cr-3 
 
FRITZ MAUTHNER
Wirkliches Denken
I -15

"Gedächtnis ohne Gedächtniszeichen ist nicht möglich; und Zeichen sind im weitesten Sinne sprachliche Akte."

Von der physiologischen Psychologie wollen wir die Kritik der älteren psychologischen Begriffe gern annehmen; ihrer Führung wollen wir uns jedoch nicht anvertrauen, am wenigsten der neuerdings so emsigen Gehirnphysiologie. Die Herren, welche nach physiologischen Schätzen graben, geben auf wirklich psychologischem Gebiete ihren ganzen Scharfsinn in der Negation gegen die ältere Psychologie aus und behalten vielleicht darum so wenig für Selbstkritik übrig. Ein so verdienstvoller Forscher wie WERNICKE kennt WUNDTs Fehler besser als die eigenen. Er sagt gelegentlich, wo er sich mit der Erscheinung des Bewußtseins beschäftigt und darum Messer und Mikroskop beiseite legen muß: "Fragen wir nach dem Aufschluß, den uns die Sektionen von Geisteskranken über den uns beschäftigenden Gegenstand geben, so ist bekanntlich der Befund meist negativ." Aber in seiner sehr geschätzten Arbeit über den aphasischen Symptomenkomplex verrät sich plötzlich der heimliche Wortaberglaube der materialistischen Schulen, welche sich so frei von jedem Aberglauben wähnen.

Er spricht es da ganz unbefangen aus, daß die typischen klinischen Bilder, ans welchen man Schlüsse auf die Lokalisation im Gehirn ziehen könnte, zahlreicher beobachtet würden, wenn man nur die Aufmerksamkeit darauf gelenkt hätte. Jeder forschende Arzt wird das in gutem Glauben hinnehmen und wirklich recht viele einschlägige Krankengeschichten mit Sektionsbefunden veröffentlichen, nachdem er sich die Begriffe für die verschiedenen Assoziationszentren geläufig gemacht hat. Ich meine aber, die gegenwärtige Gehirnphysiologie verfällt da (gar viel feiner freilich) in den gleichen Fehler wie die alte Phrenologie, die brutal und makroskopisch den Sitz der vermeintlichen geistigen Eigenschaften Großmut, Liebe, Geiz u.s.w. suchte. Eine konsequente Physiologie dürfte gar nicht die Faserbahnen für psychologische Vorgänge suchen, die nur Hypothesen unseres Selbstbewußtseins sind. Der Mann am Mikroskop findet nur zu leicht, was er sucht. So ist es in der Gehirnanatomie gegangen, so in der Bakteriologie.

Gewiß kann die naturwissenschaftliche Forschung nicht vorwärts kommen, wenn sie sich nicht Fragen stellt, die über bereits bekannte Tatsachen hinausgehen. Aber die Fragen müssen aus reiner Wissenschaft hervorgehen. Der Mathematiker darf nicht die Fragen eines Astrologen beantworten wollen, sonst wird er wie KEPLER gelegentlich (und nicht nur da, wo der Arme wie ein gefälliger Journalist für Kalender oder für WALLENSTEIN arbeitete) selbst zum Astrologen. Für den konsequenten Physiologen dürfen die alten Fragen der metaphysischen Psychologie nicht existieren, solange er im Gehirn nicht Korrelate zu den alten Begriffen gefunden hat. Und davon sind wir weit entfernt. Was etwa an Lokalisationen festgestellt worden ist, das bezieht sich ausschließlich auf die Zentralstellen der Sinnesorgane. Das Denken ist vorläufig von der alten Psychologie immer noch besser analysiert worden als von der Gehirnanatomie. Die verschiedenen Zentralstellen für das Denken sind bislang schematische Hypothesen. Die neuen Begriffe der motorischen und der sensorischen Aphasie geben keine Beschreibung der Tatsache, sondern nur die schematische Hypothese einer Erklärung; die Asymbolie ist nur ein schematisches Bild für die seit KANT geläufige Annahme, daß auch zum Zustandekommen von Wahrnehmungen Verstand nötig sei.

Auch wir können die Daten der Gehirnphysiologie nur benützen, um für unsere Frage, die sich mit den Mitteln unserer Sprache gar nicht fassen läßt, etwas passendere Wortbilder zu wählen. Wir wissen, daß zwischen den Menschen, in der Sozialpsychologie, ein Denken ohne Sprechen unausdenkbar und unsagbar ist. Wir wissen, daß der Individualmensch ein Sprechen ohne Denken nicht besitzt. Gibt es aber im Individualgehirn dennoch ein Denken ohne Sprechen?

Da wollen wir uns erinnern, daß sich uns zu Beginn unserer Untersuchung  die  Sprache als etwas Unwirkliches entzogen hat, daß selbst die Einzelsprachen, ja sogar die Individualsprachen der Einzelmenschen sich als unwirklich auswiesen, daß nur der augenblickliche Sprachlaut etwas Wirkliches war, soweit er noch wirklich bleibt, wenn wir ihn als eine Bewegung erkannt haben. Genau so steht es mit dem Denken, was nicht wunderbar ist, wenn Denken und Sprechen identisch sind. Das Denken ist ein wissenschaftlicher Begriff und Wissenschaft gehört bereits zur Sozialpsychologie. Der Einzelmensch weiß mancherlei; Wissenschaft ist eine Konstruktion außerhalb des Einzelmenschen. Der Mensch besitzt kein abstraktes Denkvermögen, sondern er kennt die Tatsache, daß in ihm Denkakte vollzogen werden. Diese Denkakte sind allein wirklich, wobei ich mich dagegen verwahre, "wirklich" in atomistischem Sinne zu verstehen; die Physiologen, welche die hypothetischen molekularen Veränderungen in den Ganglien allein wirklich nennen, finden den Weg zur Psychologie nicht zurück. Unsere einzelnen Denkakte sind allein wirklich, trotzdem sie weiterhin geistige Vorgänge heißen mögen.

Wir stehen also vor der engeren Frage: gibt es Denkakte ohne Sprachakte? Gewiß, es handelt sich nur um die ganz menschliche, ganz willkürliche Definition der Begriffe Denken und Sprechen. Fast alle Empfindungen und sehr viele Wahrnehmungen haben wir ohne Hilfe der Sprache; und da Empfindungen und Wahrnehmungen uns leicht zu verständigem Handeln veranlassen, was ungenau auch auf Denken zurückgeführt werden kann, so gibt es da so etwas wie Denken ohne Sprechen. Verstehen wir jedoch unter Denken nur diejenigen Prozesse in unserem Gehirn, bei denen sich Empfindungen oder Wahrnehmungen mit Vorstellungen assoziieren, oder Vorstellungen untereinander, so kann von einem Denken ohne Sprechen nicht die Rede sein. Denn die Vorstellung ist ein Erinnerungsbild und unterscheidet sich etwa von der Erinnerung an eine einfache Empfindung gerade dadurch, daß sie ein Bild ist, ein Zeichen für die Beziehungen verschiedener Erinnerungen. Wir kommen da ohne das Bild von Bildern oder Zeichen nicht aus. Gedächtnis ohne Gedächtniszeichen ist nicht möglich; und Zeichen sind im weitesten Sinne sprachliche Akte.

Wiederholte nun jemand den eigenen Einwurf, daß nach unserer instinktiven Empfindung dennoch ein Unterschied bestehe zwischen Sprechen und Denken, so kann ich jetzt darauf erwidern, daß dieser Unterschied nur in unserem Denken oder Sprechen vorhanden ist, weil Denken oder Sprechen die einfache Wirklichkeit nicht einfach sehen kann. So ist für den Menschen ungezählte Jahrtausende lang ein Unterschied gewesen zwischen der Schwere des ruhenden Steines und der Geschwindigkeit des fallenden Steines; vielleicht ersteht uns einmal ein NEWTON der Psychologie, der die einfache Bewegungserscheinung erkennt, die wir bald Denken, bald Sprechen nennen. Es muß die Bereitschaft in der Ganglienzelle, bevor durch eine Anregung Denken oder Sprechen ausgelöst wird, mit der latenten Gravitation des ruhenden Steines manche Ähnlichkeit haben.

Die gegenwärtige Naturwissenschaft hat das materielle wie das geistige Weltall teils als Bewegung, teils unter dem Bilde der Bewegung verstehen gelernt. Was wir hören, sind Stoßbewegungen elastischer Körper, was wir schmecken, wird uns als ein System chemischer Bewegungen beschrieben, was wir sehen, nennt man Ätherbewegungen. Was wir sprechen, kommt erst durch Bewegungsgefühle zu stande; was wir denken, hat unbeschriebene Molekularbewegungen im Gehirn zum Korrelat. Warum sollte unser Denken oder Sprechen mehr sein als ein Ausklingen der Bewegungen im Weltall.

LOTZE hat darauf hingewiesen, daß im Schall, der den Mund verläßt, die Wellen austönen, die unsere Sinnesorgane treffen. Der Gedanke ist vielleicht realistischer zu nehmen, als man glaubt. Vielleicht muß der Mensch nach starken Wellenschlägen (die sein Auge oder Ohr z.B. getroffen haben) den Mund zum Schreien oder Reden aufreißen, wie der Kanonier beim Feuern den Mund öffnet, damit er nicht taub werde. Vielleicht ist wirklich die Bewegung der Wellen, die unsere Organe treffen, oft zu stark, als daß die von ihr veranlaßte chemische Bewegung in den Nerven u.s.w. ihre Energie ganz verbrauchen könnte. Vielleicht ist es der Überschuß an Energie, der im Gehirn Assoziationen bewirkt und als Schallwelle aus dem Munde fährt. Experimentell wird sich das wohl kaum nachweisen lassen, so lange man die chemischen und sonstigen Vorgänge in den Nerven nicht besser kennt.

Aber auch wenn diese Hypothese abzuweisen ist, wenn die einwirkende Energie der äußeren Molekülbewegungen zur Ruhe, zur Kräfteausgleichung in dem kommt, was in unserem Gehirn vorgeht und veranlaßt wird, auch dann müßte man aus dem Gesetze der Erhaltung der Energie schließen, daß keine einzige neue oder irgendwie differenzierte Wahrnehmung ohne folgendes Denken bleibt, daß dieses Denken unmöglich ohne gewisse psychologische Änderungen vor sich geht, daß -  da diese neue Wahrnehmung im Gedächtnis haftet  - sie sich mit der Summe der früheren Wahrnehmungen assoziiert, das heißt dem Gedächtnis oder Sprachschatz einverleibt wird, daß also auch der einfachste wirkliche Denkprozeß gar nicht möglich ist ohne Sprache, ja eigentlich identisch ist mit der Sprachbewegung, welche immer zugleich Sprachübung oder Wachstum ist.

Vielleicht wäre es fruchtbar, das Gesetz von der Erhaltung der Energie nicht nur auf die Wortsprache, sondern auch auf die so verständliche Zeichensprache der Tränen und des Lachens anzuwenden. Gewisse Schutzmaßregeln des Ohres und des Auges (die bekannteste ist das Verengen der Pupille bei starkem Lichtreiz) lassen erkennen, daß der Organismus übergroße Energie der Außenwellen fürchtet. Kommen sie dennoch übermächtig heran, so hilft er sich gar mit Ohnmachten und endlich - aus Verzweiflung - wenn's nicht anders geht, mit dem Selbstmord, der dann Tod heißt.

Man hat unsere Zeit oft und richtig mit dem verfallenden Altertum verglichen. Wie die Gesellschaft der römischen Kaiserzeit keine geschlossene Weltanschauung mehr hatte, weil ihr alle möglichen Anschauungen zu bunter Auswahl gefällig vorlagen, so glaubt auch heute eigentlich keiner mehr an etwas. Religionen und Philosophien werden nebeneinander in Jahrmarktbuden ausgeschrieen, so wie in den Möbelhandlungen die Stoffe und Formen aller Zeitstile und Stilrevolutionen nebeneinander zu haben sind. Und wie damals die Männer, die aus der Jesuslegende das Christentum schufen, zu groß oder zu klein, um für sich selbst aus der Welt zu gehen, der Weltsehnsucht nach dem Tode Worte liehen, wie der Selbstmord der Weltfreude anfing, die Gedanken der damals Modernen zu beherrschen, so äußert sich die Verrottung unserer Gesellschaft in den Predigten aller unserer Dichter und Denker seit mehr als hundert Jahren. Wer modern ist, sehnt sich nach dem Ende, und wer modern scheinen will, spricht vom Ende.

Kaum aber ist bisher beachtet worden, daß der faulige Zustand der Weltanschauung sich zumeist und für helle Ohren am deutlichsten in der Sprache verrät. Das Latein der Kaiserzeit war eine totkranke Sprache, bevor es eine tote Sprache wurde. Und unsere Kultursprachen von heute sind zerfressen bis auf die Knochen. Nur bei den Ungebildeten, beim Pöbel, gibt es noch gesunde Muskeln und eine gesunde Sprache. Die Sprache der Bildung hat sich metaphorisch entwickelt und mußte kindisch werden, als man den Sinn der Metaphern vergessen hatte. Wie die römische Dame in ihrem Boudoir Fetische oder Götter aller Zeiten und Völker beisammen hatte, und darum in der Not nicht wußte, zu welchem beten, so hat der Dichter und der Denker unserer Zeit alle Wortfetische zweier Jahrtausende in seinem Gehirn beisammen und kann kein Urteil mehr fällen, kann kein Gefühl mehr ausdrücken, ohne daß die Worte wie ein gespenstischer Verwandlungskünstler auf dem Drahtseil ein Maskenkostüm nach dem anderen abstreifen und ihn auslachen und unter den Kleidern durch das Rasseln ihrer Knochen verraten, daß sie halbverweste Gerippe sind.

In bunten Farben schimmern unsere Sprachen und scheinen reich geworden. Es ist der falsche Metallglanz der Fäulnis. Die Kultursprachen sind heruntergekommen wie Knochen von Märtyrern, aus denen man Würfel verfertigt hat zum Spielen. Kinder und Dichter, Salondamen und Philosophieprofessoren spielen mit den Sprachen, die wie alte Dirnen unfähig geworden sind zur Lust wie zum Widerstand. Alt und kindisch sind die Kultursprachen geworden, ihre Worte ein Murmelspiel.

Abseits von der Sprache steigert sich der wollüstige Komfort bis zum Blödsinn und glaubt darum an einen Höhepunkt der Menschheit. In der Sprache verrät sich ihr tiefer Stand. Und zum ersten Mal, seitdem Menschen sprechen gelernt haben, wäre es gut, wenn die Sprachen der Gesellschaft vorangingen mit ihrem Schuldbekenntnis, mit dem Eingeständnis ihrer Selbstmordsehnsucht. Um sich zu verständigen, haben die Menschen sprechen gelernt. Die Kultursprachen haben die Fähigkeit verloren, den Menschen über das Gröbste hinaus zur Verständigung zu dienen. Es wäre Zeit, wieder schweigen zu lernen.

Nicht nutzlos scheinen mir alle diese Betrachtungen über das Verhältnis von Denken und Sprechen. Aber denkhaft sind sie und sprachhaft, vor der letzten sprachkritischen Arbeit angestellt. Darum klingen sie aus in der tragischen Verzweiflung, die fast wieder Wortknechtschaft ist, anstatt in dem resignierten lachenden Zweifel sprachkritischer Befreiung. Am Ende des Weges hätte ich einfach fragen dürfen: Was geht es mich an, daß die Worte Denken und Sprechen zufällig entstanden sind? Daß die beiden Worte im Sprachgebrauche einander unregelmäßig durchschneiden? Daß ihre Umfänge sich nicht zu sauberen Kreisen gestalten? Und hätte ich nicht ebenso breit und gewissenhaft ähnliche Verhältnisse analysieren müssen? Gott und Welt? Energie und Stoff? Leben und Organismus? Sprechen und Verstehen? Und scholastisch nicht immer wieder auf den Gegensatz von subjektiv und objektiv kommen müssen?

Am Ende des Weges könnte ich aber doch, anschaulicher als bisher, klar zu machen suchen, warum ich Denken und Sprechen immer wieder gleich setzen muß, als die beiden gleichwertigen Begriffe für die Summe des menschlichen Gedächtnisses, warum ich trotzdem die verschiedene Tönung der Begriffe im Sprachgebrauche zugebe. An dieser Stelle muß ich kurz vorwegnehmen, was erst bei der Kritik des Zeitworts (im 2. Kapitel des 3. Bandes, 1. Abt.) deutlich werden wird.: Daß es irgend ein Verbum in der Welt unserer Vorstellungen nicht gibt, daß die Vorstellungen des Handelns insgesamt durch einen heimlichen Zweck entstehen, durch den Zweck im Verbum, außerhalb der Natur, durch die menschliche Zweckvorstellung. Es gibt nirgends etwas wie "graben" oder "gehen", es gibt nur unzählige Bewegungen oder Handlungsdifferentiale, die wir je nach dem Zwecke der Handlung als "graben" oder als "gehen" begreifen. Es gibt nirgends ein "Begreifen" , es gibt nur unzählige mikroskopische (bildlich, nicht materialistisch) Bewegungen oder Veränderungen, die wir als "begreifen" begreifen oder zusammenfassen.

Solche Verba sind auch Denken und Sprechen. Zusammenfassungen menschlicher Bewegungen zu einem Zweck. Handlungen, die auseinanderfallen, wenn der Ort der Handlung in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit fällt. Die zusammenfallen, wenn die Aufmerksamkeit sich richtet auf den Erzeuger des Verbums den Zweck. Sprache oder Denken ist da, so oft menschliches oder tierisches Handeln durch Gedächtniszeichen erleichtert wird, also eigentlich immer. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird bald der Begriff Denken, bald der Begriff Sprechen unkontrollierbar erweitert und dann decken sich beide Begriffe für ein Weilchen nicht. In der Sprache nicht. Das diskursive Denken ist mit der Sprache identisch. Das Denken kann aber auch sprunghaft werden und dann läßt es die Krücken der Sprache los. Wie beim Sprunge über den Graben, beim verstandesmäßigen Handeln von Mensch und Tier.Wirklich ebenso. Das verstandesmäßige Handeln fällt unter den erweiterten Begriff Denken. Nicht anders könnte man auch den Begriff "sprechen" erweitern auf jede Benützung von Gedächtniszeichen, mit deren Hilfe sich das Tier in der Welt orientiert. Sprunghaft wären dann die InstinkthandIungen bei Mensch und Tier.

Der Zweck im Verbum ist zum gegenseitigen Verstehen notwendig. Darum ist die Mitteilungsmöglichkeit bei den Tieren (Tierstaaten ausgenommen) so gering. Darum verstehen Menschen und Tiere einander nicht leicht. Der Mensch sagt: "Ich denke und spreche; der Hund bellt." Der Hund bellt vielleicht: "Ich denke und spreche; der Mensch bellt." Der Mensch: "Ich spreche; der Buchfink singt." Der Buchfink: "Ich spreche; der Mensch singt." A sagt: "Ich denke; B spricht." B sagt: "Ich denke; A spricht."

Noch ein Beispiel, um das Verhältnis von Denken und Sprechen lachend klar zu machen. Wie bei der Handlung des Sprechens der Zweck im Verbum oft nicht zum Bewußtsein kommt, so auch nicht immer bei der Handlung des Gehens. Man nennt die zwecklose Fortbewegung "gehen", landschaftlich auch laufen oder springen. (Ähnlich für sprechen: reden oder sagen.) Läuft aber der Hund oder der Mensch dem Hasen nach, so jagt er den Hasen. Da haben wir zwei Worte, jagen und laufen, die sich ebenso weit voneinander entfernen wie denken und sprechen, und die dennoch zusammenfallen, bis in ihre Bewewegungsdifferentiale.

Der Zweck erzeugt sich das Verbum, die zweckmäßige Menschensprache mit ihren Begriffen und Kategorien erzeugt sich das Denken. Vielleicht ist die hier versuchte Darlegung des Verhältnisses von Denken und Sprechen nicht gar zu ferne von KANTs tiefster Lehre, seiner wahrhaft kopernikanischen Revolution. "Zur Erfahrung wird Verstand erfordert." Und Vernunft. Denn die objektive Welt stammt von unsrer Begriffswelt ab, die eroberte Gedankenwelt von der ererbten Sprache.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906