cr-2WundtM. NemoSchuppeR. SeydelA. Döring     
 
EDUARD von HARTMANN
Zum Begriff des
naiven Realismus


"Der dogmatisch versteifte Realismus, beseitigt die fundamentale Schwierigkeit, nämlich die Bestreitbarkeit des Kausalnexus zwischen Ding und Vorstellung, durch einen Machtspruch, der aller kritischen Reflexion und skeptischen Bedenklichkeit zum Trotz die Identität beider behauptet."

In Band 26, Seite 385-399 Hat Herr AUGUST DÖRING vier Stufen des erkenntnistheoretischen Realismus unterschieden:
    a. den rein naiven Realismus der völligen Reflexionslosigkeit

    b. den unwissenschaftlichen populären Realismus,

    c. den dogmatisch versteiften Realismus und

    d. den transzendentalen Realismus,
und hat diese vier Stufen in zwei Gruppen zusammengefaßt, nämlich den naiven Realismus (a) und den kritisch reflektierenden Realismus (b, c und d). Er tadelt mich, daß ich allen Realismus außer dem transzendentalen in  eine  Gruppe unter der Bezeichnung des naiven Realismus zusammengefaßt und dieser die vierte Stufe als besondere Gruppe gegenübergestellt habe, weil damit der logische Gegensatz der Naivität und Reflexion verwischt und verschoben wird. Ich glaube hingegen, daß eine nähere Betrachtung der vier Stufen zeigen dürfte, daß nur die vierte des transzendentalen Realismus die kritische Reflexion auf das eigentliche und zentrale Erkenntnisproblem anwendet, während die ersten drei Stufen allerdings ein fortschreitendes Maß kritischer Reflexion zeigen, aber ohne damit den Kern der Sache zu treffen. Ich meine deshalb, daß die ersten drei Standpunkte naiv oder reflexionslos oder unkritisch sind in Bezug auf das Grundproblem der Erkenntnistheorie und darum mit Recht unter der gemeinsamen Bezeichnung des naiven Realismus zusammengefaßt werden können, während nur die vierte Stufe ihnen in dem Sinne gegenübersteht, daß sie die Naivität in dem Punkt, auf den allein es ankommt, abgestreift hat.

Die zweite Stufe ist Herrn DÖRING "dadurch charakterisiert, daß ihr die eigentliche Hauptschwierigkeit des Problems, die Transzendenz des Objekts ... noch gar nicht aufgegangen ist" (Seite 396). Die Reflexionslosigkeit dieser Stufe des Realismus in Bezug auf die Hauptsache wird auch Herrn DÖRING nicht anstehen können, als ihre Naivität in Bezug auf das Erkenntnisproblem zu bezeichnen, ebenso wie er ihre Voraussetzung als naiv bezeichnet, daß die Entstehung adäquater Vorstellungen durch irgendeine Kommunikation mittels Berühung gesichert ist (Seite 396). Die dritte Stufe, der dogmatisch versteifte Realismus, beseitigt die fundamentale Schwierigkeit, nämlich die Bestreitbarkeit des Kausalnexus zwischen Ding und Vorstellung, durch einen Machtspruch, der aller kritischen Reflexion und skeptischen Bedenklichkeit zum Trotz die Identität beider behauptet (Seite 396). Das sieht zunächst aus wie das Gegenteil von Naivität, ist aber genauer besehen der Gipfel derselben. Inhaltlich ist die behauptete Identität nichts als der Glaubenskern des naiven Realismus, an den das Denken sich in seinen Nöten als den letzten Rettungsanker vor dem Skeptizismus klammert; formell ist der Machtspruch in negativer Hinsicht das Abwehren der Reflexion und in positiver Hinsicht die Schilderhebung des instinktiven, reflexionslosen, sich seiner Gründe nicht bewußten Glaubens an die postulierte, obwohl von der kritischen Reflexion aufgelöste Identität. Das Denken, das vor der kritischen Reflexion den Kopf unter den Flügel steckt, ist nicht bloß tatsächlich naiv,sondern  will  es auch aller Kritik zum Trotz sein und bleiben, insofern es die negative Seite der Naivität, die Reflexionslosigkeit, formell zum Prinzip erhebt, und die positive Seite der Naivität, die instinktive Gläubigkeit und Zuversicht in das Unbegriffene, aus der vorkritischen Periode des eigenen Lebens konserviert, bzw. restituiert. Man könnte diesen Standpunkt auch den forcierten naiven Realismus oder den Realismus der der forcierten und potenzierten Naivität nennen; die Naivität, welche wähnt, den Inhalt des vorkritischen naiven Glaubens aller von außen entgegentretenden Kritik und aller von innen aufsteigenden Skepsis gegenüber festhalten zu können und sich über den enthüllten Widerspruch hinwegsetzen zu können, ist nämlich selbst die höchste Potenz der Naivität.

Die drei ersten Stufen sind einander als Stufen keineswegs gleichwertig. Die erste Stufe der völligen Reflexionslosigkeit steht nicht nur außerhalb aller philosophischen Standpunkte, sondern sie ist auch ein bloß fingierter Grenzbegriff, ein imaginärer Ausgangspunkt der Bewegung, dem strenggenommen keine Wirklichkeit entspricht. Die unbewußte konstruktive Tätigkeit beim Wahrnehmungsprozeß geht immer Hand in Hand mit mehr oder weniger bewußter Reflexion, und das Tier ermangelt solcher Reflexionen ebensowenig wie der Mensch. Die Reflexion ist auch beim Tier kritisch, denn es wird nicht durch die bloße Erfahrung gewitzt und seiner Naivität allmählich teilweise beraubt, sondern nur durch seine kritische Reflexion über die gemachten Erfahrungen. Daß dabei das eigentliche Erkenntnisproblem nicht berührt wird, versteht sichvon selbst; das hat das Tier noch mit der zweiten Stufe des unwissenschaftlichen populären Realismus gemein; ja sogar die durchgebildetsten Erkenntnistheorien der dritten Stufe stehen in Bezug auf das Kernproblem mit dem tierischen Bewußtsein noch auf gleichem Boden. Beim gebildeten Menschen, auch wenn er philosophisch ganz ungebildet ist, nimmt allemal die erkenntnistheoretische Reflexion einen breiten Raum ein, wenn sie auch die Identität von Ding und Vorstellungsobjekt nicht antastet. Wir haben es also tatsächlich immer schon mit einer Mischung von Naivität und Reflexion zu tun, und dürfen uns durch ein Mehr oder Weniger von Reflexionsbeimischung nicht hindern lassen, die Naivität des Standpunktes in der Hauptsache anzuerkennen. Dagegen muß ich es für irrtümlich halten, wenn Herr DÖRING gerade in diesem fiktiven Ausgangspunkt einer völligen Reflexionslosigkeit den erkenntnistheoretischen Standpunkt aller Tiere und philosophisch ungebildeten Menschen zu finden glaubt, anstatt in den mannigfaltigen Unterstufen der zweiten Stufe, und wenn er demgemäß ihn für den eigentlichen und wahren naiven Realismus, ja sogar für den alleinigen erklärt.

Wie nach meiner Ansicht die erste Stufe ein unwirkliches und iedales Extrem ist, so auch die dritte ein in sich unmöglicher Grenzbegriff; wie die erste der  terminus a quo  [Zeitpunkt von dem ab etwas gilt - wp]des kritischen Selbstbestimmungsprozesses, so ist die dritte der  terminus ad quem  [Zeitpunkt bis zu dem etwas gilt - wp] innerhalb der Grenzen des naiven Realismus und ohne Umschlag in einen transzendentalen Standpunkt. Auch das hat die dritte Stufe mit der ersten gemein, daß sie völlig unphilosophisch ist, weil sie vor dem bloßgelegten Widerspruch gewaltsam die Augen schließt, der auf der ersten Stufe noch gar nicht geahnt wird. Wenn die erste Stufe noch vor dem Eintritt in die philosophische Bewegung steht, so ist die dritte Stufe aus ihr herausgetreten, indem der eigensinnige Wille an die Stelle des vernünftigen Denkens und der dem Widerspruch trotzende Machtspruch der sich selbst behauptenden Naivität anstelle der Einsicht tritt. Die erste Stufe gibt schlechterdings keiner Mehrheit von Standpunkten Raum, die dritte nur scheinbar, nämlich in Bezug auf die Stellung zum Grundproblem. Eine desto reichere Mannigfaltigkeit von Standpunkten hat hingegen, wie auch Herr DÖRING bemerkt, in der zweiten Stufe Platz, innerhalb deren die Bewegung die ganze Skala vom ersten zum zweiten Extrem durchläuft.

Man ersieht aus diesen Bemerkungen, daß Herr DÖRING unter naivem Realismus einen einheitlichen Typus ohne irgendwelche möglichen Unterstufen versteht, ich hingegen "eine Skala von Standpunkten, die sich zwischen den beiden Extremen einer auf die Spitze getriebenen Reflexionslosigkeit und einer vollständig ausgebildeten, wenngleich unwissenschaftlichen Erkenntnistheorie hinbewegen" (Seite 387). In meiner "Kritischen Grundlegung des transzendentalen Realismus" habe ich mich mit dem naiven Realismus in allen seinen Formen noch gar nicht befaßt, sondern mich auf die Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus beschränkt, weil dieser allein mir einer philosophischen Widerlegung würdig schien. In verschiedenen kritischen Spezialstudien habe ich mich sodann mit verschiedenen Vertretern des dogmatisch versteiften Realismus auseinandergesetzt (1) und dabei deutlich ausgesprochen, daß ich in diesem Standpunkt trotz aller wissenschaftlichen Verhüllungen und Verkleidungen doch nur eine Abart des naiven Realismus finden kann. In meinem "Grundproblem der Erkenntnistheorie" habe ich es deshalb nicht für nötig befunden, auf diesen wesentlich unphilosophischen Standpunkt der forcierten und potenzierten Naivität noch einmal zurückzukommen, ebenso wie ich den unphilosophischen Grenzbegriff der fingierten absoluten Reflexionslosigkeit als Ausgangspunkt der Betrachtung nur kurz angedeutet habe. Dagegen habe ich von Seite 1-40 eine Skala der fortschreitenden Selbstzersetzung des naiven Realismus bis zum völligen Umschlag in einen irgendwie gearteten (gleichviel ob idealistischen oder realistischen) Transzendentalismus vorgeführt, welche die mannigfachsten Stufen umfaßt. Alle diese Stufen sind naiver Realismus, weil sie die unkritische Reflexionslosigkeit gegenüber dem erkenntnistheoretischen Kernproblem gemein haben. Der Schwerpunkt lag mir nicht in der Darstellung der verschiedenen Stufen des naiven Realismus, die meines Erachtens weder als scharf gegliederte gegeben sind noch irgendeinen philosophischen Wert haben, sondern in den Stufen der Widerlegung oder Selbstzersetzung des naivrealistischen Bewußtseins, die von philosophischem Interesse sind. Diese Stufen der Selbstzersetzung, welche wesentlich in die zweite Stufe des Herrn DÖRING als Unterstufen gehören würden, zeigen aber zur Genüge, daß es mir fern lag, unter naivem Realismus einen einheitlichen Typus zeichnen zu wollen; dasselbe geht auch daraus hervor, daß die koordinierte Hauptstufe des transzendentalen Idealismus bei mir ebenfalls eine noch reichere Mannigfaltigkeit von Unterstufen zeigt, und daß Herr DÖRING bei der dritten Stufe des transzendentalen Realismus ebenfalls auf die Möglichkeit einer solchen, bisher allerdings historisch noch nicht entwickelten Mannigfaltigkeit hinweist (Seite 398). Wenn also Herr DÖRING geglaubt hat, meine Darstellung des naiven Realismus unter dem Gesichtspunkt eines einheitlichen Typus beurteilen zu sollen, so ist er dabei von dem ihm vorschwebenden, anders gearteten Begriff des naiven Realismus unwillkürlich ausgegangen, und hat dessen Merkmale auch bei mir wiederfinden zu müssen geglaubt. Eine Skala von Standpunkten umfaßt notwendig  verschiedene  Bestimmungen; einander  widersprechend  (Seite 387) werden aber diese verschiedenen Bestimmungen der verschiedenen Stufen nur dann, wenn man sie ihrem Begriff zuwider in einem einheitlichen Typus zur Deckung bringen will.

Hiermit glaube ich gerechtfertigt zu haben, warum ich alle erkenntnistheoretischen Arten des Realismus, die nicht transzendentaler Realismus sind, d. h. alle Stufen, welche von Herrn Döring und von mir in meinen verschiedenen Schriften als unkritisch in Bezug auf das Kernproblem gekennzeichnet sind, unter dem Sammelnamen des naiven Realismus zusammenfasse. Die kritische Stellungnahme zum Grundproblem ist allein die transzendentale, mag sie nun zu einem idealistischen oder realistischen Ergebnis führen; jede Stellungnahme, die das Problem nicht als Transzendentalproblem erkennt, ist unkritisch oder vorkritisch, also in Bezug auf diesen Punkt reflexionslos, d. h. naiv.




Bemerkungen zum vorstehenden Aufsatz
von A. Döring

Die vorstehende Darstellung will meine Behauptung entkräften, daß in dem vom Verfasser entworfenen Bild des naiven Realismus unvereinbare, zum Teil widersprechende Züge vorkommen. Diese Entkräftung schließt gegen mich den Vorwurf mangelnden Verständnisses der Darstellung des Verfassers sein. Ich muß diesen Vorwurf ablehen. Ich bezweifle keineswegs, daß dem Verfasser nachträglich seine ursprüngliche Darstellung in der im vorstehenden Artikel entworfene Gestalt erscheint, muß aber entschieden in Abrede stellen, daß es möglich war, Letztere aus der ursprünglichen Darstellung herauszulesen.

Diese enthält nirgends die geringste Hindeutung auf die Absicht, im Bild des naiven Realismus eine Skala von Standpunkten, die sich zwischen zwei Extremen bewegen, zu schildern. Hätte dem Verfasser letztere Vorstellung vom naiven Realismus vorgeschwebt, so würde er gewiß ebenso wie bei seiner Darstellung der mannigfachen Nuancen des Idealismus verfahren sein und diese Skala der Nuancen durch eine deutliche Hervorhebung der signifikanten Merkmale haben hervortreten lassen. Dies geschieht aber keineswegs, vielmehr wird bereits Seite 2 als einheitlicher Typus der "philosophisch unbefangene Mensch" eingeführt, der dann durch die ganze Darstellung hindurch als einheitlicher Träger der betreffenden Bestimmungen, wenn auch unter verschiedenen Bezeichnungen, im Vordergrund der Betrachtung bleibt. Seite 3 heißt es: "auf diesem naiven Standpunkt" und wiederholt "hier", "diese Ansicht" und ähnliche Wendungen. Seite 7f wird den Anfängen der philosophischen Spekulation "die Weltanschauung des gesunden Menschenverstandes" gegenübergestellt, welche Bezeichnung dann Seite 10f wiederholt und ihr "der natürliche Mensch" substituiert wird. Seite 13 tritt dann "der naive Realist" auf und Seite 14 heißt es resümierend:
    "Hiermit wäre etwa der Standpunkt beschrieben, auf welchem jedes unphilosophische Bewußtsein sich bewegt und welchen jeder Philosoph als den ihm gegebenen Erfahrungskreis und Inhalt des eigenen Bewußtseins vorfindet, wenn er anfängt über das Verhältnis des Erkennens zu den Dingen nachzudenken. Die Hauptsätze dieses naiven Realismus lassen sich dahin formulieren."
Und ebenso wird Seite 15 der naive Realismus als der Standpunkt "vor dem Erwachen der erkenntnistheoretischen Reflexion" bezeichnet.

Hierdurch scheint mir erwiesen, daß in dem in Rede stehenden Abschnitt nicht eine Mehrheit von Standpunkten geschildert wird, sondern, wie es auch die Natur der Sache erforderte, der einheitliche Standpunkt des natürlichen, noch von keiner Spur erkenntnistheoretischer Reflexion angekränkelten Bewußtseins. daß aber diesem Standpunkt zum Teil fremdartige, einer primitiven erkenntnistheoretischen Reflexion angehörige Merkmale beigelegt werden, daß die Schilderung überhaupt zum Teil widersprechende Züge enthält, ist von mir schon im früheren Aufsatz gezeigt worden und wird auch von Herrn von HARTMANN indirekt selbst zugegeben, indem er nachträglich den naiven Realismus als eine Skala von drei verschiedenen teilweise ineinander übergehenden Standpunktsgruppen beschreibt (mit welchem sachlichen Recht wird nachher noch erwogen werden). Ich begnüge mich daher jetzt mit der Zusammenstellung einiger besonders in die Augen fallender Inkonzinnitäten [Unangemessenheiten - wp].

Seite 2 nimmt der philosophisch Unbefangene, wenn er einen Tisch sieht und tastet, an, "daß er dasjenige Ding sieht und fühlt, welches  fortbesteht,  wenn er die Augen schließt und die Hand abzieht". Seite 3 jedoch kann "hier" noch gar nicht die Frage aufgeworfen werden, ob der Tisch, während er nicht gesehen wird, genau derselbe Tisch ist, der eben noch gesehen wurde"; dagegen sind Seite 14 wieder nach der Auffassung des naiven Realismus "die Dinge so, wie sie wahrgenommen werden, auch dann, wenn sie eben nicht wahrgenommen werden." - Seite 7f wird die Erklärung des Sehens durch "Oberflächenabsonderungen" oder ausgesandte "Gestaltproben" als ein für den gesunden Menschenverstand viel zu künstliches Erzeugnis philosophische Spekulation bezeichnet, Seite 14 wird die Theorie der Gestaltproben dem natürlichen Bewußtsein zugeschrieben. Diese letztere Diskrepanz bildet schon ein Glied in dem durchgehenden Dualismus, an dem die Schilderung des naiven Realismus krankt. Derselbe ist fortwährend einesteils der echte und veritable naive Realismus, dem das Wahrnehmungsbild der getreue Abdruck des Dings und seiner Eigenschaften ist, bis zu der paradoxen Zuspitzung, daß angeblich hier noch Ding und Wahrnehmungsbild weder identifiziert noch unterschieden werden, weil beide "noch in der Ununterschiedenheit oder Indifferenz sind" (Seite 3), andernteils ein Standpunkt primitiver erkenntnistheoretischer Reflexion, der das Zustandekommen der Sinneswahrnehmung durch eine auf die Dinge ausströmende, die Dinge umspannende und umklammernde, teilweise zumindest ihre Ausströmungen und Ablösungen assimilierende Funktion erklärt (Seite 3f).

Soviel zur Rechtfertigung meiner Beurteilung der ursprünglichen Darstellung des Verfassers. Eine andere Frage ist die, ob die im vorstehenden Aufsatz gegebene modifizierte Bestimmung des naiven Realismus, die auf eine dreiteilige Fassung desselben hinausläuft, haltbar und mit dem Begriff desselben vereinbar ist. Ich meinesteils glaube, daß dieselbe sowohl dem Interesse der Einschränkung dieses Begriffs auf die uns angeborene und sich allen Theorien und Bedenken zum Trotz unaustilgbar geltendmachende Auffassungsweise des natürlichen Bewußtseins, als auch dem Begriff der Naivität widerstreitet. Hierüber nur noch einige kurze Bemerkungen.

Die Frage ist in ersterer Beziehung eine Frage der terminologischen Zweckmäßigkeit. Es kann ja jemand, wie von HARTMANN tut, kommen und sagen: Ich verstehe unter  naivem Realismus  dreierlei:
    1. einen bloß fingierten Grenzbegriff, dem keine Wirklichkeit entspricht,

    2. eine Skale von Stufen einer teils populären, teils zwar der Intention nach wissenschaftlich-erkenntnistheoretischen, aber wegen fehlender Erkenntnis des Grundproblems unzureichenden Reflexion,

    3. einen Standpunkt, der das Grundproblem zwar erkennt, aber durch einen Machtspruch der Identifikation von Ding und Wahrnehmungsbild es gewaltsam aus der Welt schafft.
Wir müßten aber so jemandem entgegenhalten, daß es doch unzweifelhaft  mehr  dem Interesse wissenschaftlicher Diskussion dient, den Begriff einheitlich zu bestimmen, zumal wenn er sich  in natura rerum  [in der Natur der Dinge - wp] ein weitausgebreitetes einheitliches Erscheinungsgebiet findet, das durch diesen Terminus gedeckt und bezeichnet wird. Wollte man auf die Dreiheit der Spezies des naiven Realismus eingehen, so würde doch jedesmal, wenn vom naiven Realismus die Rede ist, Unklarheit und Unsicherheit hinsichtlich der gemeinten Spezies entstehen und es würde sich das Bedürfnis herausstellen, für die Subdivisionen besondere unterscheidende Epitheta [Zusätze - wp] einzuführen.

Zweitens aber fehlt jede Berechtigung, die sämtlichen hier in Rede stehenden Standpunkte unter den Begriff der Naivität zu subsumieren. Sobald die erkenntnistheoretische Frage erhoben wird, wenn auch in noch so unzureichender Weise, sobald ein EMPEDOKLES oder DEMOKRIT anfängt den Wahrnehmungsprozeß zu zergliedern, ist es eben mit der Naivität vorbei, und vollends den Standpunkt, der sich der vorhandenen Skepsis gegenüber in einem gewaltsamen Dogmatismus auf die ursprünglich Annahme versteift, als Naivität, ja "als die höchste Potenz der Naivität" bezeichnen zu wollen, ist doch gleichwertig mit dem Versuch, das  sacrificio dell'intelletto  [Opfer des Intellekts - wp] dem naiven Kinderglauben zu subsumieren. Ich kann es nicht für tunlich halten, WUNDT und RIEHL den naiven Realisten zuzurechnen. Hat ja doch auch von HARTMANN selbst im "Grundproblem" zumindest der Intention nach den naiven Realismus auf den Standpunkt des natürlichen Bewußtseins eingeschränkt. Ich gebe gern zu, daß ein Bedürfnis besteht, die drei in Rede stehenden Formen des Realismus im Gegensatz gegen den transzendentalen mit einem gemeinsamen Ausdruck zu bezeichnen, aber der Ausdruck  naiver Realismus  erscheint mir dazu als völlig ungeeignet. Man könnte diese Standpunkte unter der Bezeichnung der wissenschaftlich unzulänglichen Formen des Realismus zusammenfassen. Der sprachlich und sachlich - letzteres, weil in der Tat diese Standpunkte ein zumindes partielles Immanentwerden des Objekts zur Voraussetzung haben - genau entsprechende Ausdruck wäre ein immanentaler Realismus, ein Ausdruck, der im Grunde um kein Haar barbarischer ist, als der nur durch die Gewohnheit erträglich gewordene transzendentale Realismus. Schreckt man aber mit Recht vor dieser in der Tat abstoßenden Neubildung zurück, so bliebe der Ausdruck  Realismus der Immanenz,  der mir allen Anforderungen zu entsprechen und das Bedürfnis vollständig zu decken scheint.
LITERATUR - Eduard von Hartmann, Zum Begriff des naiven Realismus, Philosophische Monatshefte, Bd. 27, Heidelberg 1891
    Anmerkungen
    1) JOHANNES von KIRCHMANNs erkenntnistheoretischer Realismus 1875; BIEDERMANNs und REHMKEs reiner Realismus (in den "Kritischen Wanderungen durch die Philosophie der Gegenwart", 1889; WUNDTs System der Philosophie (Preußische Jahrbücher 1890, Bd. 66, Heft 1-2.