ra-3M. SchelerH. MarcuseK. MarxM. HorkheimerH.-J. Lieber    
 
CLAUDE LEFORT
Ideologieanalyse
in der heutigen Gesellschaft


"Marx selbst hat in einer viel radikaleren Weise die Autonomie des Wissens in Frage gestellt. Für ihn ging es nicht darum, sie einfach auf einen politischen Nenner zu bringen, sondern er wollte einen allgemeinen Widerspruch aufdecken, der aus der Struktur einer Gesellschaft, in der die Arbeitsteilung die Individuen völlig isoliert und zugleich die gesellschaftliche Praxis der Menschen zum Geheimnis werden läßt, notwendig folgen muß."

Wenn es unmöglich ist, die MARXsche Ideologiekritik zu ignorieren, so muß man darin übereinkommen, daß die seit dem Erscheinen des MARXschen Werkes eingetretenen sozialen Umwälzungen uns dazu zwingen, sein Werk selbst einer erneuten Kritik zu unterziehen. Wir wollen hier einige Punkte aufzeigen, auf die sich eine solche Kritik zu richten hätte.

Es erscheint uns außer allem Zweifel, daß das MARXsche Prinzip, wonach die Ideen nicht aus sich selbst, unabhängig von der sozialen Umwelt, in der sie auftreten, erklärt werden können, immer wirksamer die soziologische Forschung befruchtet hat. Dieses Prinzip bildet die soziologische Forschung befruchtet hat. Dieses Prinzip bildet den Ausgangspunkt jener Teildiszipline, die man Wissenssoziologie nennt, auch dann, wenn sie von der marxistischen Theorie hinsichtlich ihrer Prämissen und ihrer Interpretationsweisen abweicht. Überdies haben die Wissenschaft, insbesondere die Geisteswissenschaften, ihren eigenen Bedingungen eine wachsende Aufmerksamkeit geschenkt. Sie haben von dier Bemühung her ihre Forschungsrichtung und die dieser entsprechende Methodologie verstanden. Die Bestätigung dieser Perspektive scheint uns nicht so sehr im Erfolg der marxistischen Theorie zu liegen, deren Behauptungen nach wie vor umstritten bleiben, ja oftmals von Soziologen verworfen werden, als vielmehr in den Veränderungen, die gleichermaßen alle sozialen Bereiche seit 75 Jahren beeinflußt haben: die Strukturen der überkommenen kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, des wissenschaftlichen Denkens, der Philosophie, Literatur und Kunst. Man kann sagen, daß diese noch andauernden umwälzenden Veränderungen - ungeachtet ihrer verschiedenartigen Deutungen - die Vorstellung einer universellen Geschichtlichkeit der modernen Welt und damit eine Analyse der mannigfachen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Bereichen der gesellschaftlichen Totalität gefordert haben. Zugleich machte diese Historizität, zumal sie sich auf allen Gebieten und im Umkreis einer gemeinsamen Kultur abzeichnete, im verstärkten Maß die noch im 19. Jahrhundert vorherrschenden Spekulationen über die Kultur als einer metaphysischen Wesenheit und über die Volksgeister zunichte. Die Forschung wandte sich entschieden dem Zusammenhang der strukturellen Umwandlungen mit dem sozialen und dem kulturellen Leben zu.

Wir müssen uns nun fragen: Ist der vom Marxismus losgelöste Ideologiebegriff durch seine allzu häufige Verwendung bei den Soziologen und im Alltag präzisiert oder wenigstens bereichert worden? Wir stellen zunächst fest, daß er zunehmend eine politische Bedeutung angenommen hat. Nachdem eine Epoche die Heraufkunft des Faschismus und die Rivalität unter den großen Nationen erlebt hat, ist in der Nachkriegszeit in allen Bereichen der Kultur der politische Ideologiebegriff breiten Gesellschaftsschichten vertraut geworden. Es wurde evident, daß - unabhängig von der wissenschaftlichen Marxkritik - politische Aussagen, die die Rolle des Staates, die Organisation des Produktionsapparates und die Güterverteilung, die Funktion der Individuen und der Gruppen in der Gesellschaft betreffen, philosophische, religiöse, ethische und vor allem wissenschaftliche und ästhetische Bedeutungsakzente implizieren, sie dies nun in Polemiken gegen bestimmte Kunstrichtungen, gegen eine bestimmte Psychologie oder eine pseudorevolutionäre Bewegung. Wenn man unterstellt, daß es bei MARX zumindest eine Tendenz gibt, alles auf den gemeinsamen Nenner der politischen Ideologie zu bringen, so müßte man auch einräumen, daß er durch die spätere Entwicklung bestätigt worden ist.

Doch darf diese Feststellung nicht an zwei Fragen vorübergehen, die sich schon beim Marxstudium ergeben haben und mittlerweile immer dringlicher geworden sind.

Erstens taucht die Frage auf, ob die Kritik einer "bürgerlichen" Ideologie, deren Kern doch politischer Natur wäre, sich wissenschaftlicher Begriffe bedienen und ob diese Kritik sich auf wahres Denken berufen kann, das man entweder als ideologiefreies oder proletarisches Denken ausgibt, entsprechend der Bedeutung, die man einem dieser beiden Begriffe beilegen möchte. Diese Frage könnte eine Antwort finden, wenn die nahe Zukunft wirklich den Untergang des Kapitalismus auf allen Gebieten bringen würde. Der Marxismus erwiese sich dann als das theoretischen Pendant der proletarischen Praxis, als die Antizipation eines wahren Denkens, so wie das Proletariat als die Vorhut einer neuen Gesellschaft. Demgegenüber würde die Fortdauer und die Weiterentwicklung des kapitalistischen Systems und der in ihm herrschenden Denkweisen uns zwingen, die maristische Anschauung zu revidieren. Diese Revision würde mit ihren Fragestellungen eine neue Marxkritik begründen. Man muß in der Tat zugeben, daß die Merkmale des bürgerlichen Denkens, wie MARX sie in seinem Frühschriften und im "Kapital" aufgewiesen hat, nicht mehr für die vorherrschenden Ideologien und gängigen Vorstellungen unserer Epoche kennzeichnend sind. Der Liberalismus kann nicht als die verbindliche politische Ideologie der herrschenden Klassen oder ihrer Trägerschichten betrachtet werden; weder was seinen Inhalt, noch was seine Kategorien anlangt. Sich dogmatisch an die Formulierungen der MARXschen Kritik des Fetischismus klammern zu wollen wäre ebenso fragwürdig wie das Insistieren auf der Analyse der Konkurrenzwirtschaft. Man sollte vielmehr der Tatsache Rechnung tragen, daß durch die monopolistische Entwicklung und die wachsenden Eingriffe des Staates in die Produktion und den Markt die Gesetze des kapitalistischen Systems von Grund auf umgestaltet worden sind. Andererseits - und diese zweite Feststellung ist nicht weniger von Bedeutung - kann nicht geleugnet werden, daß der Marxismus in seiner genuinen [echten - wp] Form nicht erhalten geblieben ist. Er ist zur offiziellen Ideologie eines Staates und einer Massenpartei geworden, nicht ohne hierbei entscheidende Modifikationen erfahren zu haben. Was die Natur der proletarischen Revolution, die Rolle der Partei, die Funktion des Staates in der sozialistischen Gesellschaftsordnung, die Umschichtung der Einkommen, sowie die Beziehungen zwischen sozialistischen und kapitalistischen Ländern anbelangt, so ist die Diskrepanz zwischen der gegenwärtigen Ideologie und dem marxistischen und leninistischen Denken offenbar genug, um eine kritische Reflexion in Gang zu bringen.

Die erste Aufgabe wird also darin bestehen, die historische Entwicklung der Ideologien, die sich auf den Kapitalismus und auf den Sozialismus berufen, zu analysieren, und den ganzen Umfang ihrer Veränderung abzustecken. Eine solche Analyse beinhaltet eine unausgesetzte Konfrontation der heutigen Ideologien mit deren ursprünglichen Intentionen, um so ihre Divergenzen und Übereinstimmungen feststellen zu können. Sie müßte zugleich den Inhalt der Aussagen und die Kategorien des ideologischen Denkens im Auge behalten, die den Menschen oft gar nicht zum Bewußtsein kommen. Doch wäre eine solche Untersuchung unausführbar und vergeblich, wenn man dabei nicht die ideologischen Modifikationen im engsten Zusammenhang mit den sie begleitenden ökonomischen und sozialen Veränderungen begreifen würde. Nur in Verbindung mit einer historischen Analyse der sozialen Klassen und der industriellen Produktion können die Veränderungen der politischen Ideologie ihre eigentliche Bedeutung gewinnen. Das schließt zugleich den Verzicht auf alle vorschnellen Hypothesen ein, die a priori bestimmte Ideologien einer Klasse oder einer sozialen Schicht zuordnen wollen. Die Tatsache, daß ein politisches Dogma den Herrschaftsanspruch des Proletariats verkündet, besagt als solche noch nichts darüber, ob das Proletariat sich diese Theorie auch aneignen und sie verwirklichen wird. Einerseits müssen Aussagen dieser Art aus dem systematischen Zusammenhang der gesamten Theorie und aus deren Genesis begriffen werden. Andererseits kann man keineswegs behaupten, daß eine These der Ausdruck einer einzigen Klasse ist, noch, daß das Proletariat sich in einer Ideologie äußert, die der Ideologie der herrschenden Klassen entspricht. Das Studium der Klassenlage des Proletariats und seines Verhaltens in der Gesellschaft kann uns lehren, daß sein Verhältnis zu Ideen anders geartet ist als jenes, das die herrschenden Schichten zur ihren Vorstellungen besitzen. Die Erforschung der Ideologien kann uns zu einer Beschreibung der sozialen Verhältnisse führen, die konkreter sind als Klassenverhältnisse, und die, obwohl klassenbedingt, dennoch keine bloße Widerspiegelung der Klassenlage darstellen. Diese Untersuchung vermag Modi der Klassenzugehörigkeit festzustellen, die bei der proletarischen und bei der bürgerlichen Klasse sehr unterschiedlich sind. Kurz, die Forschung muß auf dem Weg einer fortwährenden Gegenüberstellung der sozialen und ökonomischen Strukturen und der ihnen einhergehenden geistigen Gebilde aufdecken, worin die Funktion der Ideologien innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs besteht. In der Vielfalt der Ideologieanalysen soll die Ideologie als die Umsetzung der sozialen Realität und zugleich das Bewußtsein von dieser Realität verstanden werden.

Die zweite Fragengruppe, der wir uns zuwenden wollen, betrifft das Verhältnis zwischen den verschiedenen ideologischen Sphären innerhalb einer Klassengesellschaft. Einerseits muß man in der Tat feststellen, daß offensichtlich alle Bereiche des Denkens von der Politik in Beschlag genommen werden. Andererseits ist jedoch zu fragen, ob tatsächlich von einer wachsenden Politisierung aller Wissensgebiete die Rede sein kann, oder ob diese nur oberflächlich von der politischen Ideologie infiziert sind. Tatsächlich kann keine ernst zu nehmende Kritik der Philosophie, der Wissenschaft oder der Kunst von politischen Kriterien ausgehen. Man konstatiert lediglich die Tendenz des politischen Denkens, ihm scheinbar heterogene Bedeutungselemente zu amalgamieren [verbinden - wp] und sie in seinem Sinn umzufunktionieren. Diese Annexion [Aneignung - wp] nimmt häufig die Form summarischer Urteile über angebliche Implikationen einer Theorie an. Beispiele hierfür sind etwa die Polemiken gegen die Psychoanalyse, gegen die Phänomenologie oder eine bestimmte Geistesrichtung.

MARX selbst jedoch hat in einer viel radikaleren Weise die Autonomie des Wissens in Frage gestellt. Für ihn ging es nicht darum, sie einfach auf einen politischen Nenner zu bringen, sondern er wollte einen allgemeinen Widerspruch aufdecken, der aus der Struktur einer Gesellschaft, in der die Arbeitsteilung die Individuen völlig isoliert und zugleich die gesellschaftliche Praxis der Menschen zum Geheimnis werden läßt, notwendig folgen muß. LUKACS, der in seinem Werk "Geschichte und Klassenbewußtsein" aus dieser Perspektive die Antinomien des bürgerlichen Denkens analysiert hat, zeigte deutlich, daß philosophische Kritik sich nur in philosophischen Begriffen entfalten kann. Er erwies damit, daß die Behandlung eines philosophischen Problems innerhalb des umfassenden Sinnzusammenhangs der gesellschaftlichen Totalität nicht bedeuten muß, daß man dieses Problem negiert. Ein solches Unternehmen bewahrt seinen wissenschaftlichen Charakter nur unter zwei Bedingungen, die der Entwicklung der Ideologien seit einem halben Jahrhundert Rechnung tragen. Einmal ist der Marxismus selbst zum Gegenstand der Kritik des nachmarxschen Philosophierens geworden. Wenn man sich nicht dazu entschließt, die Phänomenologie zu verwerfen oder sie als bloße Kopie der früheren bürgerlichen Philosophie zu betrachten, auf die man unmittelbar die LUKACSsche Kritik anwenden könnte, so muß man zugestehen, daß der Marxismus, auch wenn er einen radikal neuen Denkansatz bringt, doch nicht die einzig mögliche dialektische Philosophie darstellt. Gewiß war sich MARX schon dessen bewußt, daß seine eigenen Reflexionen vom Denken seiner Vorgänger bedingt waren und daß es seine Aufgabe ist, die Philosophie zu verwirklichen, indem er sie aufhob. Aber daß die Philosophie nicht wirklich aufgehoben wurde, daß vielmehr das gegenwärtige Denken den Marxismus zur Auseinandersetzung herausfordert, diese Tatsache ist von einer Tragweite, die MARX nicht ahnen konnte: nämlich, daß die Philosophie unaufhebbar ist, daß sie weder als einfacher Ausdruck einer Klasse, noch als die bloße Umsetzung der gesellschaftlichen Problematik verstanden werden kann. Beim Studium der Umformungen des philosophischen Denkens im Zusammenhang mit jenen der ökonomischen und sozialen Struktur kann es sich somit nicht darum handeln, sich bei der Interpretation der Ideologien ausschließlich auf die materiellen Verhältnisse zu stützen. Alle Philosophie, selbst jene, welche der gesellschaftlichen Praxis den Primat einräumt, entstammt einer eigenen Seinsordnung, die im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Totalität, in ihrer spezifischen Form als deren Theorie begriffen werden muß. Sie ist also eine fundierte und fundierene Ordnung zugleich.

Zudem kann die Analyse der Ideologien sich nur dann voll entfalten, wenn man sich des Vorurteils entschlägt, das bei MARX und LUKACS deutlich hervortritt, nämlich die Voraussetzung, daß die Mannigfaltigkeit der ideologischen Ausdrucksformen nur ein identisches Substrat verdecken. Beruth doch die Struktur der modernen Gesellschaft, wie MARX in einigen seiner Bemerkungen über die Entfremdung selbst betont, einerseits auf dem Widerspruch zwischen den einzelnen Bereichen menschlicher Betätigung, andererseits jedoch auf deren absoluter Solidarität. Die Konfrontation der verschiedenen Versionen der Dialektik, aufgezeigt an ihrer Genesis, vermag uns bereits zu zeigen, in welchem Maße sich in ihnen eine gemeinsame Problematik kundtut und ferner, in welchem Ausmaß sie einander widerstreiten. Um nur ein Beispiel zu nennen, so hat sich das Verhältnis zwischen der Psychoanalyse und dem Marxismus geklärt, als man deren Methodologie und die Diskussionen, die im Laufe ihrer Geschichte stattgefunden haben, miteinander verglich, und als man daranging, das Feld abzustecken, auf dem sie sich vordem wechselseitig die Objektivität abgesprochen hatten. Für das Verständnis der gesellschaftlichen Totalität ist der Aufweis der Differenzen ebenso fruchtbar wie der der Übereinstimmungen.

Mit diesen Bemerkungen wollen wir lediglich zeigen, daß allein eine historische und minutiöse Analyse in der Lage ist, den wesentlichen Beitrag von KARL MARX fruchtbar werden zu lassen, indem sie ihn von realistischen und mechanistischen Vorurteilen befreit.
LITERATUR: Claude Lefort, Ideologieanalyse in der heutigen Gesellschaft, Ideologische Dynamik und Klassenstruktur, London 1956