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RICHARD OTTMANN
Fritz Mauthners
Kritik der Sprache

- I I -
"Die Tätigkeit des schöpferischen Genies mag freilich bei weitem nicht ausreichen, der Erkenntnis der Wirklichkeitswelt auch nur um einen Schritt näher zu kommen..."

Einen Schluß auf wortarme Zeiten und wortarme Völker zieht MAUTHNER nicht, vielleicht weil der Rückschluß auf geringeres geistiges Vermögen zu nahe lag; doch hätte umgekehrt der Nachweis, daß bei einem Volk die größere Fülle des Sprachschatzes die anderwärts nur durch subjektives Hinzutun zu erreichende Fähhigkeit größerer Gedankennuancierung ohne weiteres in sich schließt, in MAUTHNERs Ausführung gewiß eine interessante Beleuchtung gewinnen können. Sind Denken und Sprechen in der Hauptsache gleichzusetzen, so ergibt sich für MAUTHNER die traurige Wahrheit, daß wir nur denken können, was die Sprache gestattet, was die Sprache und ihr individueller Gebrauch uns denken läßt.

Wie schon SEXTUS EMPIRICUS aussagt: der menschliche Geist, hat keine dogmatischen Zeichen, mit denen Unbekanntes zu erklären wäre; unser Denken, wie wir es in der Sprache ererbt haben, ist nur das bißchen Erinnerung an das bißchen Wahrnehmung der Menschheit, und Erinnerung und Wahrnehmung war von Urzeiten bis heute von unserm armen, kleinen Interesse, von unseren Wünschen gelenkt. Die Zeichen der Erinnerung sind unsere arme, kleine Sprache, die also zur Förderung der Erkenntnis nichts beitragen kann. Es ist im menschlichen Verstand oder in der Sprache nichts, was nicht vorher in den Sinnen war, und die Sinne blicken nicht nach innen: es gibt nichts in der Sprache, was nicht aus Beobachtungen der Körperwelt entstanden wäre.

Alles Denken und Sprechen, alles Bewußtsein geht nur auf das aus der Summe des Beobachteten sich zusammensetzende Gedächtnis zurück, dem es obendrein wesentlich ist, den Unterschied von Gleichheit und Ähnlichkeit zu übersehen und durch Gleichsetzung von Ungleichem Fehler zu machen. Schon darum wird unsere Gedankenwelt niemals der Wirklichkeitswelt entsprechen können.

Dazu kommt, daß die Sprache der Entwicklung der in steter Veränderung begriffenen Welt immer nachhinkt und daß der Sprachschatz oder der Menschengeist, während er sich entwickelt, zugleich Objekt und Subjekt des Erkennens sein soll. Wäre das Objekt allein veränderlich, so könnte schon die Erkenntnis niemals ein geschlossenes System werden, und es wird vollends unmöglich, wenn dieser nämliche Menschengeist oder Sprachschatz zugleich Subjekt der Erkenntnis sein muß.

Ob freilich ein Fortschreiten des menschlichen Erkennens im Bann der Sprache nicht doch möglich ist, ein jeweils geringes Darüberhinaus, das im Lauf der Zeiten sich immerhin summieren könnte, wenn es auch in seiner gesteigerten Form für die Welterkenntnis unzureichend bleibt, ist eine sich immer wieder aufdrängende Frage, und einzelne Stellen in MAUTHNERs Werk scheinen sogar diese Annahme zu begünstigen. Schon das Wirken der Metapher schafft vielfach höhere Vorstellungswerte, indem sie das Wort erweitert und bereichert. Sei führt dem Wort einen ihm vorher fremden Vorstellungsinhalt zu, der häufig mit der Richtigstellung und Erweiterung objektiver Kenntnisse zusammenhängen mag, mindestens ebenso oft aber aus sich selbst heraus oder durch Assoziation wächst.

Wahr scheint, daß jede Metapher, mag sich die Bedeutung eines Wortes noch so fein zugespitzt haben, immer auf etwas Gegenständliches zurückführt, also im Grund nur die Erinnerung an Dingliches enthält, und doch ließe sich bei der unbegrenzten Veränderlichkeit der Wortbedeutungen und ihrer Anpassung an die gegebene Sprachform gar wohl annehmen daß die reicher gewordene Vorstellung und das gegenseitige Abwägen neuer Wortinhalte, das höhere geistige oder sprachliche Kombinieren, zu einer begrifflichen Verfeinerung führen könnte, und es wäre zuzugeben, daß der Begriff doch nicht so eng an das Wort gebunden ist und ihn nur mit lockerer Fessel umspielt.

Es gäbe also in der Erweiterung der Begriffe doch etwas, was einem Hinausgehen über die Sprache ähnlich sieht. Und MAUTHNER bemerkt selbst, daß es den großen Denker kennzeichne, einen neuen Begriff zu differenzieren, und daß noch heute im schöpferischen Kopf des genialen Menschen durch neue Ideenassoziationen neue Begriffe entstehen oder daß Erinnerungen selbständig wuchern und gewissermaßen neue Bilder erzeugen.

Die Tätigkeit des schöpferischen Genies mag freilich bei weitem nicht ausreichen, der Erkenntnis der Wirklichkeitswelt auch nur um einen Schritt näher zu kommen; und wäre es der Fall, so akzeptieren wir gern MAUTHNERs trostlose Gewißheit, daß der Entwicklung der Menschheit natürliche Grenzen gesetzt sind: ein stetes, nur verhältnismäßig weniges als Erbe übernehmendes Vornanfangen im Leben des einzelnen und im Kulturdasein: durch die naturgesetzliche Vernichtung des Einzelindividuums und die mit gleicher Naturnotwendigkeit sich periodisch wiederholende Vernichtung des Kulturlebens durch das Heranrücken der Weltwinter: jener Eiszeiten, die von aller geistigen Errungenschaft kaum etwas in einem wiederkehrenden Weltfrühling hinüberretten lassen.

Durch äußere und durch innere Beschränkung des Individuums sind der menschlichen Erkenntnis Grenzen gesetzt. Die Sprache - das ist die wiederholt vorgekehrte These - ist ein Produkt der Zufallssinne, das sich zusammensetzt aus der Zahl der von Urzeiten her gemachten Beobachtungen. Sie ist unvermögend, Erkenntnis zu wecken und nach innen blicken zu lassen. In dem Umstand, daß unsere Sinnesorgane sich nicht nach innen wenden lassen, daß wir kein Sinneswerkzeug für seelische Vorgänge haben, ist für MAUTHNER die Unmöglichkeit der Psychologie enthalten. Mit den Mitteln der Sprache ist ihr nicht beizukommen.

Die Sprache ist zur Erklärung und zum Verstehen der inneren Funktionen völlige außerstande; sie weiß nichts, als den mechanischen Apparat zu deuten, die Bewegungen der Sprachmuskeln, Nerven und Gehirn zu beschreiben: Dinge, die rein physiologischer Art sind. Den Übergang von der Mechanik des Gehirns zu der entsprechenden Tatsache des Bewußtseins bezeichnet bereits TYNDALL als unvorstellbar. Und wie nach MAUTHNER mit den Mitteln der Sprache keine Psychologie erzielt werden kann, wie selbst die Losreißung von der Sprache, die Befreiung vom Wortaberglauben, der so ziemlich an allen hergekommenen Begriffen haftet, nicht weiterführt, so können uns Logik und Grammatik nichts verraten, was wir nicht bereits wissen.

Wir lesen aus den Sprachformen immer nur den Sinn heraus, den wir nach dem Maß unserer Kenntnis der Dinge hineingelegt haben, und Denken und Sprechen erscheint der überall gleichen Wirklichkeitswelt gegenüber in jedem Individuum verschieden. Redeteile, Satzteile, syntaktische Feinheiten, der ganze Periodenbau einer Sprache sind ererbte Volksgewohnheiten, die mit dem Schein der Objektivität nur Subjektives auszudrücken gestatten.

Die Form, ob substantivisch, ob verbal oder in einer andern der hergebrachten Kategorien, leistet für die Welterkenntnis nicht das mindeste. Die grammatischen Kategorien sind nur das Register des Weltkatalogs, den die Sprache zu erreichen strebt: gewissermaßen das Alphabeth, nach welchem der Mensch den Realkatalog der Welt nach seinem Interesse ordnet. Es wäre zu unphilosophisch, an die Objektivität dieses Alphabeths zu glauben. Die traditionellen Redeteile haben nirgens feste Grenzen, und die einzelnen Sprachverbände gehen im Sprachbau so weit auseinander, daß ganze Kategorien sich nicht entsprechen.

Zudem stehen die Kategorien unserer Sprache im Widerspruch mit unserer gegenwärtigen Weltkenntnis. Die Einteilung ist rein äußerlich-formal. "Rot" hört nicht auf, eine Eigenschaft zu sein, wenn wir das Dingwort "die Röte" daraus machen, und die Eigenschaft wird für den Bekenner der Wellentheoriee eine Bewegung oder ein Verbum. "Es blitzt" behält seinen verbalen Wert, wenn wir es sprachlich in das Dingwort "das Blitzen" oder "ein Blitz" verwandeln. Die Einsicht in den Sprachbau lehrt für die Urverhältnisse, daß der erste Menschenlaut weder ein Nomen noch ein Verbum noch ein Adjektiv, sondern schon eine Absicht war: der Wunsch, einem andern etwas zu suggerieren.

Die Kategorien sind nichts über den Sprachen Stehendes, nichts von einer höheren Vernunft Gegebenes. Daß wir für Merkmale der Objekte, für die sogenannten Eigenschaften, einen besonderen Redeteil entwickelt haben, ist zufällig; es gibt Sprachen, in denen diese Merkmale, die wir für logisch notwendig halten, anders ausgedrückt werden. Ebenso ist das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat, das uns als Grundlage alles Denkens gilt, nur ein Produkt der Sprache.

Es ist durchaus irrig, den durch die beschränkteste Sprachbetrachtung gewonnenen Kategorien logische Notwendigkeit zuzuschreiben, und diese Einsicht wird von MAUTHNER dahin ausgedehnt, das Vorhandensein einer alle Sprachen und Menschengehirne gemeinsam bindenden Logik zu leugnen und jeder Sprache ihre besondere, in der Sprache drinsteckende Logik zuzuweisen; von einer Gemeinsamkeit der Logik kann für ihn nur da die Rede sein, wo die Worte verschiedener Sprachen Zeichen für die gleichen Vorstellungen sind.

Indem MAUTHNER Grammatik und Logik als historisch geworden ansieht und die Logik als die allgemeine Gesetzmäßigkeit des menschlichen Denkens oder der Sprache preisgibt, läuft er den Vernichtungssturm gegen das logische Gebäude: vorbereitend zunächst und im ersten Anhub, während die Stärke der Tat dem noch ausstehenden dritten Band seines Werkes vorbehalten bleibt. Aber er hat uns Richtung und Absicht gezeigt, und wenn er die von der Sprachentwicklung unbewußt in Stoff und Form hineingetragenen Gleichmäßigkeiten hinterher zur Norm des bewußten Denkens erhoben sieht und wenn er daneben aus allen Begriffen, Urteilen und Schlüssen nur unfruchtbare Tautologien heraushört, so spürt man schon den schonungslosen Wagemut und fragt betroffen, was von dem folgenden Bau der Logik wohl überhaupt noch übrig bleiben soll.

Wie die Sprache, so hat sich für MAUTHNER auch die von ihrer außersprachlichen Höhe herabgerissene und in die Sprache, d.h. die Einzelsprachen hineinverlegte Logik als wertlos für das menschliche Erkennen erwiesen, und der Sprache bleibt nur der ärmlichste und zweifelhafteste Dienst: bestenfalls noch das subjektive Mitteilen subjektiven Dafürhaltens und als höchste Höhe das aus Subjektivem und Unstetem großgewordene, am Gefühlsanstoß und der Menschlichkeit der Vorstellungen sich genügen lassende dichterische Gestalten, sonst nur die Suggestion des eigenen Wunsches, die Befriedigung der Begierden und das müßige, seichte Geschwätz, das nicht einmal zu gegenseitigem Verstehen führt, da verschiedene Menschen nie mit dem gleichen Wort die gleiche Vorstellung verbinden.

Die Sprache ist für MAUTHNER der gegenseitige Sporn und die gegenseitige Geißel, das konventionelle Zwangsmittel, das der hohlen und brutalen Wortgewalt blind zu gehorchen verlangt, das Sündenregister der Menschheit, Machtgebot und gefügiges Werkzeug für das Befriedigen niederer Triebe und der Wegweiser zum Laster.
"Die Sprache", heißt es, "ist die Peitsche, mit der die Menschen sich gegenseitig zur Arbeit peitschen: jeder Fronvogt und jeder Fronknecht. Wer die Peitsche nicht führen und unter ihren Hieben nicht schreien will, der heißt ein stummer Hund und Verbrecher und wird beiseite geschafft. Die Sprache ist der endlose und endlos wachsende Kurszettel der Menschenbörsee, auf dem die Werte aller Schuldtitel menschlicher Ruchlosigkeit abgeschätzt und gehandelt werden. Die Sprache ist der Ziehund, der die große Trommel in der Musikbande des Menschenheeres zieht.

Die Sprache ist der Hundsaffe, Prostituierte, der mißbraucht wird für die drei großen Begierden des Menschen, der sich brüllend vor den Pflug spannt als Arbeiter für den Hunger der sich und seine Familie verkauft als Kuppler für die Liebe, und der sich in all seiner Scheußlichkeit verhöhnen läßt als Folie für die Eitelkeit und der schließlich noch er Luxusbegierde dient und als Zirkusaffe seine Sprünge macht, damit der Affe einen Apfel kriege und eine Kußhand und damit er selbst Künstler heiße.

Die Sprache ist die große Lehrmeisterin zum Laster. Die Sprache hat die Menschheit emporgeführt bis zu der Galgenhöhe von Babylon, Paris, London und Berlin, die Sprache ist die Teufelin, die der Menschheit das Herz genommen hat und Früchte vom Baum der Erkenntnis dafür versprochen. Das Herz hat die Sprache gefressen wie eine Krebskrankheit; aber statt der Erkenntnis hat sie dem Menschen nichts geschenkt als Worte zu den Dingen, Etiketten zu leeren Flaschen, schallende Backpfeifen als Antwort auf die ewige Klage, wie andere Lehrer andere Kinder durch Schlagen zum Stillschweigen bringen.

Erkenntnis haben die Gespenster aus dem Paradies der Menschheit versprochen, als sie die Sprache lehrten. Die Sprache hat die Menschheit aus dem Paradies vertrieben. Hätte die Menschheit aber die Sprache lieber den Affen oder den Läusen geschenkt, so hätten die Affen oder die Läuse daran zu tragen, und wir wären nicht allein krank, vergiftet, entwurzelt in der ungeheuren sprachlosen Natur. Wir wären dann Tiere, wie wir es hochmütig nennen in unserer protzigen Menschensprache, oder wir wären Götter, wie wir es empfinden, wenn ein Blitz uns verstummen macht oder sonst ein Wunder der sprachlosen Natur."
Was bedeutet nach diesem Verzweiflungsschrei noch die kleine Frage nach dem Ursprung menschlicher Rede? Und doch ist sie, tief genug gefaßt, das größte Problem, bei dessen Lösungsversuch aber dem forschenden Menschen, wie weit er auch vordringen mag, in letzter Instanz stets das vernichtende "Ignorabis" als Hohngruß geboten wird. Geht man nur bis zur Grenze des Vorstellbaren, aber nichtsdestoweniger völlig Hypothetischen, wagt man sich über die riesige Kluft hinüber, die das Letzterreichbare der Sprache von ihrem Anfang trennt, so hat man die das Nichtwissen in sich enthaltende genügsame Erklärung, die Sprache sei den Menschen angeboren, nur insoweit zu kennzeichnen, als sie unerklärt läßt, wo zwischen der angeborenen Sprechanlage und der Ausübung des Sprechens der Grenzpunkt zu setzen ist, und also die Frage nach dem Anfang des Ausübens noch gar nicht beantwortet.

MAUTHNER, dem die alltägliche Not, der Kampf ums Dasein als Anstoß zur Sprache gilt und dem die Sprache zu einer biologischen Notwendigkeit wird, erklärt diesen ihren Ursprung durch den Begriff der Entwicklung, durch die von der Naturwissenschaft geforderten Annahme, daß die Sprache sich nach Art der organischen Welt entwickelt habe. Dabei geht die Entwicklung des Sprechorgans und der Sprache Hand in Hand; es handelt sich bei der Entstehung der Sprache nicht um die Anwendung eines gebrauchsfertigen Werkzeugs. Das Sprechorgan konnte zunächst nur äußerst unvollkommen sein.

Wir wissen natürlich nichts über die Sprachlaute einer uralten Zeit und über deren Artikulation; doch wäre es völlig verkehrt, nur die historisch entwickelten Sprachlaute als artikuliert anzusehen und etwa dem Seufzer oder dem Laut des Abscheus, die den artikulierten Lauten "ach" und "pfui" zugrunde liegen und sie in der erregten Sprache noch heute ersetzen, deswegen Artikulation abzusprechen, weil sie zu unserer sonstigen Artikulationsgewohnheit nicht stimmen. Artikuliert, d.h. durch eine bestimmte Stellung und Tätigkeit der Sprechorgane hervorgebracht, ist schließlich jeder, selbst der tierische Laut, und nur allmähliche Entwicklung konnte zu der Artikulation der jüngeren Sprachzeit führen.

Ihrem Wesen nach konnte die Sprache nur ein Produkt zwischen den Menschen sein: ein Mitteilungsmittel, ein Gebrauchsgegenstand, nie etwas für sich allein Bestehendes. Die Gewißheit, daß jede Sprache nur Individualsprache sein kann, etwas in dieser Form nur dem betreffenden Individuum Eigentümliches und nicht einmal dies, da das Sprechorgan nie genau die gleichen Laute hervorbringt, schließt nach dem wirkenden Gesetz der Assoziierung des Ähnlichen die notwendige Annahme nicht aus, daß bereits die erste und älteste unförmliche Äußerung eines urzeitlichen Individuums nicht Eigensprache, sondern etwas zwischen einem sprechenden und hörenden Menschen war und gleichzeitig das Bestreben, das Denken und Wollen des andern Menschen nach dem eigenen Interesse zu lenken, ihm also die eigene Vorstellung oder den eigenen Wunsch zu suggerieren.

Verständigen konnten sich die Menschen ganz sicher nur über das, was im Bereich ihrer Augen war. Die Sprache war in den Urzeiten gewiß noch ausschließlich deiktisch (hinweisend): der bloße Hinweis, ein Deuten; und wo der Laut hinzukam, war dieser doch nur aus der Situation heraus verständlich. Sehr lange mögen dann die Worte den Gebärden zu Hilfe gekommen sein, die sich das Verhältnis umkehrte und die Gesten das Wort unterstützten. Erst der komplizierte Verkehrt unter den Menschen und vollends die von ihm geschaffene Schriftsprache löste das Wort von den anschaulichen Begleitumständen und mehr und mehr von seiner Betonung los: an die Stelle des einwörtigen Satzes, der als Ausruf und Aufforderung noch heute besteht, mußte mehr als Luxuserzeugnis der mehrwörtige treten.

Zusammenfassende Begriffe konnte es in der Urzeit der Sprache zunächst nicht geben; erst Apperzeption (bewußte Wahrnehmung) und Assimilierung (Angleichung) ließ allmählich die jeweiligen Eigennamen, d.h. die durch zusammenhanglose Beobachtung gewonnenen Individualbegriffe zu Gattungsbegriffen werden. Daß die Sprache sich gerade als Lautsprache und nicht als Gebärdensprache entwickelte, wird schon von MARTY ("Über den Ursprung der Sprache") richtig so gedeutet, daß sonst die Hand das aktive und das Auge das passive Werkzeug hätte sein müssen, der Mensch aber die Hand zum Kampf gegen die Welt und das Auge zur Orientierung in der Welt nötig hatte.

Dazu mußte die Sprache nach einer der wichtigsten Seiten hin Arbeitsunterstützung sein; wie unbequem aber und geradezu unmöglich eine Gebärdensprache unter Umständen hätte sein müssen, macht MAUTHNER an der Lage zweier Urmenschen, die einen Baum fällen wollten, verständlich. Sodann wäre die Gebärdensprache bei Dunkelheit unmöglich und mit zunehmender Entfernung immer wertloser gewesen, aber auch bei mäßigem Abstand hätte das Gespräch mit einem stimmlichen Anruf beginnen müssen, und schon darin wäre der Anfang zu der viel bequemeren Lautsprache enthalten gewesen.

Für den Ursprung der Sprachlaute kann das Sprechen des Kindes eine Parallele abgeben, wie überhaupt die Entwicklung des Individuums den Entwicklungsprozeß der Menschheit in unendlich verkürzter Form wiederholt. Wie das Kind mit dem Sprechorgan Zufallslaute hervorbringt und aus sich heraus eine Zufallssprache schafft - wenn in dem Zufall nicht vielmehr individuelle und physiologische Notwendigkeit zu suchen ist -, so muß sich die Ursprache der Menschheit innerhalb der Zufallslaute des Säuglings bewegt haben.

Wenn beim Kind in der Sprechartikulation mitunter ein mimisches Bemühen erkennbar ist, das ihm beispielsweise mit der saugenden Lippenbewegung den auf Milch gerichteten Wunsch in Erfüllung gehen läßt, so mag diese nachahmende Sprechtätigkeit schon in der Ursprache wirksam gewesen sein; ebenso zu geringerem Teil die Schallnachahmung, die erst mit der Zeit den Schall so umartikulierte, daß die heutige Onomatipöie (Lautmalerei) nur als Stilisierung des Originallauts anzusehen ist. Die Frage, ob alle Menschensprachen der Erde von einer einzige Ursprache abstammen, wird für MAUTHNER bedeutungslos, weil überhaupt nur wenig Zufallslaute an den Anfang zu stehen kommen, so daß selbst bei der Annahme eines uranfänglich einheitlichen Beginns die Zufallsdifferenzen schon in allerfrühester Zeit eintreten mußten.

Mögen MAUTHNERs Darlegungen über die Anfänge der Sprache im einzelnen viel für sich haben: problematisch bleiben sie immer, und es gibt auch für ihren Sprecher einen nach rückwärts liegenden Punkt, wo er einhalten muß. Und vermöchte der Mensch das Ursprungsproblem noch weiter zurückzwingen in noch frühere Zeiten organischen Lebens: einmal müßt er doch Halt machen - Halt vor dem ewigen Rätsel.

Der Ursprung der Sprache bleibt auch von MAUTHNER unerklärt und muß es bleiben; denn auch hier wird selbst das Genie nur bis zur Deutung äußerlich mechanischer Vorgänge, die nur der aufgeblasene Materialismus als Innenwesen verkauft, vorzudringen vermögen. Wie Sprache und Denken für MAUTHNER identisch sind und mit den Mitteln des Denkens die geistige Belebung der Materie nicht zu begreifen ist, so bleibt die Frage nach dem Ursprung der Sprache ebenso unbeantwortlich wie die gleichwertige Frage nach dem Ursprung der Vernunft.

Was wir bei MAUTHNER beobachten, ist trotz seiner resignierten Erkenntnis nicht viel anderes als der ewig wiederholte Verzweiflungsmut, der mit aller Aufbietung geistigen Wollens, mit Einsetzung der besten Kraft und mit ewiger Selbsttäuschung in die geheimnisvolle, grundlose Tiefe zu steigen sucht, um schließlich kaum auf Spannenweite der Erkenntnis näher zu kommen. Mindestens möchte MAUTHNER die Aufgabe der Sprachwissenschaft vertiefen.

Das ganze sprachphilosophische Wissen scheint ihm oberflächlich: nur so weit reichend, wie die Wurzellänge eines Grashalms sich zum Erdhalbmesser verhält oder wie der Regenwurm vom Erdinnern weiß. Und leistet MAUTHNER wirklich mehr, wenn er durch lediglich probable Mittel jenseits alles Erreichbaren eine äußerliche Ursprungstheorie gewinnt, die die ihrer Grenzen achtende Sprachwissenschaft sich höchstens als zwanglose Exkursion ins Blaue gelegentlich in Feierstunden erlaubt?

Bei den angefochtenen Sprachwurzeln, an deren objektive Gültigkeit übrigens auch der Sprachforscher keineswegs zu glauben braucht, macht das Forschen Halt: aus Ruhebedürfnis, wie MAUTHNER will. Seine Kritik will die Sprachwissenschaft aus ihrem Schlaf reißen, ihr die Illusion der Oase nehmen und sie weitertreiben auf dem heißen, mörderischen und vielleicht ziellosen Wüstenweg durch stumme, leblose Öde, wo nur die kranke Sehnsucht Früchte zu finden glaubt!
LITERATUR - Richard Eduard Ottmann in Zeitschrift für den deutschen Unterricht 17. Jhg, 1. Heft, Leipzig 1902