wir diesen Akt der Begriffsbildung niemals ausdrücklich in einem Satz sprachlich zu vollziehen Veranlassung haben, aber es ist klar, daß die Synthese von Elementen auf keinem anderen Wege als durch Urteile zustande kommen kann. So erscheint uns denn die synthetische Definition, welche die Merkmale zusammenfügt, als der Denkakt, den die analytische Definition nur umzukehren braucht, um den Begriff in seine Urteile zu zerlegen, und wir können hiernach die synthetische Definition als den  U e b e r g a n g   v o m   U r t e i l   z u m  B e g r i f f  und umgekehrt die analytische Definition, welche die Merkmale wieder isoliert, als den  U e b e r g a n g   v o m   B e g r i f f   z u m   U r t e i l  bezeichnen.

Wir wissen nun, daß das logische Ideal unserer Erkenntnis in einem vollständigen System von Urteilen besteht, deren Subjekte und Prädikate konstante, also definierte Begriffe sind. Denken wir uns einmal diese Systematisierung unseres Wissens nach jeder Richtung hin vollzogen. Wir können dann den Inhalt unserer Erkenntnis mit einem Netze von Fäden vergleichen, in welchem die festen Knotenpunkte die  B e g r i f f e  darstellen, die Fäden dagegen, die von einem Knoten zum anderen gehen, die Beziehungen zwischen den Begriffen, d. h. die  U r t e i l e  bezeichnen sollen. Betrachtet man die Fäden als in der Richtung auf ihren Knotenpunkt begriffen, so hat man die Analogie für die synthetische Definition; denn hier sind Urteile, die sich zu einem Begriff zusammenschließen. Andererseits kann man die Sache aber auch so auffassen, daß die Fäden von dem Knotenpunkt gewissermaßen nach den verschiedenen Richtungen ausstrahlen, und dies würde das Gleichnis für die analytische Definition abgeben; denn hier wird der Begriff in seine Urteile zerlegt. Das menschliche Denken würde, wenn wir uns die wissenschaftliche Systematisierung seines Inhalts vollzogen denken, diesen ja niemals in seiner Totalität "anschauen", oder intuitiv erfassen, sondern ihn immer nur so durchlaufen können, daß es bald aus den aufeinander bezogenen Elementen, d. h. Urteilen, Begriffe bildet, bald diese Begriffe wieder in Urteile auflöst, also stets "diskursiv" verfährt. Es würde sich also überhaupt, genau genommen, immer  n u r  in  U r t e i l e n  bewegen, und diese Tatsache wirft Licht auf die Lehre vom Begriff.

Wenn Urteilen als die Grundfunktion unseres Denkens erscheint, mit dem wir Wahrheit erfassen, dann sind die Begriffe, ebenso wie die Knoten im Netz nur aus Fäden bestehen, nichts anderes als  d i e   D u r c h g a n g s p u n k t e   s i c h   k r e u z e n d e r   U r t e i l e . Beharren kann das lebendige Denken bei einem Begriff in Wahrheit keinen Augenblick. Es kann ihn immer nur urteilend bilden, um ihn sofort wieder urteilend zu zerlegen, und es würde sich bei vollzogener Systematisierung des Wissens nur noch in synthetischen und analytischen Definitionen bewegen.  D e r   B e g r i f f   i s t   d a h e r   e t w a s   v o n   d e n   i h n   b i l d e n d e n   U r t e i l e n   d e m   l o g i s c h e n   G e h a l t   n a c h   n i c h t   V e r s c h i e d e n e s . Er stellt, wenn man diesen Ausdruck gestatten will, höchstens den idealen Punkt dar, an den die einzelnen Urteile sich knüpfen. Wenn man die Urteile wegdenkt, so bleibt nichts anderes übrig als der Gedanke, daß die Urteile zu einer Einheit zusammengedacht werden sollen. Diese Forderung aber, den Begriff als Einheit zu denken, ist für das menschliche Denken unvollziehbar, und demnach können wir den Begriff auch eine  I d e e  nennen in kantischem Sinne, nämlich die Idee einer Aufgabe, die an das menschliche Denken gestellt wird und die, sobald man sich über den Sachverhalt klar geworden ist, zugleich von dem Bewußtsein ihrer Unlösbarkeit begleitet sein muß. Wo wir von einem Begriff als etwas Einheitlichem, Beharrendem reden, machen wir, streng genommen, eine Fiktion, wenn auch eine Fiktion von großem logischen Werte. Wir tun so, als hätten wir eine Aufgabe gelöst, die wir doch niemals lösen können, und hiernach bezeichnen wir den Begriff am besten als einen Komplex von  r u h e n d   g e d a c h t e n   U r t e i l e n .

Diese Ansicht, die den logischen Gehalt des Begriffs mit dem Gehalt des Urteils gleichsetzt, steht im Widerspruch mit den traditionellen Lehren der Logik 4). Der Begriff wird gewöhnlich als eine  f r ü h e r e  Stufe im Denken betrachtet, und das Urteil als eine  B e z i e h u n g  zwischen zwei Begriffen angesehen. Die Behauptung, daß der  d e f i n i e r t e  Begriff seinem logischen Gehalt nach nichts sei als ein  U r t e i l   i n   e i n e r   e i g e n t ü m l i c h e n   F o r m , ein Urteil, das gewissermaßen beiseite gelegt worden ist zu späterem Gebrauch, wird daher manchem paradox erscheinen, und wenn man nach dem Vorhergehenden vielleicht auch zugibt, daß die Definition als  P r o d u k t  von dem Definitions a k t e  sich durch nichts anderes unterscheiden kann, als dadurch, daß man in ihr die Urteile als Einheit aufzufassen versucht, so wird man den Begriff selbst doch für etwas vom Urteil noch in ganz anderer Weise Verschiedenes ansehen. Wir wollen daher versuchen, den Grund zu zeigen, weshalb diese irrtümliche Auffassung weit verbreitet ist, und damit zugleich unsere Meinung noch von einer anderen Seite her soweit klar machen, als es nötig ist, um über die Definition und ihre logische Bedeutung zu einer endgültigen Ansicht zu kommen.

3. Unzulänglichkeit der traditionellen Begriffslehre

Wir wissen, daß die Logik den Begriff als die allgemeine  V o r s t e l l u n g  betrachtet, die sich durch ihre Konstanz von andern allgemeinen Vorstellungen unterscheidet, und man pflegt das Verhältnis zwischen dem logischen Begriff und der allgemeinen Vorstellung an Beispielen aus der beschreibenden Naturwissenschaft zu erläutern, wie wir das auch getan haben. Doch muß man bei diesen Beispielen vorsichtig sein, denn wenn man den Begriff eines Tieres oder einer Pflanze zur Erläuterung dieser Verhältnisse benutzt, so drängt sich in das, was wir dabei denken, leicht ein bestimmtes sinnliches  B i l d  ein, und die Sätze über den Begriff kommen dann so heraus, als ob der Begriff nicht eine allgemeine Vorstellung im Sinne eine  W o r t b e d e u t u n g , sondern ein allgemeines, aber genau bestimmtes  a n s c h a u l i c h e s   B i l d  sei. Wenn ich z. B. von der allgemeinen Vorstellung eines Baumes einerseits und von dem Begriff des Baumes andererseits rede und mir eines von beiden, Begriff oder Vorstellung, näher zu bringen suche, so gelingt mir das vielleicht am besten, wenn ich mir das anschauliche Bild eines Baumes vergegenwärtige und dabei den Gedanken habe, es komme auf die und die individuellen Eigenschaften dieses Bildes nicht an. Bei der Vorstellung ist es unbestimmt gelassen, welches die Eigenschaften sind, auf die es ankommt, ich denke heute an andere als morgen, beim Begriff dagegen sind die "Merkmale" ein für allemal als die wesentlichen Bestandteile der Dinge genau festgesetzt.

So lange es sich um ähnliche Dinge wie um einen Baum handelt, scheint diese Betrachtungsweise ganz einleuchtend. Aber ist es möglich, mit solchen Beispielen die Sache in Wahrheit zu erschöpfen? Lotze, dessen Lehre vom Begriff eine Menge von Irrtümern berichtigt hat, unterscheidet bereits ausdrücklich zwischen solchen Allgemeinbegriffen, die wir "in einer Anschauung", und solchen, die wir "nur noch in Gedanken" fassen, aber auch diese können nach ihm immer nur, wenn auch zu einer abweichenden, so doch "zu einer  a n s c h a u l i c h  ganz abweichenden Gestaltung" führen. 5) Hier spielt also die Anschauung in Begriffe ebenfalls noch eine große Rolle, und wenn Lotze sich auch weit über die herkömmliche Lehre vom Begriff erhoben hat, so ist er doch nicht weit genug gegangen. Das Unzureichende der Ansicht, wonach der Begriff eine  S u m m e  von Merkmalen sei, hat er deutlich gefühlt. Seinen Vorschlag, anstatt der Formel Y = a + b + c ... die Formel Y = K (a, b, c ....) zu gebrauchen, welche andeuten soll, "daß a, b, c auf eine im Einzelfall genau angebbare, im allgemeinen höchst vielfältige Weise verknüpft werden müssen, um den Wert von Y zu ergeben", haben wir oben selbst akzeptiert, aber viel erreicht ist hiermit allein noch nicht. Die Konstruktion von solchen Formeln kann uns überhaupt der wahren Einsicht nicht prinzipiell näher bringen. Der Apparat von Buchstaben, Kreisen usw., den der logische Formalismus erfunden hat, mag pädagogischen Wert besitzen, aber nur zu leicht kommt man auf den Gedanken, daß mit ihm das logische Denken seinem wahren Wesen nach erfaßt sei, und dann verleitet er zu den folgenschwersten Irrtümern. Hat doch ein Mann, wie Fr. A. Lange, allen Ernstes mit Aufwand von großem Scharfsinn beweisen wollen, daß die Stringenz der Syllogismen auf der mathematischen Anschauung beruhe, welche sich uns beim Anblick der zur Verdeutlichung der verschiedenen Schlußarten benutzten Figuren aufdrängt 6).

Die ganze Merkmalslehre und die damit zusammenhängende Lehre vom Begriff als einer allgemeinen und genau bestimmten  V o r s t e l l u n g  ist schematisch und äußerlich. Nehmen wir einmal andere Dinge zu Beispielen als Tiere oder Pflanzen, etwa "Krankheit". Auch hiervon habe ich eine Vorstellung und einen Begriff. Die Vorstellung kann ich mir nur nahe bringen, wenn ich an einen kranken Menschen denke, und zwar an einen, der an einer bestimmten Krankheit leidet, wobei ich dann wieder die und die individuellen Kennzeichen absichtlich vernachlässige. Beim Begriff der Krankheit aber handelt es sich doch um etwas ganz anderes. Wenn z. B. Cohnheim Krankheit definiert als den Zustand eines Körpers, in welchem die "Abweichung vom regelmäßigen, d. h. gesunden Lebensprozeß" so stark ist, daß "gegenüber einer oder mehrerer Lebensbedingungen die regulatorischen Einrichtungen nicht mehr ausreichen, den Ablauf der verschiedenen Lebensprozesse ohne Störung zu effektuieren" 7), so ist schwer einzusehen, was man einem solchen Begriff gegenüber mit der gewöhnlichen Merkmalslehre anfangen wollte, und wo hier noch von irgendwelcher sinnlichen Anschauung als einem wesentlichen Elemente die Rede sein kann. Diese Definition wird uns vielmehr, wenn wir sie verstanden haben, vor allem eine Reihe von physiologischen Gesetzen ins Bewußtsein rufen, und falls wir auch dabei noch etwas anschauen, so liegt doch das Wesentliche nicht in diesen Anschauungen, sondern vielmehr  i n   d e r   A r t   d e r   R e l a t i o n e n ", die wir zwischen den Anschauungen vollzogen denken.

Wir müssen uns daher von der Meinung, als ob es beim Begriff auf das vorgestellte anschaulich-sinnliche Bild ankomme, vollkommen frei machen und uns zum Bewußtsein bringen, daß wir eine Sache erst dann wirklich begriffen haben, wenn wir von der sinnlichen Anschauung absehen können. Gerade die Beispiele aus den beschreibenden Naturwissenschaften, aus denen die ganze Merkmalslehre stammt, zeigen uns, wie wenig die herkömmliche Lehre vom Begriff den Prozeß erfaßt hat, den wir wissenschaftliche Darstellung nennen. Wenn wir wissen, daß das Pferd zu den Einhufern gehört, haben wir dann  b e g r i f f e n , was ein Pferd ist? Ist eine solche Begriffsbestimmung mehr als ein Notbehelf, auf den man nur gekommen ist, weil es ein wahrhaft wissenschaftliches Prinzip, das mehr als ein äußerliche Klassifikation lieferte, noch nicht gab? Stellt nicht die ganze Einteilung in Klassen, Gattungen, Arten usw., wie wir schon früher gesehen haben, nur einen rohen Versuch dar, eine Uebersicht über die organische Welt zu gewinnen? Und aus diesen Wissenschaften, die die unterste Stufe menschlicher Erkenntnis bilden, wählt die Logik trotzdem wieder ihre Beispiele. Lotze hat sehr richtig darauf hingewiesen, daß die Unterordnung unter das Allgemeine "Tier" oder "Pflanze" einen Gegenstand nicht wirklich unter einen Begriff bringe, sondern die Arbeit nur zurückschiebe, da eben Tier oder Pflanze nur allgemeine Bilder seien. Aber was denn nun eigentlich ein Begriff ist, das erfahren wir auch von Lotze nicht. Er verbreitet ein unbestimmtes Licht, bei dem man wohl zu sehen vermag, daß nicht alles sich so verhält, wie es gewöhnlich dargestellt wird, und das daher sehr anregende wirkt, aber es fällt kein heller Sonnenstrahl auf die Dinge, der uns erkennen läßt, wie es denn nun in Wahrheit mit ihnen steht. Bisweilen scheint die Lehre vom Begriff, von den genannten Ausnahmen 8) abgesehen, nicht prinzipiell über die Theorien jener Zeit hinausgekommen, in denen die Wissenschaft, in vollster Uebereinstimmung mit den logischen Doktrinen, Gold zu machen hoffte, wenn sie seine "Merkmale", wie Schwere, Glanz, usw. in einem Tiegel zusammenkochte.

Es ist nicht unsere Aufgabe, eine ausgeführte Theorie vom Begriff zu geben. Es sollte nur angezeigt werden, daß man den Begriff falsch auffaßt, wenn man an seine Stelle ein anschauliches Schema oder einen bildartigen Grundriß setzt, in den sich die einzelnen Merkmale eintragen und von dem sie sich dann ablesen lassen. Es sollte gezeigt werden, daß man die Lehre von der Definition, als einem Werkzeuge zu wissenschaftlich-begrifflicher Darstellung, nicht verstehen kann, wenn man sich an Beispielen wie etwa "der Mensch ist ein zweibeiniges Tier ohne Federn" über sie klar zu werden sucht.

Der Ueberschuß, der für die meisten in dem Begriff gegenüber der Definition zu liegen scheint, ist das anschaulich-sinnliche Bild, das wir bei den üblichen Beispielen der Logik immer mit heranziehen, das aber völlig unwesentlich ist und daher mit dem Begriff selbst nichts zu tun hat. Wir müssen den wissenschaftlich definierten Begriff durchaus als eine eigentümliche Form des Urteils betrachten. An Beispielen aus den erklärenden Wissenschaften könnte leicht gezeigt werden, wie die Begriffe sich so völlig in Urteile umsetzen lassen, daß nicht bleibt als jener Gedanke, diese Urteile sollen eine Einheit bilden. Begriffe aus der Physik, wie der der Gravitation und andere Gesetzesbegriffe machen das ganz klar. Der Begriff der Gravitation ist seinem wissenschaftlichen Gehalt nach identisch mit dem Gravitationsgesetz, und Gesetze sind immer Urteile.

Doch kann gerade dies Beispiel auch ein Bedenken erregen, nämlich den Anschein erwecken, als umfasse unsere Theorie nur einen Teil der wissenschaftlichen Begriffe, und deshalb sei noch einiges zur Erläuterung unserer Ansicht und zur Abweisung von Einwänden hinzugefügt.

Wir hoben hervor, daß der wesentliche Gehalt des Begriffs nicht aus den anschaulichen Bildern besteht, die sich beim Verstehen von Wortbedeutungen leicht einstellen, sondern in den Relationen zu finden ist, die wir zwischen den Anschauungen vollzogen denken, oder daß es, um die üblichen Ausdrücke zu verwenden, beim Begriff nicht auf "Vorstellungen", sondern auf die "Vorstellungsbeziehungen" ankommt. Dadurch scheinen nun die Relationsbegriffe in einen Gegensatz zu den Dingbegriffen gebracht zu sein, und an diese Unterscheidung hat Sigwart einen Einwand gegen unsere Ausführungen geknüpft 9). So viel Richtiges darin liege, daß der Begriff als Vereinigungspunkt von Urteilen zu fassen sei und in diesen sich entfalte, so gehe doch die hier entwickelte Theorie zu weit. "Was sollen, wenn jeder Begriff nur ein Komplex von Urteilen ist, die Subjekte und Prädikate  d i e s e r  Urteile sein?" Es werde übersehen, "daß in unsern Begriffen bestimmte Synthesen enthalten sind, die allein möglich machen, eine Anzahl von Urteilen wirklich in eine Einheit zusammenzuschließen". Zugegeben, daß der Begriff der Gravitation identisch ist mit dem Gravitationsgesetz, " so ist er es nur darum, weil er ein Relationsbegriff ist, kein Dingbegriff; er setzt gravitierende Massen voraus". Kurz, unsere Darstellung sei einseitig, meint Sigwart, weil sie einen an sich richtigen Gesichtspunkt allein betone.

In der Beurteilung dieses Einwandes sind zwei Argumente auseinanderzuhalten. Was zunächst die Unterscheidung von Ding- und Relationsbegriffen betrifft, so darf sie nicht mit der Unterscheidung von "Vorstellungen" und "Vorstellungsbeziehungen" identifiziert werden. Nicht allein der Begriff der Gravitation, ald er eine Beziehung zwischen Massen, besteht aus Urteilen, sonder auch der der "Masse" selbst ist, seinem wissenschaftlichen Gehalt nach, ein Urteilskomplex, soweit es sich dabei um einen definierten Begriff der Masse und nicht nur um eine in dem angegebenen Sinne unbestimmte allgemeine Vorstellung handelt. Oder allgemein ausgedrückt: nicht nur die Begriffe  v o n  Relationen sind ihrem logischen Gehalte nach  a u s  Relationen zusammengesetzt, sondern auch von jedem beliebigen andern Objekt, als auch von einem Dinge, läßt sich ein Begriff bilden, der aus Relationen oder Vorstellungsbeziehungen besteht.

Schon daraus folgt, daß unsere Theorie nicht etwa nur für Relationsbegriffe, d. h. für Begriffe  v o n  Relationen gilt. Die Struktur des Begriffsinhaltes darf man nicht mit der Struktur der Objekte verwechseln, die unter den Begriff fallen. Die Definitionen der Begriffe von Dingen setzen die "allgemeinen Vorstellungen" von Dingen ebenso in Urteile um, wie die Definitionen der Begriffe von Relationen dies tun. Die Unterscheidung von Ding- und Relationsbegriffen hat also, so wichtig sie in anderer Hinsicht sein mag 10), in diesem Zusammenhange keine Bedeutung.

Doch ein anderer, allgemeinerer Einwand Sigwarts ist hiermit noch nicht zurückgewiesen. Wenn  j e d e r  Begriff ein Komplex von Urteilen ist, was sollen dann die Subjekte und Prädikate  d i e s e r  Urteile sein? So kann man mit Recht fragen und dann meinen, man müsse doch schließlich einmal zu Begriffen kommen, die sich nicht mehr in Urteile umsetzen lassen.

Aber auch dieser Einwand trifft die hier vertretene Begriffstheorie nicht, denn unter "Begriffen" verstehen wir in diesem Zusammenhange ja nur  d e f i n i e r t e  Begriffe. Hiergegen läßt sich auch vom Standpunkt Sigwarts nichts einwenden, da er ebenfalls den Begriff von der noch unbestimmten allgemeinen Vorstellung unterscheidet. Gewiß ist es also richtig, daß die Auflösung der Begriffe in Urteile nicht immer weiter fortgesetzt werden kann, und daß daher nicht  a l l e  Urteile Subjekte und Prädikate haben, die aus definierten Begriffen, also aus Urteilen bestehen. Wir müssen schließlich in der Tat zu Urteilen kommen, deren Subjekte und Prädikate letzte, nicht mehr definierbare Elemente unserer Erkenntnis sind. Aber auf diese "Begriffe" braucht unsere Theorie nicht zu passen. Wir unterscheiden zwischen definierten Begriffen und einfachen Wortbedeutungen als undefinierbaren Begriffs e l e m e n t e n . Dann ist alles in Ordnung, denn darauf allein kam es hier an, zu zeigen, daß der Begriff,  s o w e i t   e r   d e f i n i e r t   i s t , aus Urteilen besteht. An der Richtigkeit dieser Ansicht wird durch die Ausführungen Sigwarts nichts geändert.

Will man unsere Theorie bekämpfen, so ist es nötig, den Boden der Sigwartschen Logik zu verlassen. Nach ihr ist das Urteil eine Synthese von Vorstellungen 11), die mit Bewußtsein der objektiven Gültigkeit vollzogen wird, und da die gültige Vorstellungsbeziehung auch den logischen Gehalt des definierten Begriffes ausmacht, so muß gerade nach Sigwart der wissenschaftlich gültige Begriff eine Form des Urteils sein. Der Unterschied ist dann nur noch im sprachlichen Ausdruck zu finden und läßt sich dort auf den logisch unwesentlichen Unterschied von Wort und Satz zurückführen. Soll dagegen auch der logische  G e h a l t  des Urteils, auf den es hier allein ankommt, etwas von dem des Begriffs prinzipiell Verschiedenes sein, so ist zu zeigen, daß das Urteil  m e h r  als eine gültige Synthese von Vorstellungen darstellt. Dann würde sich in der Tat ergeben, daß wir den Begriff nur im Sinne der Tradition, die das Urteil für eine Vorstellungssynthese hält, als eine Form des Urteils erwiesen haben.

Wir werden also schließlich, wenn wir zu einer umfassenden Begriffstheorie kommen wollen, vor die Frage gestellt, ob das Urteil sich als bloße Vorstellungsbeziehung verstehen läßt oder nicht, und da scheint es nun allerdings notwendig, daß wir auch in dieser Hinsicht die Tradition aufgeben. Man kann nämlich zeigen, daß zu jedem  w a h r e n  oder  f a l s c h e n  Sinn einer Aussage, also zu jedem Urteilsgehalt ein Ja oder Nein gehört, welches zu der Vorstellungsbeziehung als ein neues Moment hinzutritt 12), und das ist insofern von entscheidender Wichtigkeit für das Verhältnis des Begriffs zum Urteil, als dies Ja oder Nein gerade dem Begriff zu fehlen scheint. Mit Rücksicht hierauf würde also auch der definierte Begriff nicht als ein Komplex von Urteilen gelten können.

Damit entsteht in der Tat ein ganz neues Problem. Doch würde die begründete Entscheidung dieser Frage über den Rahmen einer Untersuchung der  D e f i n i t i o n  weit hinausführen. Wir wollten hier nur zeigen, daß im definierten Begriff bereits die "Vorstellungs b e z i e h u n g " zu finden ist, die man vielfach für das logische Wesen des Urteils als ausschlaggebend ansieht, und daß  i n s o f e r n  Urteil und definierter Begriff ihrem logischen Gehalt nach nicht verschieden sind. Auf das Ja oder Nein im Sinn jedes wahren Urteils und die ihm entsprechenden Akte der Bejahung und Verneinung wurde nur implicite Bezug genommen, indem wir den Begriff einen Komplex von "ruhend gedachten" Urteilen nannten, und ihn insofern vom "lebendigen" Urteil trennten. Die ausdrücklich vollzogenen  A k t e  der Bejahung und Verneinung müssen ihm selbstverständlich fehlen.

Trotzdem schließt dieser Umstand es nicht aus, daß sein  l o g i s c h e r  Gehalt dieselbe  G e l t u n g  besitzt, wie das Urteil sie hat, in dem die Bejahung oder die Verneinung vollzogen und insofern lebendig ist 13). Ja diese Geltung wird ihm zukommen müssen, wenn er wissenschaftlichen  W e r t , d. h. Wahrheit besitzen soll, und nur für wissenschaftlich wertvolle Begriffe, nicht für willkürliche Merkmalskomplexe" ist diese Theorie aufgestellt. Daher können wir nach wie vor an dem Satz festhalten, daß ein definierter und wissenschaftlich wertvoller Begriff seinem logischen  G e h a l t  nach aus dem logischen Gehalt von Urteilen besteht.

4. Der Begriff und das Wort

Wenn nun aber der definierte Begriff seinem logischen Gehalt nach nichts außer den Urteilen ist, die ihn bilden, und wenn die Aufgabe, diese Urteile faktisch zu einer Einheit zusammenzufassen, nicht gelöst werden kann, welche Bedeutung hat dann der Begriff für unsere Erkenntnis? Was heißt dann noch begrifflich denken?

Es würde in der Tat ein begriffliches Denken für uns unmöglich sein, wenn nicht ein neues, in diesem Zusammenhange noch nicht ausdrücklich berücksichtigtes Element zu den als ruhend gedachten Urteilen hinzukäme. Dies Element, das wir bisher absichtlich bei unseren Untersuchungen in den Hintergrund gedrängt haben, weil wir die Definition als Begriffsbestimmung trennen mußten von der Definition als Worterklärung, ist die  S p r a c h e . Die eigentümliche Bedeutung, die das Wort, ganz abgesehen davon, daß es zur Mitteilung von Gedanken dient, für den begrifflichen Denkprozeß hat, ist jetzt leicht einzusehen. Die  E i n h e i t   d e s   G e d a n k e n s , die wir als eine unlösbare Aufgabe erkannt haben, wird ersetzt durch die  E i n h e i t   d e s   W o r t e s . Wir würden in der Tat niemals zu einem so komplizierten begrifflichen Denken gelangen können, wenn uns nicht die Sprache zu Gebote stände, um die Komplexe von Urteilen, die wir nie als Einheiten aufzufassen vermögen, mit je einem Worte zu bezeichnen, das an Stelle des Begriffes tritt, sich schließlich untrennbar mit den als ruhend gedachten Urteilen assoziiert und nun im Denkprozeß als Baustein verwendet werden kann. Mit Hilfe der Wörter vermögen wir die in einem Begriff zusammengeschlossenen Resultate wissenschaftlicher Untersuchungen leichter weiter zu verwerten, denn wir können aus den Bedeutungen, die an ihnen haften, durch ihre Synthese neue Urteile bilden und schließlich ein ganzes System von Urteilen aufstellen, deren Subjekte und Prädikate Urteilskomplexe sind, und deren Notwendigkeit sich von selbst ergibt, sobald wir die Komplexe in ihre einzelnen Urteile auflösen, d. h. die Begriffe definieren und dadurch die Beziehungen hervortreten lassen, in denen sie zu anderen Begriffen oder Urteilskomplexen stehen.

Andererseits finden wir in dem Umstande, daß jeder Begriff notwendig mit einem Worte bezeichnet sein muß, eine neue Erklärung dafür, daß man es auch bei einem definierten Begriff, dessen wesentlicher logischer Gehalt son sinnlicher Anschauung frei ist, noch mit einer Einheit zu tun zu haben glaubte: das Wort allein bildet die Einheit und täuscht darüber hinweg, daß man, abgesehen von der Sprache, nur Urteile vor sich hat, die, ausdrücklich vollzogen, die Form von Sätzen annehmen müssen.

Es braucht wohl nicht darauf hingewiesen zu werden, daß diese Lehre keine "Nominalismus" ist. Wohl aber kann die Einsicht in das wahre logische Wesen des Begriffs dazu dienen, zu verstehen, warum der Nominalismus noch immer mit Hartnäckigkeit und mit einem gewissen Schein von Berechtigung verteidigt wird. Wenn man fragt, was denn eigentlich dem allgemeinen Begriff in der Wirklichkeit entspricht, so findet man dort nichts Allgemeines, denn alles Wirkliche ist individuell. Deshalb suchte man das "Wesen" einer Sache, das der Begriff ausdrücken soll, im Wort und meinte, daß das Allgemeine nichts als ein Lautkomplex sei. Wir dagegen sehen, daß das Wort nur ein Hilfsmittel ist, um einen Komplex von Urteilen als etwas Einheitliches, Beharrendes im Denkprozeß zu verwenden, und daß das Allgemeine aus dem Gehalt von Urteilen besteht.

Nun wenden wir uns wieder der Definition zu, die wir die analytische genannt haben, und deren Wesen wir jetzt leicht werden begreifen können. Sie ist, wie wir bereits wissen, das Urteil, welches aus dem Begriff die in ihn hineingelegten Denkresultate wieder herausholt, und wir verstehen nun, daß in dem Satz, durch den sie sprachlich formuliert wird, das grammatikalische Subjekt stets das Wort sein muß, das die stellvertretende Einheit für die als ruhend gedachten Urteile bildet. In diesem Sinne ist es richtig, daß es sich bei einer Definition um eine Definition des Wortes handelt. Aber auch  n u r  in diesem Sinne, und wir werden daher den Ausdruck "Wortdefinition" nach wie vor wenig angemessen finden, da ja das Wort hier nur als äußerliches Hilfsmittel eingetreten ist und durch irgend etwas anderes ersetzt werden könnte. Das logisch Wesentliche ist nicht die Worterklärung, sondern die Analyse seiner aus Urteilen bestehenden  B e d e u t u n g , d. h. die Begriffsbestimmung.

Wir sehen ferner, daß die analytische Definition mit Rücksicht auf ihre sprachliche Formulierung mit Recht als ein "identisches Urteil" bezeichnet werden kann, denn sie gibt explicite in einer Reihe von Urteilen dasselbe an logischem Gehalt, was implicite unter dem Wort gedacht ist, und stellt sich daher als ein "analytisches Urteil" im Sinne Kants dar. Auch hieraus aber folgt durchaus nicht, wie Sigwart gemeint hat 14), daß die Definition keine Begriffserklärungen, sondern nur Worterklärungen gebe, denn es steht nicht etwa in ihr auf der einen Seite  n u r  das Wort und auf der andern Seite seine Erklärung. Der logische Sinn des Satzes, welcher definiert, ist vielmehr der, daß wir auf der einen Seite die Bedeutung des Wortes als  E i n h e i t  des Begriffs, auf der andern Seite dagegen  d i e s e l b e  Bedeutung als  z e r l e g t  in ihre Elemente zu denken haben. Unter dieser Voraussetzung, und nur unter ihr, ist dann auch richtig, daß jede Definition, die sprachlich formuliert ist, sich umkehren lassen muß; ihr Subjekt bezeichnet denselben Gedankeninhalt wie ihr Prädikat, nur in anderer Form, und es ist gleichgültig, ob der Gedankeninhalt als Subjekt oder als Prädikat in einer der beiden Formen auftritt. Jedesmal sind es Urteile, einmal im Begriff als ruhend gedacht, das andere Mal ausdrücklich vollzogen und aufgezählt.



LITERATUR - Heinrich Rickert, Zur Lehre von der Definition, Tübingen 1929