cr-3Die Bedeutung der Suggestion im sozialen Leben 
 
FRITZ MAUTHNER
Abstraktion und Traum
I -30

"Dem Spiel des Lichts auf unzähligen Wassertropfen gleichen die Ideenassoziationen im wachen Zustande wie die im Traume. Im Traume wie im Wachen springt unsere Phantasie von einem Lichtpunkte zum anderen und baut die luftige Brücke des Regenbogens auf goldenen Schüsselchen, die nirgendwo stehen."

Die Sprache ist also die Hauptquelle aller Assoziationen; und sie ist die Quelle aller Assoziationen, also des Gedächtnisses oder des Denkens umso ausschließlicher, je gebildeter du Denken ist, d.h. leider, je allgemeiner, umfassender, abstrakter es ist. Das Kind mag noch mit dem Worte  Apfel  die spezielle Vorstellung eines Himbeerapfels oder eines Borsdorfer Apfels verbinden, und mag darum mit dieser etwas konkreteren Vorstellung den Apfelbaum des Onkels assoziieren und den Tag, an welchem es den Apfel gestohlen hat. Der erwachsene und gebildete Mensch denkt bei Apfel nicht mehr an eine bestimmte Sorte, er wird viel eher geneigt sein, mit dem Worte  Apfel  den Begriff  Obst  oder  Nachtisch  zu assoziieren. Man sieht, die Assoziation des Kindes geht ins Enge, die des gebildeten und wohlhabenden Herrn ins Weite. Das wäre natürlich nur ein geringer Unterschied der Assoziationsrichtung Dazu kommt nun aber, daß der Himbeerapfel oder der Borsdorfer Apfel beim Kinde ein starkes Assoziationszentrum ist, beim erwachsenen gebildeten Herrn ein minimaler Punkt, auf welchen sich nur selten die Aufmerksamkeit richtet. Der gebildete Mann hat es eher mit dem Begriffe Frucht als mit dem Begriffe Apfel zu tun; und je nach seinem Berufe werden noch weit abstraktere Begriffe als Frucht die Zentralstellen seines Denkens sein.

Nun verlangt es aber schon beim Gebrauche des Wortes Frucht eine besondere Ursache, um mit diesem Worte die intensive Vorstellung einer besonderen Fruchtsorte oder gar eines besonderen Fruchtkörpers zu assoziieren. In den allermeisten Fällen wird das Wort Frucht so verwendet werden, wie wir die Sprache überhaupt gebrauchen; wir geben Worte wie Banknoten aus und stellen uns dabei gar nicht die Frage, ob dem Werte der Note im Schatze ein materielles greifbares Unterpfand entspricht. Ich habe dieses alte Bild wohl schon öfter gebraucht. Hier sehen wir jedoch den Leichtsinn des Sprachgebrauchs noch heller beleuchtet. Man sollte glauben, es wäre schon Oberflächlichkeit genug, wenn die Worte flüchtig an die ihnen zu Grunde liegenden Wahrnehmungen erinnerten. Jetzt aber sehen wir, wie die Worte ohne besondere Ursache nicht einmal dies tun, wie die Ideenassoziationen gerade beim erwachsenen Berufsmenschen das Gebiet der Abstraktionen gar nicht verlassen. Achten wir auf ein Gespräch, dessen Mittelpunkt der Fruchtbegriff ist, so ist hundert gegen eins zu wetten, daß die Ideenassoziationen eher zu Fruchtpreisen, zu Fruchtreichtum, zu Fruchteinfuhr und -ausfuhr, zu Fruchtsaft u.s.w. führen werden als zu der Vorstellung eines individuellen Apfels; und dabei gehört Frucht immer noch zu den Begriffen, welche ein Schüler konkret nennen wird.

Je höher das Gedankenleben eines Menschen sich erhebt, je geistiger sein Beruf ist, je abstrakter die Gegend, aus welcher er seinen Wortvorrat holt, desto seltener wird er nach der Gewohnheit menschlichen Denkens auf die unmittelbaren Sinneseindrücke als die letzten Ursachen seiner Begriffe reflektieren, desto sicherer und unbewußter wird er den Luftsprung von Wort zu Wort ausführen, desto ausschließlicher wird seine Gedankenassoziation oder sein Denken von seiner Sprache beherrscht werden. Es ist das freilich nur ein anderer Ausdruck für unsere Überzeugung, daß das menschliche Denken so arm ist wie die menschliche Sprache, nicht arm an Zeichen, doch arm an Wert. In diesem Zusammenhang, hier, wo wir - die Erscheinung der Ideenassoziationen als die Grundlage dessen erkannt haben, was wir je nach unserem Standpunkte bald das Denken, bald die Sprache zu nennen gewöhnt sind, - in diesem Zusammenhange ahnen wir, wie unser Denken oder Sprechen uns, die wir in jedem Augenblicke von unserer engen Aufmerksamkeit getäuscht werden, nicht mehr ist als das Spielen des Sonnenlichtes über den unzähligen Wassertropfen, die vor uns aus einer Regenwolke niederfallen. Jedem Betrachter ordnen sich Millionen Lichtpunkte zu einem anderen schönen und farbigen Regenbogen. Wir können den Regenbogen physikalisch verstehen. Wir können uns des Regenbogens erfreuen. Aber der Regenbogen gehört nicht zur Wirklichkeitswelt.
Es kamen ihrer drei gezogen,
Erblickten einen Regenbogen.
Der erste sprach: "Es hat geregnet,
Ja, meine Felder sind gesegnet."
Der zweite rief. "Wie wonniglich!
Nichts gibt es schöner und nichts bunter!"
Der dritte aber baute sich
Darauf ein Haus und fiel herunter.
Dem Spiel des Lichts auf unzähligen Wassertropfen gleichen die Ideenassoziationen im wachen Zustande wie die im Traume. Im Traume wie im Wachen springt unsere Phantasie von einem Lichtpunkte zum anderen und baut die luftige Brücke des Regenbogens auf goldenen Schüsselchen, die nirgendwo stehen. Von PLATON bis SCHOPENHAUER ist das menschliche Denken oft und oft mit den Träumen der Schlafenden vorglichen worden. Ein Unterschied ist da nur für die gemeine Bedürftigkeit des wachen Menschen. Der Träumende hat recht, wenn er einen Unterschied nicht wahrnimmt. Denn die Ideenassoziation des Traumes unterscheidet sich vom wachen Denken nur dadurch, daß die brutalen Sinne nicht immer wieder die Aufmerksamkeit auf irgend eine Notdurft des Lebens richten, daß die Träume, unter sich zusammenhängend, mit der Wirklichkeit nur noch durch einen dünnen Faden verknüpft sind und höchstens ab und zu durch leise Mitteilungen der schlafenden Sinne neue Anregungen erfahren. Das ist wichtig für die Geschäfte des Gehens und des Essens und des Geldverdienens. Im Traume können wir fliegen, im Traume finden wir goldene Berge. Im Wachen nur stößt uns die Wirklichkeit den rauhen Weg der Notdurft.

Was wir jedoch über die Notdurft des Lebens hinaus unser Denken nennen, das ist wie der Regenbogen ein Spiel des Lichts, ein anderes für jeden Menschen, das ist wie der bunte Teppich der Träume ein Spiel. So fest und sicher die Kreisforrn des Regenbogens subjektiv entsteht, ein anderer Kreisbogen für jeden Betrachter, so fest und sicher assoziieren wir in unserem stolzen Denken die Farbe und die Raumform an den Gegenständen der Wirklichkeitswelt, die Raumform mit der Zeit, und niemand weiß zu sagen, ob die Verbindung des Raums mit der Farbe oder mit der Zeit mehr sei als der ewig wiederkehrende wache Traum der Menschheit. Wohl träumen wir unsere Bilder ohne Worte. Wenn wir Worte träumen, so träumen wir wieder Gehörbilder, so träumen wir Dialoge. Wir träumen wortlos, weil im Traume kein Wollen, kein Interesse, also keine Aufmerksamkeit uns an die Notdurft des Lebens kettet. Wenn wir wachen, so orientieren wir uns an unseren Worten innerhalb unserer gemeinen Interessen. Jenseits dieser Interessen sind die Worte nichts weiter als Träume, weil die Worte allesamt Metaphern sind, Bilder, in denen unsere Vorstellungen wie Mücken durcheinanderschwärmen. Wenn wir einen Ton hoch nennen, so ist uns das Bild so geläufig, daß wir glauben, uns etwas dabei zu denken; aber im Altertum hat man die hohen Töne tief genannt und auch geglaubt, sich etwas dabei zu denken. Die Sprache ißt Ideenassoziation, und die Sprache ist metaphorisch. Der Traum ist Ideenassoziation, und der Traum schenkt uns eitel Bilder.

So ist die Sprache der ewige Traum der Menschheit, den wir für bedeutungsvoll halten, weil er bei jedem Erwachen wiederkehrt und die gleichen Bilder vorführt. Wir müssen uns befreien vom Aberglauben an die Sprache, wie wir uns befreit haben vom Glauben an die Bedeutung der Träume. Es gibt Traumbücher für abergläubische Bettler, und der Verfasser eines philosophischen Werkes ist geneigt, in einem Traumbuche etwas zu sehen, was mit seinem eigenen Werke so wenig zu schaffen hat wie eine Seifenblase mit einer Pyramide. Ich aber fürchte: wenn man absieht von den Diensten, welche die Sprache der Notdurft erweist, ist die Sprache das Traumbuch der armen wortgläubigen Menschheit. Wir haben uns gewöhnt, die Ideenassoziationen des ewig wiederkehrenden Tagestraumes in Worten zu ordnen, weil wir sie im Gedächtnisse behalten wollten. Wir haben unser Gedächtnis durch den Gebrauch der Worte bis zum vermeintlichen Denken gesteigert; und weil wir Worte haben, so glauben wir an sie. Aber nur gebunden an die Worte sind die Assoziationen, nur noch unfreier sind sie geworden durch das Gebundensein. Dann hat man gar die Sprache durch Schrift und Druck noch fester gebunden als durch den Sprachgebrauch und hat geglaubt, noch weiter gekommen zu sein im Denken.

Jawohl, bis an die Sterne weit. Wie viel Menschen in Berlin wohnen und wie viel Häuser da stehen, und wie viel Zentner Mehl und Fleisch es im Jahre verbraucht, nur daßs wissen wir besser durch Schrift und Druck, als es möglich wäre durch die Sprache von Mund zu Mund. Vollends unfrei aber ist durch Schrift und Druck geworden, was von den Assoziationen unserer Vorstellungen schon durch die Bindung an das Wort unfrei geworden war. So belasten alle künstlichen Mittel unseres Gedächtnisses diese Fähigkeit nur, anstatt sie zu bereichern. Eine Befreiung aus dieser Unfreiheit gibt es nicht. Und selbst diese unsere Einsicht in die ernstliche Traumhaftigkeit unseres Denkens ist keine Rettung aus der Nacht in den Tag oder aber aus dem Tagestraum in die nachtwandlerische Sicherheit des Schlaftraums, sondern nur eine vorübergehende Erlösung von dem Alp des Denkens, wie wohl mancher Träumer, inmitten der Angst eines geträumten Schreckens, plötzlich in halbem Erwachen zu sich selber spricht: sei ruhig, es ist alles nicht wirklich.

Man würde die Sprache nicht so überschätzt haben, wenn man diese menschliche Äußerung nicht für ein untergeordnetes Werkzeug eines viel höheren Organs gehalten hätte, des Denkens, und wenn nicht das Denken wieder für eine Erscheinungsform einer noch höheren Seifenblase genommen worden wäre, der man darum geradezu göttliche Ehren erweisen mußte. Diese höhere Blase ist das sogenannte Bewußtsein. Sieht man sich dieses Bewußtsein genau daraufhin an, so bleibt nichts übrig als die Tatsache der Erinnerung. Mensch und Tier, ganz gewiß auch die Pflanze, da sie sonst nicht ein Organismus geworden wäre, haben ein Organ der Erinnerung. Diese Erinnerung kann gar nichts anderes sein als die verhältnismäßig dauernde Wirkung der momentanen Sinneseindrücke. Diese Wirkung müßte für bessere Apparate, als wir sie haben, materiell nachweisbar sein. Das Denken, das Bewußtsein, die Sprache, das Gedächtnis, oder wie man sonst die Funktion des Gehirns nennen mag, ist der ungeheure Speicher der Erinnerung. Nur daß dieser Speicher die einzelnen Beiträge nicht mechanisch unterbringen kann, sondern wie in der Buchhaltung eines Weltspeichergeschäfts sich mit einer Art von Giro- und Scheckverkehr begnügt. Die unzähligen Sinneseindrücke wurden auf eine beschränkte Anzahl von Namen gebucht, von Firmen, die miteinander in Verkehr stehen: von Worten.

Etwas näher kommt man diesem komplizierten Institut eines Erinnerungsspeichers vielleicht durch einen anderen Vergleich. An das Berliner Telephonnetz sind ungefähr so viele Firmen angeschlossen, als der weiteste Weltkopf Wörter zur Verfügung hat. Bei der gegenwärtigen Einrichtung muß freilich das Fräulein im Amte das Beste tun, wie der alte liebe Gott beim alten lieben Okkasionalismus (Lehre von den gelegentlichen Ursachen). Nun wäre aber eine Reihe unendlich empfindlicher Apparate denkbar, die automatisch die Blase Selbstbewußtsein im Telephonnetz herstellt. Ich denke mir das so. Im Amt I wohnt mein einziger Drucker, mit dem ich immer Ärger habe. Drücke ich nun, unbewußt vor Zorn heftig, auf den Knopf, so wird automatisch Herr A in Amt I angerufen. Bei Amt II ist der einzige Onkel B angeschlossen, bei dem ich schläfrig nach seinem Befinden anfragen will. Der schläfrige Druck löst Amt II aus und verbindet mich dort mit meinem Korrespondenten Herrn B u.s.w. Bei Amt VI suche ich jedesmal nur den einzigen Freund C und berühre ungeduldig den Knopf zweimal, was wieder durch Gewöhnung des Apparate an diesen feinen Unterschied automatisch Amt VI bei C auslöst. Wiederholen sich solche Nüancen bei allen 20 000 Teilnehmern, so können im ganzen Telephonnetz hunderttausend von Kombinationen entstehen, die ohne Mithilfe des lieben Gottes, der Seele oder des Telephonfräulein arbeiten. Die gelehrte Psychologie würde es Gedankenassoziation nennen.

Mein geschickter Mechaniker, dem diese automatischen Kunststücke gelungen sind, würde nun noch weiter gehen. Ich müßte gar nicht an den Apparat herantreten. Ein lautes Diktieren wird meinen Drucker in Amt I, ein heftiges Gähnen meinen Onkel in Amt II und ein tiefer Seufzer meinen Freund in Amt VI rufen und ihn zu einer Reaktion veranlassen. Zum Beispiel wird beim Drucker eine neue Druckmaschine das laut Diktierte automatisch setzen, der Onkel wird zurückgähnen und der Freund wird meinen Seufzer zurückseufzen. Tritt zu dieser selbsttätigen Gedankenbewegung nun noch ein Kontrollapparat, der alle Schwingungen der elektrischen Leitungen, die im lebendigen Körper Nerven heißen, phonographisch so registriert, daß die Kurbel des Phonographen sich auf einen Reiz hin in Bewegung setzt und alles so lange herunterleiert, bis ich ihm befriedigt einen Stoß gebe; dann besitzt das Telephonnetz in der Tat einen selbsttätigen Denkprozeß, die dazu nötige Sprache, die Erinnerung in der üblichen Form der Schrift, und man kann ihm ehrlicherweise auch Selbstbewußtsein nicht absprechen.

Das Merkwürdige ist nur, daß dieses Wunder der Technik von unseren unerhört klugen Ingenieuren noch nicht erfunden worden ist, während die dumme Natur es in jedem lebendigen Organismus geschaffen hat. Wer daraus schließen wollte, der Organismus der Sprache sei ein rein mechanisches Kunstwerk, der wäre ein abergläubiger Materialist und würde immer wieder da enden, wo der moderne liebe Gott als Musterschüler eines Polytechnikums zu finden ist. BELL und EDISON sind keine Götter und die Telephonfräulein sind keine immateriellen Seelen. Wir verstehen das Geheimnis der Erinnerung oder des Denkens oder der Sprache eben nur nicht, wie wir auch andere Geheimnisse der Organismen nicht verstehen. Was wir mit den groben Zangen der Sprache nicht fassen können, das bleibt für uns unfaßbar.

Seit Jahren und lange vor EDUARD von HARTMANN ist gesagt worden, daß das Gedächtnis von unbewußten Vorstellungen geleitet werde. Die einfache Tatsache, daß der Schläfer von selbst in der Stunde aufwacht, zu der er aufstehen wollte, mußte auf die Beobachtung eines Vorganges führen, welcher übrigens nicht die Ausnahme, sondern nur die Regel ist.

Hier, wo das Bewußtsein nur ein flausenhafter anderer Ausdruck für Gedächtnis ist, braucht das "Unbewußte" gar nicht besonders genannt zu worden. Was augenblicklich nicht im Blickfeld des Gedächtnisses ist, ist eben zur selben Zeit nicht im Bewußtsein; also von allen unseren unzähligen Vorstellungen ist immer nur eine oder eine Gruppe bewußt, alle anderen schweben im "Unbewußten"; was aber ebensowenig merkwürdig ist, als daß ein Esser immer nur einen Bissen auf einmal im Munde hat. Ein zweiter Bissen ist bereits im Magen, ein dritter auf der Gabel, ein vierter wird beliebäugelt und die Hauptmasse liegt in der Schüssel.

Viel merkwürdiger ist es aber, und doch auch eine ganz alltägliche Tatsache, daß unsere Gabel des Gedächtnisses auf eine bestimmte Zeit, wie durch ein Uhrwerk, eingestellt werden kann. Die Beispiele lassen sich hundertfältig aufzählen.

Ich schließe ein Buch und merke mir die Seitenzahl, da ich kein Eselsohr machen will; bis zum nächsten öffnen des Buches, also ein paar Stunden oder Tage, merke ich mir die Ziffer durch alle Ablenkungen des Lebens hindurch; habe ich aber die Seite wieder aufgeschlagen, ist die Ziffer bald für immer vergessen.

Ich gehe baden und merke mir ganz ohne Anstrengung die Nummer meiner Kabine; ich finde sie gedankenlos wieder und habe sofort die Nummer vergessen, nachdem das Gedächtnis seinen Dienst getan hat.

Ich bin auf der Straßenbahn abonniert und weiß meine Nummer, eine vier- oder fünfstellige Zahl. Im nächsten Vierteljahr erhalte ich meine neue Nummer; nach kurzer Zeit ist die alte vergessen, die ich ein Vierteljahr mechanisch eingeübt hatte.

Dahin gehört auch der häufige Fall, daß ein Kind für eine Schulprüfung sehr rasch ein Gedicht auswendig lernt, die Sache auch zur Stunde gut aufzusagen weiß, sie aber nachher sofort wieder vergißt.

Wollte ich nicht ganz ehrlich sein, so würde ich zur Erklärung von der hygienischen Notwendigeit des Vergessens und von der Macht des Bedürfnisses über die Seele reden. Davon später. Die Frage liegt hier etwas anders: Da es außer dem Gedächtnisse keine Seele, kein Bewußtsein gibt, da das Gedächtnis auch nichts ist als ein Wortzeichen eben für die Fülle von Wortzeichen, so möchten wir wissen, wer oder was unser Gedächtnis in solchen Fällen so lange und  nur  gerade so lange in Spannung hält, als wir es  brauchen. 

Vor allem ist da auf kleine Selbsttäuschungen aufmerksam zu machen. Erstens geschieht das Merken für kurze Zeit nicht so plötzlich, wie es scheint. Wie der Knabe vor der Prüfung sein Gedicht (oder der Schauspieler seine allzu rasch gelernte Rolle) immer wieder halb bewußt wiederholt, so mögen wir auch - je nach der Wichtigkeit der Sache die Nummern oder Ziffern öfter wiederholen und so gewissermaßen nicht auswendig lernen, sondern uns gegenwärtig halten. So daß sie eben nicht mehr gemerkt wird, wenn das Unbewußt-gegenwärtig-halten aufhört. Ich habe mich öfter darauf ertappt, solche erledigte Zifferworte noch festgehalten zu haben, aus Zerstreutheit. Bemerkt man es, so wirft man das Wort aus seinem Gedächtnisse (es sind außer Ziffern sehr häufig Namen, Straßennummern, die Adressen von Bekannten), wie man ein benutztes Pferdebahnbillett fortwirft. Oder noch besser: wie man in der Theatergarderobe die Nummer gegen seinen Überrock austauscht.

Zweitens aber glauben wir das Wort nach der Benutzungsfrist sofort zu vergessen, weil wir niemals mehr darauf zurückkommen, weil wir aufhören, es täglich oder stündlich einzuüben. Mit der Zeit entschwindet es auch für immer. Ich weiß heute nicht einmal mehr, welche Zimmernummer ich vor Jahren in Fonterossa hatte. Aber wenn ein Zufall uns z.B. zum Umkehren in die Badekabine zwingen würde, so fänden wir die Nummer wohl nach einiger Zeit im Gedächtnisse vor. Ich ließ einmal eine Droschke am Bahnhof warten; halb bewußt merkte ich mir (für wenige Minuten) die (vierstellige) Nummer. Einige Stunden darauf hieß es: die Droschke wiederfinden. Es war etwas darin vergessen worden. Ich hielt es zuerst für unmöglich, mich auf die Ziffer zu besinnen, endlich aber gelang es doch.

Zieht man also diese Selbsttäuschungen ab, so bleibt keine andere Schwierigkeit übrig als die alles Lebens: wie ist es möglich, daß ein Organismus existiert, daß so ein Automat sich selbst bildet und gewöhnlich seinem Nutzen gemäß arbeitet? Wie der Magen und das Herz und die Galle, so arbeitet auch das Gehirn "zweckmäßig" für den Nutzen des Ganzen. Das ist das Geheimnis des Bewußtseins und wir erschweren es uns dadurch, daß wir in der Sucht nach Personifikationen das Produkt des Gehirnes mit dem Götternamen Gedächtnis belegt haben, daß wir für die Einheit und den Zusammenhang der Vorstellungen den anderen Götternamen Seele haben, und nun - anstatt uns über das Phänomen des Lebens ein für allemal satt zu wundern - über jede Verwandtschaft zwischen Seele und Gedächtnis aufs neue in Verwunderung geraten. Nicht daß "Hand" auf französisch "main" heißt, ist merkwürdig, sondern die wirkliche Hand ist wunderbar.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906