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IMMANUEL KANT
Das Prinzip Publicität

  Wenn ich von aller  Materie  des öffentlichen Rechts (nach den verschiedenen empirisch-gegebenen Verhältnissen der Menschen im Staat oder auch der Staaten unter einander), so wie es sich die Rechtslehrer gewöhnlich denken, abstrahiere, so bleibt mir noch die  Form  der  Publicität  übrig, deren Möglichkeit ein jeder Rechtsanspruch in sich enthält, weil ohne jene es keine Gerechtigkeit (die nur als  öffentlich kundbar  gedacht werden kann), mithin auch kein Recht, das nur von ihr ertheilt wird, geben würde.

Diese Fähigkeit der Publizität muß jeder Rechtsanspruch haben, und sie kann also, da es sich ganz leicht beurtheilen läßt, ob sie in einem vorkommenden Falle statt finde, d. i. ob sie sich mit den Grundsätzen des Handelnden vereinigen lasse oder nicht, ein leicht zu brauchendes, a priori in der Vernunft anzutreffendes Criterium abgeben, im letzteren Fall die Falschheit (Rechtswidrigkeit) des gedachten Anspruchs (praetensio iuris), gleichsam durch ein Experiment der reinen Vernunft, so fort zu erkennen.

Nach einer solchen Abstraktion von allem Empirischen, was der Begriff des Staats- und Völkerrechts enthält (dergleichen das Bösartige der menschlichen Natur ist, welches den Zwang nothwendig macht), kann man folgenden Satz die  transcendentale Formel  des öffentlichen Rechts nennen:
    "Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht."
Dieses Prinzip ist nicht bloß das  ethisch  (zur Tugendlehre gehörig), sondern auch als  juridisch  (das Recht der Menschen angehend) zu betrachten. Denn eine Maxime, die ich nicht darf  laut werden  lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus  verheimlicht  werden muß, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht  öffentlich bekennen  kann, ohne daß dadurch unausbleiblich Widerstand Aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese nothwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende, Gegenbearbeitung Aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht. - Es ist ferner bloß  negativ,  d. i. es dient nur, um, vermittelst desselben, was gegen Andere  nicht recht  ist, zu erkennen. - Es ist gleich einem Axiom unerweislich-gewiß und überdem leicht anzuwenden.

LITERATUR, Immanuel Kant - Vom ewigen Frieden, Bremer Schlüsselverlag Hans Kasten, 1946