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FRITZ MAUTHNER
fringe
- Wörterbuch der Philosophie -

"Ich habe das Bild vom fringe übernommen, weil es mir sehr gut die Unbestimmtheit oder das Schweben aller unserer Begriffe oder Worte zu veranschaulichen scheint."

Das englische Wort ist meines Wissens von WILLIAM JAMES zuerst in die Psychologie eingeführt worden; es sollte besagen, daß die Lehre von der Klarheit und Distinktheit unserer Vorstellungen unhaltbar sei, daß jede unserer Vorstellungen im Strome des Bewußtseins von ihren Relationen gefärbt werde. Die amerikanischen Psychologen haben mit ihrem Pragmatismus wohl nur ein neues Wort für eine alte und populäre Weltanschauung gebildet. (Vgl. Art. "Pragmatismus"). Aber um die Psychologie haben sie ein Verdienst, das unser Kontinent, das alte, nur ungern zugesteht: sie haben scholastische Rückstände in den elementarsten Begriffen unserer Psychologie nachgewiesen und so, ohne es ausdrücklich zu sagen, Sprachkritik getrieben. Das Bild vom  fringe  gehört eng zu ihrer Kritik des Bewußtseinsbegriffs.

Ich gebrauche hier das englische Wort, weil die deutsche Übersetzung  Franse  oder  Franje  nicht ganz deutsch ist. Und ein Beispiel dazu für die  fringes  der vermeintlich gleichbedeutenden Worte verschiedener Sprachen.  Fringe  bedeutet im Englischen wohl  Franse;   idiot fringes  ist ganz genau mit  Simpelfransen  oder  Trottelfransen  in Nord- und Süddeutschland zu übersetzen gewesen; aber  fringe  wurde im Englischen auch schon als technischer Ausdruck der Optik für den Hof heller und dunkler Streifen gebraucht, der durch Interferenz des Lichtes erzeugt wird; so konnte JAMES den Bedeutungswandel noch weiter ausdehnen und eben den Hof von Relationen, der jede Vorstellung im Bewußtsein umgibt, die  fringe  dieser Vorstellung nennen; an der entscheidenden Stelle (Seite 164) wird JAMES übrigens wieder unsicher und nennt diesen Hof von Relationen mit einem akustischen Bilde den psychischen Oberton der Vorstellung.

Vielleicht wäre das zur Erklärung herbeigezogene Wort  Hof  besser gewesen; wir sprechen nicht nur von einem Hofe um die Sonne und den Mond, sondern auch von einem Hofe um die Brustwarze; immer meinen wir die Umgebung, welche eine scharfe Begrenzung verhindert; und etwas anderes meinte auch JAMES mit  fringe  nicht. In diesen  fringes  der Vorstellungen finden die sonst unnennbaren Relationen ihre psychische Vertretung.
"Was zugegeben werden muß, ist, daß die  bestimmten  Bilder der traditionellen Psychologie nur den kleinsten Teil unseres tatsächlichen Seelenlebens ausmachen. Die Ansicht der traditionellen Psychologie gleicht derjenigen, wonach ein Fluß lediglich aus so und soviel Löffeln, Krügen, Eimern, Fässern oder sonstigen Gefäßen voll Wasser bestünde. Auch wenn die betreffenden Gefäße alle tatsächlich in dem Strom ständen, würde das freie Wasser doch fortfahren, zwischen ihnen hindurch zu fließen. Gerade dasjenige, was diesem freien Wasser im Bewußtsein entspricht, ist es, was die Psychologen so standhaft übersehen. Jedes bestimmte Bild in unserm Geist, das es umspült, benetzt und gefärbt."
Ich habe das Bild vom  fringe  übernommen, weil es mir sehr gut die Unbestimmtheit oder das Schweben aller unserer Begriffe oder Worte zu veranschaulichen scheint. Die Unbestimmtheit, die die Worte der Sprache zu so schlechten Werkzeugen der Welterkenntnis machte, und zu so guten Mitteln der Poesie und Wortkunst. Und JAMES selbst scheint bei seinen Ausführungen, die an dieser Stelle besonders fein sind, mehr die Worte als unbenannte Vorstellungen im Sinne zu haben. Er nimmt sein bestes Beispiel von dem Zustande, in dem wir uns auf einen vergessenen Namen zu besinnen suchen. Es ist eine Leere vorhanden; aber keine bloße Leere. Will sich uns ein falscher Name aufdrängen, so paßt er in die ganz eigenartig bestimmte Leere nicht hinein und wird verworfen.
"Die Leere, die dem Suchen des einen Wortes entspricht, macht uns nicht denselben Eindruck, wie diejenige, welche einem andern Worte zugehört, so inhaltslos auch die beiden notwendig erscheinen müssen, wenn man sie einfach als Lücken bezeichnet."
So kann das Bewußtsein in jedem Momente von etwas gefärbt werden, was noch gar nicht da ist.
"Man kann annehmen, daß ein gutes Drittel unseres psychischen Lebens aus diesen flüchtigen, kritisch wirksamen Überblicken noch nicht formulierter Gedanken besteht."
Daraus glaubt JAMES es erklären zu können, daß man beim Vorlesen eines unbekannten Buches richtig betont; die Form wenigsten des kommenden Satzes ist schon im Bewußtsein. Man kann sogar richtig betonen, ohne den Sinn des Buches zu verstehen. JAMES versucht diese Theorie durch die drei Gehirnwellen dreier aufeinander folgenden Eindrücke deutlich zu machen: die Welle des ersten Eindrucks ist noch nicht abgelaufen, die Welle des dritten Eindrucks hat schon begonnen, wenn die Welle des zweiten Eindrucks ihren höchsten oder stärksten Punkt erreicht hat. JAMES hält das Bild vom  fringe,  vom  Hof,  vom  Saum,  oder wie immer man es nennen will, für eine genau entsprechende Darstellung auch des physiologischen Gehirnvorgangs.
"Wie das verklingende Wissen des  Woher,  das Bewußtsein des Ausgangspunktes eines geistigen Verlaufs wahrscheinlich beruht auf dem Verzittern der Erregungsprozesse, die nur einen Augenblick vorher in voller Lebendigkeit vorhanden waren, so muß das Bewußtsein des Wohin, die Vorahnung des Endziels bedingt sein durch die anklingende Erregung von Nervenfasern oder Prozessen, deren psychisches Korrelat einen Augenblick später die lebendige Gegenwart unseres Bewußtseins bildet."
Ich glaube, die von JAMES gezeichnete Kurve ist nur ein Bild des Vorgangs, ein ganz schematisches Bild, weil der Vorgang in der psychologischen Wirklichkeit immer viel verwickelter sein wird. Aber das Bild ist anschaulich und brauchbar und läßt sich auf die Unbestimmtheit der Wortbedeutungen übertragen. Gerade in den wichtigsten und reichsten Worten der Sprache gibt es einen ewigen Strom des Bedeutungswandels; die vergangenen Bedeutungen zittern nach, die künftige Bedeutung klingt an, und nur eine fest umrissene gegenwärtige Bedeutung gibt es nicht. Und darum ist der Poet dem Philosophen so überlegen in der Handhabung der Sprache. Diese Wellentheorie ließe sich recht gut verbinden mit der ganz anders entstandenen und vorgestellten Wellentheorie, die JOHANNES SCHMIDT erfunden hat, um den Verlegenheiten der angeblichen Sprachverwandtschaft zu entgehen; auch Volkssprachen befinden sich in einem ewigen Flusse, und in ihren Wortgruppen zittert die Herkunft nach und klingt der neue nationale Geist an, lange bevor die neue Volkssprache ein geschlossenes Ganzes geworden ist.

Doch es würde sich vielleicht empfehlen, die Wellentheorie der  fringes  noch viel weiter auszudehnen: auf die Art, wie aus den Schwingungen der Wirklichkeitswelt die so ganz andern, qualitativ bestimmten Sinneseindrücke entstehen. Wie sich Luftschwingungen zu Tonempfindungen wandeln, die sogenannten Ätherschwingungen zu Farbenempfindungen. Wir haben keine Möglichkeit, den Übergang von den vorausgesetzten mechanischen Schwingungen zu den wahrgenommenen Empfindungen zu begreifen; wir könnten aber einstweilen sagen, daß unsere Sinnesorgane, dazu eingerichtet sind, nicht die einzelnen Schwingungsstöße zu fassen, sondern nur die  Höfe  oder  fringes  dieser Schwingungsstöße, die über den Schwingungsmomenten schweben wie der dauernde Regenbogen über den fallenden und wechselnden Wassertropfen. Mehr als diese Anregung zu einem Gedanken wage ich nicht.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, München und Leipzig 1910