Die bürgerliche Gesellschaft beruth nicht auf der bewußten Zusammenarbeit für Dasein und Glück ihrer Mitglieder. Ihr Lebensgesetz ist ein anderes. Jeder meint, für sich selbst zu arbeiten, muß auf seine eigene Erhaltung bedacht sein. Es gibt keinen Plan, der festlegt, wie das allgemeine Bedürfnis befriedigt werden soll. Indem jeder versucht, solche Dinge bereitzustellen, gegen die er sich andere, die er braucht, beschaffen kann, wird die Produktion gerade noch so reguliert, daß die Gesellschaft sich in der gegebenen Form entwickeln kann. Je mehr im Verlauf der Jahrhunderte eine bessere, rationellere Regelung technisch in den Bereich der Möglichkeit rückt, desto gröber und umständlicher erweist sich dieses "feine" Instrument, der Markt, der nur unter schwersten Verlusten an Menschenleben und Gütern die Reproduktion der Gesellschaft vermittelt und mit dem Fortschreiten der kapitalistischen Wirtschaft die Menschheit trotz ihres wachsenden Reichtums nicht vor dem Rückfall in die Barbarei bewahren kann. Schon aus diesem Tatbestand, daß während der Epoche, die das Individuum emanzipiert, der Mensch in der grundlegenden wirtschaftlichen Sphäre sich selbst als isoliertes Subjekt von Interessen erfährt und nur durch Kauf und Verkauf mit anderen in Verbindung tritt, ergibt sich die Fremdheit als anthropologische Kategorie. Wenn die kennzeichnende Philosophie des Zeitalters den Menschen als in sich abgeschlossene Monade in transzendentaler Einsamkeit begreift, die mit jeder anderen Monade nur durch komplizierte, ihrem Willen entzogene Mechanismen in Verbindung steht, so erscheint hier die Existenzform des bürgerlichen Menschen in den Begriffen der Metaphysik. Jeder bildet selbst den Mittelpunkt der Welt, und jeder andere ist "draußen". Jede Kommunikation ist ein Handel, eine Transaktion zwischen solipsistisch konstruierten Bereichen. Das bewußte Sein dieser Menschen läßt sich auf eine kleine Anzahl von Relationen zwischen festen Größen reduzieren. Die Sprache der Logistik ist sein angemessener Ausdruck. Aus dieser Grundstruktur der Epoche leiten sich ohne weiteres Kälte und Fremdheit her: der Unterdrückung und Vernichtung des Mitmenschen steht im Wesen des bürgerlichen Individuums nichts entgegen. Der Umstand vielmehr, daß in dieser Welt jeder dem anderen zum Konkurrenten wird und selbst bei zunehmendem Reichtum es der Menschen in steigendem Maß zuviele gibt, verleiht dem typischen Individuum der Epoche jenen Charakter der Kälte und Gleichgültigkeit, der sich angesichts der ungeheuerlichsten Taten, wenn sie nur seinem Interesse entsprechen, mit der erbärmlichsten Rationalisierung zufriedengibt.
LITERATUR,Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang V, Paris 1936, Heft 2.