tb-3Gustafsson - A.B. Johnson    
 
ANATOL RAPOPORT
Alexander Bryan Johnson
(1786-1867)
- ein früher amerikanischer Semantiker -

"Wir sind wachsam beim Aufdecken von Widersprüchen zwischen Wörtern, aber niemals entdecken wir die schweren Widersprüche, wenn wir das Vorhandensein von realen Dingen behaupten, wo nichts dergleichen von unseren Sinnen wahrgenommen werden kann."

ALEXANDER BRYAN JOHNSON wurde im Jahre 1786 in England geboren und ließ sich im Jahre 1801 in Utica, New York, nieder. Sein Hauptwerk "The Philosophy of Human Language or A Treatise in Language" erschien im Jahre 1828. Eine erweiterte Ausgabe mit dem Titel "A Treatise on Language or The Relation which Words Bear to Things" erschien im Jahre 1836. Ihm folgt 1854 "The Meaning of Words Analyzes into Words and Unverbal Things".

ALEXANDER BRYAN JOHNSONs Ansichten über die Sprache ähneln derart auffällig denen von ALFRED KORZYBSKI (1879-1950), daß man sich fragen könnte, ob dieser sie zum Ausgangspunkt für sein Buch "Science and Sanity" genommen hat, das im Jahre 1933 veröffentlicht wurde; doch ist das nicht wahrscheinlich, weil JOHNSONs Werk unbekannt blieb, bis es von DAVID RYNIN in Berkeley, der Universität von Kalifornien, wiederentdeckt und im Jahre 1947 neu herausgegeben wurde.

Es ist bemerkenswert, daß die Hauptfiguren in der Entwicklung einer kritischen Sprachphilosophie in den Vereinigten Staaten Amateure waren, d.h. Menschen, die außerhalb der Berufsphilosophie standen. ALFRED KORZYBSKI war Ingenieur, BENJAMIN LEE WHORF Versicherungsangestellter, A.B. JOHNSON Geschäftsmann und Bankier. "A Treatise on Language" entstand aus Vorträgen, die JOHNSON nicht an einer Universität hielt, sondern an einem Ort, der Lyzeum hieß und später zur Young Men's Christian Association (YMCA) in Utica, New York, wurde. Ein weiteres Buch von JOHNSON, "Morality and Manners", ging aus Vorträgen hervor, die er in der YMCA hielt. Beiläufig bemerkt trug sein erstes Buch, das 1813 erschien, den Titel "An Inquiry into the Nature of Value and Capital, and into the Operation of Government Loans, Banking Institutions and Privat Credit with an Appendix Containing an Inquiry into the Causes which Regulate the Rate of Interest and the Price of Stocks".

Mir scheint, daß sich in dem Interesse für Sprachphilosophie seitens nichtberuflicher Philosophen, besonders in den Vereinigten Staaten, die Unzufriedenheit mit den Methoden der traditionellen philosophischen Forschung ausdrückt. Der Philosoph der alten Schule webt Theorien aus spekulativen Fäden, die er in seinem Gehirn spinnt. Die in solchen Theorien dargelegten Gedanken müssen, wie alle Gedanken, in irgendeiner Erfahrung der Philosophen ihren Ursprung haben, aber Worte haben die Eigenart, daß sie ein selbständiges Leben ohne Beziehung zu nichtsprachlichen Erfahrungen gewinnen. Im Kopf des Philosophen treten Worte zusammen und bilden kraft ihrer metaphorischen Konnotationen immer neue Verbindungen.

Da die philosophische Forschungsmethode nicht die Verpflichtung auferlegt, die Verbindungsglieder zwischen Aussagen und Erfahrungen aufrechtzuerhalten, wird der Philosoph leicht zu Aussagen geführt, die nicht einmal im Prinzip mit irgendwelchen beobachtbaren Vorgängen in Beziehung gebracht werden können. Die Amerikaner mit ihrem stark entwickelten praktischen Sinn sind besonders geneigt, philosophische Spekulationen mit Mißtrauen zu betrachten. Der Laie geht ganz einfach darüber hinweg, weil sie mit seinen Interessen und Zielen nichts zu tun haben. Der pragmatische Denker kann sich aber nicht damit begnügen. Es bekümmert ihn, wenn der Unsinn im Gewand der Weisheit auftritt. Häufig fühlt er den Drang, die abstruse Philosophie zu entlarven.

Man ist versucht zu sagen, diese pragmatische Haltung, die so echt amerikanisch ist, sei im Grunde antiphilosophisch. Es hat sich aber herausgestellt, daß eben diese Haltung sich zu einer gutformulierten Philosophie, dem Pragmatismus, herausbildete, deren Wortführen WILLIAM JAMES und JOHN DEWEY wurden. ALEXANDER BRYAN JOHNSONs kritische Untersuchung der Sprache nahm den Pragmatismus vorweg.

Den Inhalt seines Buchs "A Treatise on Language" hat JOHNSON selbst in einer Anzahl von Aussagen zusammengefaßt und durch Erläuterungen, Erklärungen und Beispiele ergänzt. Die allererste Aussage ist zugleich die Hauptthese seiner Sprachphilosophie.
"Um die Beziehung zu verstehen, die zwischen Wörtern und geschaffenen Wesen bestehen, müssen wir das Geschaffene abseits von den Wörtern betrachten."
Mit geschaffenen Wesen meint JOHNSON die Wirklichkeit. Um die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit zu verstehen, sagt JOHNSON, müssen wir die Wirklichkeit  unmittelbar,  nicht durch das Medium Sprache, betrachten.

Und was ist "Wirklichkeit"? JOHNSON sagt es uns in der nächsten Aussage:
"Die äußere Schöpfung läßt sich einteilen in Dinge, die man sieht, hört, tastet, spürt und riecht."
Mit anderen Worten: Wirklichkeit ist, was unseren Sinnen zugänglich ist. Namen von Gegenständen - z.B. "Zitrone" - sind Assoziationen von vier der fünf Sinne.

Weiter sagt JOHNSON:
"Wir müssen zwischen der Breite und Vielfalt des Geschaffenen und der Armseligkeit der Sprache unterscheiden."
Mit anderen Worten: der Name eines Gegenstandes kann nicht alle Eigenschaften des "wirklichen" Gegenstands einschließen. Jede Zitrone ist von jeder anderen Zitrone verschieden, aber der Name "Zitrone" steht für jede Zitrone und sagt nichts über die individuellen Unterschiede.

An späterer Stelle sagt JOHNSON:
"Wörter werden mit Dingen verwechselt." "Wir müssen die Sprache dem unterordnen, was wir in der Natur entdecken.
Hier ist ganz nah beisammen, was KORZYBSKI ein Jahrhundert später die extensionale Einstellung nennen sollte: die Erkenntnis, daß erstens das Wort nicht die Sache ist; daß zweitens das Wort die Sache nicht in all ihren verwickelten Einzelheiten beschreiben kann; daß wir drittens die Sprache danach beurteilen sollen, wie gut sie die Wirklichkeit beschreibt, und nicht der Wirklichkeit andichten, was die Sprache uns über sie sagt.

Weiter warnt JOHNSON davor, der Wirklichkeit etwas anzudichten, was wir aus der Sprache ableiten.
"Wir suchen in der Natur eine Einheit, welche nur in der Sprache existiert."
Auch hier lautet die These der Nominalisten: Menschen existieren. Jeder Mensch ist von jedem andern Menschen verschieden. Aber alle Menschen haben eine Reihe von Merkmalen gemeinsam. Diese erscheinen uns wichtig, aber darum  abstrahieren  wir die Merkmale und geben der Abstraktion einen Namen - Mensch. Der Irrtum der Realisten war nach Anschauung der Nominalisten die stillschweigende Annahme, weil wir das Wort "Mensch" in unserer Sprache haben, müsse ein Etwas, das wir "Mensch" nennen, als Einheit in der Natur vorkommen.

Ein von JOHNSON zur Veranschaulichung angeführtes Beispiel ist besonders interessant:
"Die Medizin leidet wahrscheinlich daran, daß wir die Krankheiten und Gebrechen als Einheiten abgrenzen, die nur in ihrem Namen liegen."

"Das medizinische Problem der Ansteckung", fährt JOHNSON fort, "wird dadurch erschwert, daß wir nicht zwischen der Einheit des sprachlichen Ausdrucks und der Vielheit der Natur unterscheiden. Das Ansteckende der Cholera im allgemeinen ist weniger eine Einheit als das Ansteckende des Einzelfalls. Selbst das Ansteckende in einem Einzelfall ist während seiner ganzen Dauer weniger eine Einheit als ihre Übertragbarkeit in irgendeinem bestimmten Augenblick: Untersuchte man die Übertragbarkeit der Cholera in der Annahme, die Ansteckung sei die Einheit, die das Wort Ansteckung uns glauben macht, so wäre das wie die Suche nach dem Magnetismus als einer Einheit unter den zahlreichen magnetischen Phänomenen. Das hieße, in der Natur nach einer Einheit suchen, die nur in der Sprache vorhanden ist.

Aber die Cholera an sich ist keine Einheit. Die Frage, ob die Medizin nicht an der vorausgesetzten Einheit jeder Krankheit leidet, verdient von den Ärzten sehr ernst genommen zu werden. Viele medizinische Theorien scheinen ihren Ursprung diesem Irrtum zu verdanken. Aber nicht nur die Cholera im allgemeinen ist keine Einheit, auch die besondere Cholera von Thomas ist keine Einheit. Sie besteht aus vielen Gefühlen, Eindrücken und anderen Phänomenen. Ich gebe zu, daß es zweckmäßig ist, sie unter einem Namen zusammenzufassen; wenn wir aber einer Täuschung entgehen wollen, dann müssen wir ihre Einheit durch die Natur und nicht durch die Einheit des Namens erklären."
Wie sich herausstellte, ist "Cholera" mehr eine Einheit als viele sogenannte Krankheiten, die zu ALEXANDER BRYAN JOHNSONs Zeit verbreitet waren ("Fieber", "Wechselfieber", "Katarrh" usw.). Vor dem Aufkommen der Mikrobiologie und der Biochemie klassifizierte man Krankheiten durch Zusammenstellung von Symptomen; infolgedessen blieb die oft sehr verschiedene Entstehungsgeschichte unterschiedlicher Krankheiten unbemerkt. Mit der Entdeckung der krankheitserregenden Organismen klassifiziert, die mit ihnen verbunden sind.

So blieb "Cholera" als Name für die Krankheit. Während ihre Etymologie ("Cholera" ist abgeleitet vom griechischen Wort cholé, galle, "Gallenkrankheit") irreführend sein mag, ist die Ätiologie, d.h. die Ursache der Cholera, spezifisch und konstant. Es gibt keine Cholera ohne  Vibrio cholerae  einen identifizierbaren Erreger. Es stimmt, daß jeder  Vibrio-cholerae-Bazillus  sich irgendwie von jedem andern  Vibrio cholerae  unterscheidet; und doch kann man dem Bazillus einen beträchtlichen Grad von "Einheit" zuschreiben, wenigstens einen höheren Grad als den Symptomen, die im Einzelfall auftreten, und als dem allgemeinen Vorgang, den man "Ansteckung" nennt. Hätte JOHNSON ein anderes Beispiel gewählt, etwa "Wechselfieber", dann hätte er ein viel überzeugenderes Anschauungsbeispiel für seine Warnung gehabt, daß man in die Natur keine "Einheit" hineinlesen darf, bloß weil wir Dinge und Vorgänge klassifizieren.

Überbleibsel einer primitiven Terminologie haben sich in der Medizin und in der Psychiatrie bis zum heutigen Tag erhalten. Wir wissen heute, daß "Krebs" ein Name ist, der vielen Krankheiten gegeben wurde, von denen einige wahrscheinlich ätiologisch nichts miteinander zu tun haben. Auch Schizophrenie ist immer noch ein Sammelname für mehrere Krankheiten, die ätiologisch verschieden, aber in ihren Symptomen ähnlich sind. Die nachgewiesene Ätiologie einer Krankheit liefert aber eine bessere Grundlage für die Klassifizierung einer Krankheit als der Name, der ursprünglich einer "Assoziation von Eindrücken" gegeben wurde, d.h., grob wahrgenommenen Symptomen, welche ihrerseits Namen von Eindrücken sind.

Hierher gehört auch "Magnetismus", ein anderes von JOHNSON gebrauchtes Beispiel. Es  gibt  etwas in der Natur, für das der Name Magnetismus berechtigt ist. Dieses Etwas ist nicht ein Gegenstand; es ist ein Prinzip. Nach diesem Prinzip läßt sich zeigen, daß viele verschiedene Vorgänge auf sehr reale Weise miteinander verwandt sind, nicht bloß weil man ihnen denselben Namen gegegeben hat.

Trotzdem muß die ursprüngliche Mahnung ernstgenommen werden: "Um die Beziehung zu verstehen, die zwischen Wörtern und geschaffenen Wesen bestehen, müssen wir das Geschaffene abseits von den Wörtern betrachten." Wir können den Grad der Übereinstimmung zwischen unserer gewohnten Sprache und der Wirklichkeit (die Beziehung zwischen Wörtern und Dingen) nur dann kritisch einschätzen, wenn wir die abgrenzenden Namen ständig an dem prüfen, was wir tatsächlich in der Natur finden. KORZYBSKI formulierte diesen Grundsatz noch schärfer, indem er auf die Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung zwischen der  Struktur  einer Sprache und der Wirklichkeit hinwies.

Der Rat, in der Natur nicht eine von einem Wort vorgetäuschte Einheit zu suchen, ist zugleich eine Warnung vor der  Verdinglichung  von Abstraktionen. Die ersten Wörter, die wir lernen, sind meistens Namen von Gegenständen. Die Erwartung, einen Gegenstand hinter einem Wort zu finden, ist ein Überbleibsel kindlicher Semantik. Deshalb schreibt JOHNSON: "Das Wort Schwerkraft benennt viele interessante und wichtige Phänomene; aber wenn wir zusätzlich zu diesen nach der Schwerkraft an sich Ausschau halten, handeln wir ebenso ahnungslos wie das Kind, das, nachdem es in der Oper mit Ungeduld dem Orchester und den Gesängen zugehört und den Tänzen zugeschaut hatte, den Ausspruch tat: Jetzt hab ich genug davon, jetzt soll die Oper kommen."

Sprachliche Naivität ist nicht auf die Kindheit beschränkt. Frühere Vorstellungen, wonach eine Krankheit ein Ding ist, das in einen Körper eindringt, wie man es sich besonders bei Geisteskrankheiten dachte, führte zu entsprechenden therapeutischen Maßnahmen. Von einem Geistesgestörten nahm man an, ein Dämon habe von ihm Besitz ergriffen. Man konnte sich leicht vorstellen, daß ein Dämon in dem Menschen wohnte. Die Krankheit bekämpfte man, indem man den Dämon beschwor, d.h. durch ein Ritual, das den Zweck hatte, den Dämon aus dem Körper des Menschen auszutreiben.

Der Unterschied zwischen Leben und Tod wurde und wird noch heute nach volkstümlicher Auffassung in der An- bzw. Abwesenheit einer "Seele" in dem Körper eines Menschen erblickt: wenn der Mensch stirbt, verläßt die "Seele" den Körper. Diese Vorstellung führte naturgemäß zu Spekulationen über den neuen Aufenthaltsort oder das Schicksal der "Seele".

Die Verdinglichung führt zu Fragen wie dieser: "Wohin geht die Flamme, wenn wir eine Kerze ausblasen?" oder "Wohin geht das Loch, wenn wir einen Berliner Pfannkuchen essen?"

Die zweite Frage wird vielleicht selbst einem Kind dumm erscheinen, aber sie ist genau so berechtigt wie die Frage über die Flamme oder über die Seele. Alle derartigen Fragen werden durch die stillschweigende Annahme hervorgerufen, daß alles, was einen Namen hat, ein Ding ist. Normale Dinge können doch nicht einfach verschwinden. Wenn sie nicht in Sicht sind, müssen sie irgendwo anders sein. Deshalb ist es ganz in Ordnung, daß man fragt, wo sie sind.

Wörter verleiten nicht nur zur Verdinglichung, dem Ausschauen nach einem Ding, das hinter einem Wort stecken soll; sie löschen auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Angehörigen einer Klasse aus.
"Wir sollten verbale Identitäten nicht mit den Realitäten der Natur verwechseln."
JOHNSON räumt ein, daß verbale Identitäten unvermeidlich sind.
"Ich beklage mich über die Sprache nicht um ihrer Identitäten willen. Wir können eine Sprache auf keinem andern Prinzip aufbauen. Ein Wal und eine Sardelle weisen genug Ähnlichkeiten auf, umd das Wort  Fisch  für beide gelten zu lassen; trotzdem brauchen wir die verbale Identität nicht mit der Realität in der Natur verwechseln. In der Natur ist die Identität genau so wie wir sie entdecken. Wir dürfen sie nicht durch Namen ermitteln, sondern müssen sie durch Beobachtungen nachweisen. Umgekehrt ausgedrückt: wir interpretieren die Naturidentität durch Wortidentität."
Der Vorrang, den JOHNSON der Beobachtung vor dem Begriff zuweist, ist der idealistischen Philosophie PLATONs diametral entgegengesetzt. Erinnern wir uns, daß für Platon die "Wirklichkeit" aus idealisierten Begriffen, aus Ideen bestand, die sich in der Sprache spiegeln. Irgendwo, vielleicht im Geiste Gottes, existiert nach PLATONs Meinung der vollkommene Mensch, der vollkommene Baum, vielleicht sogar der vollkommene Hammer oder die vollkommene Sprache. Die wirklichen Menschen, Bäume, Hämmer und Sprachen waren für PLATON unvollkommene Nachbildungen der betreffenden Ideen. Unterschiede zwischen Menschen, Bäumen usw. gingen für PLATON auf zufällige Abweichungen von den idealen Modellen zurück. Wahres Wissen mußte man deshalb in der Betrachtung dieser Ideale und ihrer Eigenschaften suchen, die dem Menschen mit Hilfe der reinen Vernunft erkennbar werden.

Im Gegensatz hierzu hält JOHNSON die materielle Welt für die wirkliche Welt. Wir können uns einen Begriff vom Menschen, vom Baum usw. bilden, aber diese Begriffe sind Ableitungen unserer Erfahrungen. Wir abstrahieren Eigenschaften von Gegenständen, die wir wahrnehmen, und geben diesen abstrahierten Eigenschaften einen Namen. Der Name "identifiziert" die Klassenangehörigen, auf die der Name sich bezieht. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Klassenangehörigen sind nicht "Irrtümer", wie PLATON vermutete; sie sind Tatsachen der Existenz. Die Wirklichkeit  ist  vielgestaltig. Unsere Sprache verwandelt die Vielgestaltigkeit in Einheitlichkeit, aber diese Einheitlichkeit ist unser eigenes Werk. JOHNSON sagt:
"Die Vielfalt, die wir bei natürlichen Gegenständen usw. sehen, die den gleichen Namen tragen, sollte uns lehren, die in ihren Namen liegende Identität zu korrigieren; stattdessen benützen wir die Wortidentität, um über die Naturvielfalt zu staunen."
Die Identifikation der Sprache mit der Wirklichkeit kann dazu führen, daß die Sprache ihre Tauglichkeit als Kommunikationsmittel einbüßt:
"Zwei Menschen, die einer und derselben allgemeinen Aussage zustimmen, können sehr verschiedene Meinungen haben."
JOHNSON veranschaulicht diesen Fall durch eine Situation, in der er mit dem Leser übereinstimmt, daß "George gut ist." JOHNSON denkt dabei aber vielleicht an Eigenschaften von George, die dem Leser nicht bekannt sind und die JOHNSON für gut hält, während der Leser sie für schlecht hält, und umgekehrt.

Die entgegengesetzte Situation läßt sich ebenso häufig beobachten. Im einfachsten Fall streiten sich vielleicht zwei Personen darüber, ob ein Haus auf der rechten oder auf der linken Straßenseite steht, bloß weil der eine meint, es sei auf der rechten Seite, wenn man nach Norden blickt, während der andere meint, es sei auf der linken Seite, wenn man nach Süden blickt. Da sie die Blickrichtung außer acht ließen, hat jeder eine unberechtigte Verallgemeinerung gemacht.

Genau so haben in JOHNSONs Beispiel die Menschen, die über Georges Charakter urteilen, eine unberechtigte Verallgemeinerung gemacht. Statt von ganz bestimmten Merkmalen oder Handlungen zu sprechen, die sie zu ihrem Urteil führten, haben sie George ein allgemeines Etikett angeheftet. Sie glaubten übereinzustimmen, weil sie dasselbe Etikett benützten. Sie wußten nicht, daß die Etiketten in ihrem Geltungsbereich nicht übereinstimmten. Die beiden Personen, die sich über die Lage des Hauses stritten, hefteten seiner Lage ein unvollständiges Etikett an. "Rechts" und "links" sagen nichts über die Richtung, wenn man nicht zugleich die Blickrichtung angibt.

Weiterhin zitieren wir JOHNSON:
"Keine allgemeine Aussage paßt für mehr als ein paar Einzelfälle." "Ein Vater sagte einmal:  Mein Sohn, dem Wasser wohnt ein lebensgefährdendes Prinzip inne, und dem Schnaps ein lebenserhaltendes.  Der Vater wollte damit sagen, daß ein Sturz ins Wasser den Tod herbeiführen kann und daß eine kleine Menge Schnaps gelegentlich heilsam ist. Die Aussage war richtig, solange sie sich auf die besonderen Umstände beschränkte, die der Vater im Auge hatte; aber der Sohn, der sie für allgemeingültig hielt, verwendete kein Wasser mehr und ersetzte es durch Schnaps. Wir alle begehen ähnliche Irrtümer, obschon nicht immer so schwere, wenn wir meinen, eine Aussage gelte für mehr als ein paar Einzelfälle; und wenn die Leute, die allgemeine Aussagen verbreiten, nicht die besonderen Fälle angeben, an die sie dabei denken, müssen wir noch viel dazulernen."
Nach JOHNSONs Ansicht erwerben wir Wissen nur durch unsere Sinne:
"Unsere Sinne allein können Fragen beantworten. Wörter können uns nur auf die Dinge verweisen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen."
Wenn also das, was die Sprache aussagt, nicht mit dem übereinstimmt, was die Sinne uns lehren, muß der Widerspruch zugunsten der sinnlichen Wahrnehmung aufgelöst werden. Aussagen in Worten können nicht nur falsch sein; sie können auch bedeutungslos sein, wenn sie sich nicht auf etwas beziehen, das die Sinne wahrnehmen können.
"Wir sind wachsam beim Aufdecken von Widersprüchen zwischen Wörtern, aber niemals entdecken wir die schweren Widersprüche, wenn wir das Vorhandensein von realen Dingen behaupten, wo nichts dergleichen von unseren Sinnen wahrgenommen werden kann."
Nach ALEXANDER BRYAN JOHNSONs Ansicht sind die Philosophen besonders geneigt, Aussagen für bare Münze zu nehmen, die nur Folgerungen aus verbalen Deduktionen sind.
LITERATUR, Anatol Rapoport, Bedeutungslehre - eine semantische Kritik, Darmstadt 1972