cr-4F. BrentanoA. Marty    
 
ANTON MARTY
Martys Leben und Werke
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"Ich überlasse es der Geschichte, zu urteilen, ob ich in meinen publizierten Arbeiten und in dem langjährigen wissenschaftlichen Briefwechsel zwischen Professor Brentano und mir, bloß ein Hinnehmender oder auch ein Prüfender, und ob und in welchem Maße auch selbst ein die Forschung fördernder war; und was den Unterricht betrifft, so war ich stets bestrebt, meine Schüler zu selbständigem Denken anzuleiten, und derjenige war mir der Liebste, der nichts autorativ hinnahm, sondern für alles nach Gründen fragte, der mir die meisten und treffendsten Einwände brachte und nicht ruhte, bis ihm alles zur Evidenz geklärt war."

"Freunde der echten Philosophie und des echten Philosophierens ... Ich sage des echten Philosophierens. Denn es gibt ja und gab zu jeder Zeit auch Imitationen - eine Mimikry - der Philosophie, und wir finden etwas derart schon in der alten griechischen Zeit, wo die Sophisten an die Stelle aufrichtiger Wahrheitsforschung rhetorisch-dialektische Künste setzen und sich aufgefordert fühlten für Jegliches, ja auch für Entgegengesetztes gleich glaubhafte Begründungen zu liefern."

I. MARTIN ANTON MAURUS MARTY ist geboren in Schwyz in der Schweiz am 18. Oktober 1847 als neuntes Kind des JAKOB JOSEF ALOIS MARTY und der ELISABETHA REICHLIN aus Steinerberg.

Die Familie MARTY war nicht begütert, erfreute sich aber eines vortrefflichen Rufes. Der Vater war als SIGRIST MARTY im Kanton wohlgelitten; er war frommen und dem Ewigen und Jenseitigen zugewandten Sinnes, unpraktisch in weltlichen Dingen, daher leicht zu übervorteilen; wiewohl er ein kluger und durchaus nicht unwissender Mann war.

Die Mutter war heiteren Temperaments und weltgewandt.

Dieser Ehe entsprossen elf Kinder; darunter vier Söhne, die sich dem geistlichen Stand widmeten.

Der älteste MARTIN ALOIS starb 1896 als Bischof von St. Cloud in Nordamerika, nachdem er lange Jahre als "Apostel der sieben Ratsfeuer" unter den Sioux-Indianern in Dakota als Missionar gewirkt hatte.

Der zweite der Brüder Monsignore JOHANN BAPTIST MARTY starb als Kaplan der Schweizergarde und Geheimkämmerer von Papst LEO XIII. im Jahr 1901.

Der jüngste, allein noch überlebende Bruder MARTIN ist Pfarrer und Camerarius in Schwyz; über die Kindheit seines Bruders ANTON befragt, schrieb er mir:
    "Vorderhand kann ich IHnen nur sagen, daß mein lieber Bruder selig von der ersten Stunde seines Lebens ein schwächliches Kind war. Dafür war er aber ein umso gelehrigerer und strebsamer Schüler der Primarschule und später am Gymnasium im hiesigen Kollegium und an der Stiftsschule in Einsiedeln. Er glänzte allerzeit als der erste seiner Klasse."
Die Hauptzüge seines späteren Wesens und Charakters zeigten sich schon in seinem Knabenalter. Von der robusten, kampffrohen Natur der Schweizer und auch von ihrem Geschäftsgeist hatte er wenig oder nichts. Wie mir sein Bruder erzählte, beteiligte er sich selten an den Raufereien der Dorfjugend und wenn einmal, so fiel seine Teilnahme nicht unter die Kategorie des poiein [machen - wp], sondern des paschein [leiden - wp]. Auch sein Halstuch war eine bei seinen Altersgenossen rare Erscheinung. Mit einem Wort: seine zarte Gesundheit hat auch den Grund gelegt zu seiner späteren Hypochondrie. Ebenso trat seine übergroße Gewissenhaftigkeit, sein unstillbarer Wissensdrang und seine Leidenschaft für ein einsames, beschauliches Leben frühzeitig auf.

In ersterer Hinsicht machte er, wie er selbst berichtet, den guten patres in Einsiedeln, an denen sein Herz bis zuletzt in Liebe hing, große Sorgen. Besonders die Gewissenserforschung vor und nach der Beichte versetzte ihn in ungeheure Aufregung. An den betreffenden Tagen suchte er oft mehrmals nacheinen seinen Beichtvater auf, ehe er sich zur Kommunion entschloß. "Büble, du solltes etwas leichtsinniger sein", ermahnte ihn einer dieser gewiß nichts weniger als leichtsinnigen Männer. Offenbar waren aber nicht alle von denen, die sich um sein seelisches Wohl zu kümmern hatten, gleich einsichtig, denn es geschah zu wenig, um ihn vor allzu großen Gewissensskrupeln und Selbstpeinigung zu bewahren. Es ist eine psychologische Tatsache, daß gerade die reinen Seelen, eben wegen ihrer Empfindlichkeit, leicht unter Gewissensbedenken leiden, und, wenn nun gar hinter der vermeintlichen Schuld die ewige Strafe droht, wird einem zart besaiteten Gemüt die Hölle auf Erden bereitet.

Nich minder ungewöhnlich war sein Lesedrang und sein Verlangen nach einem rein betrachtenden Dasein. Nötigte ihn der jüngere, aber ungleich stärkere Bruder allzufrüh das Buch zuzuklappen und das gemeinsame Bett aufzusuchen, so vermochte der Arme bittere Tränen zu vergießen.

Eine holzschnittgezierte Ausgabe des Orbis pictus nach COMENIUS aus dem Jahr 1833 in deutscher, lateinischer und französischer Sprache war die Lieblingslektüre des kleinen ANTON. Mit sehnsuchtsvollem Interesse las er besonders das Kapitel "Die Universität", und das Bild des unter einem Baldachin dozierenden Professors war ihm eine unerreichbare Idealgestalt. Secundo loco [an zweiter Stelle - wp] kam jedoch gleich der Weber, dessen Gewerbe ihm darum so sympathisch war, weil es mit einer sitzenden Lebensweise die Möglichkeit ungestörter Betrachtung zu verbürgen und weniger utopisch schien. Jener dreisprachige Orbis pictus hat auch MARTYs Sprachkenntnisse gefördert. Und sein Sprachentalent war außerordentlich; sein feines Sprachgefühl ließ ihm auch ohne besondere Präparationen die richtigen Formen zufließen. Er verstand gute Verse zu machen, war daher einer der besten im Lehrgegenstand "Poesie", dabei auch musikalisch veranlagt, was mit seinen linguistischen Talenten in günstiger Wechselwirkung stand. Seit jeher gehörte das Rätselraten zu den Lieblingsbeschäftigungen seiner Mußestunden, offenbar darum, weil hier die mannigfache Bedeutung der Worte seinem Sprachsinn wie auch seinem Scharfsinn einen willkommenen Spielraum bot; und gewiß hat die reizvolle Sprache der Rätsel mit dazu beigetragen, sein Interesse für das noch reizvollere Rätsel der Sprache zu wecken, dem seine Lebensarbeit dereinst gewidmet sein sollte.

Von der Stiftsschule in Einsiedeln kam er an das Seminar in Mainz. Namen, die ich ihn oft nennen hörte, sind die des berühmten Bischofs KETTELER, dann MOUFANG und HEINRICH.

1867 verfaßt er in Mainz seine Preisarbeit: "Die Lehre des hl. Thomas über die Abstraktion der übersinnlichen Ideen aus den sinnlichen Bildern nebst Darstellung und Kritik der übrigen Erkenntnistheorien." Das schön geschriebene Heft widmet mehr als die Hälfte der 300 Seiten den Erkenntnistheorien vom Altertum bis auf die Neuzeit. Bereits in dieser Jugendarbeit zitiert er neben TRENDELENBURG den ihm persönlich noch unbekannten BRENTANO. Von BRENTANO war damals die 1862 verfaßte Schrift über "die mannigfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles" erschienen. BRENTANOs Werk "Die Psychologie des Aristoteles" erschien erst 1867, also im selben Jahr wie die Preisarbeit MARTYs geschrieben wurde.

Die Schrift über die mannigfache Bedeutung des Seienden, in der BRENTANO die scheinbar ungeordnete und willkürliche Kategorientafel des ARISTOTELES ableitet und in ihren Grundgedanken aufdeckt, findet die Zustimmung seines künftigen Schülers MARTY. Das Studium dieses Werkes nämlich ließ in MARTY den sehnlichen Wunsch rege werden, bei BRENTANO, der in Würzburg lehrte, zu hören. Nachdem er jedoch inzwischen das Seminar verlassen hatte, sollte er nun über Beschluß seiner geistlichen Oberen nach Münster gehen. Auf der Reise dorthin - er hatte inzwischen 1869 die niederen Weihen empfangen - kehrt er in Mainz ein, um seine ehemaligen Lehrer zu besuchen. Diese raten ihm dringend zu BRENTANO zu gehen und schreiben in diesem Sinne an seinen Bischof; inzwischen bleibt er in Mainz und nach Erlangen der zustimmenden Antwort geht er freudigen Herzens nach Würzburg.

Als MARTY nach Würzburg kam, lehrte BRENTANO noch als Privatdozent; er las gerade Geschichte der Philosophie. "Eine neue Welt geht in mir auf", mit diesen Worten charakterisieren die oft nur schlagwortartigen Tagebuchblätter den Eindruck, den BRENTANOs Vorlesungen auf den jungen Philosophen und Theologen machten. BRENTANO war damals selbst noch gläubig und trug das geistliche Gewand. Unter seinen zahlreichen Hörern befand sich auch CARL STUMPF, mit dem MARTY alsbald bekannt wurde und Freundschaft schloß. Bald wird auch BRENTANO selbst auf den fleißigen Zuhörer aufmerksam, erkennt sein hervorragendes Talent und in kürzester Zeit umschlingt ein inniges Band Lehrer und Schüler. Die Berührung mit BRENTANO leitet eine neue Epoche in MARTYs Leben ein. Es war nicht bloß der Inhalt, es war vor allem die Methode seines Philosophierens, die BRENTANOs Hörern eine neue Welt erschloß. Schon anläßlich seiner Habilitation im Jahr 1866 hatte BRENTANO die These verteidigt: Vera philosophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est. "Die wahre Methode der Philosophie ist die der Naturwissenschaften." "Diese These und was damit zusammenhängt", schrieb im Jahr 1892 Geheimrat STUMPF an BRENTANO, "war es auch, die Marty und mich mit Begeisterung an Ihre Fahne fesselte." Unter naturwissenschaftlicher Methode verstand aber BRENTANO nicht etwa eine handwerksmäßige Übertragung der naturwissenschaftlichen Verfahrensweise und eine bloße Nachäffung gewisser Hantierungen, sondern eine solche Verbindung von Induktion und Deduktion, von Vernunfts- und Erfahrungsprinzipien, die sich jeweilig ihrem Gegenstand anpaßt und nicht etwa wähnt, mit dem Mikroskop der Seele oder mit einem Fernrohr dem Urgrund der Welt näher zu kommen. Andererseits verband BRENTANO mit dem hohen Respekt vor den Naturwissenschaften und ihrer Methode die eindringliche Warnung vor solchen Naturforschern, die sich dilettantische Übergriffe in geistige Gebiete erlauben, und bei denen das Vertrauen in die naturwissenschaftliche Methode sich in ein Vertrauen auf sich selbst verkehrt, so daß ihnen jeder Einfall eine gesicherte These wird, während sie in Wirklichkeit in dem Augenblick, wo sie das Gebiet der Geisteswissenschaften betreten, den Boden unter ihren Füßen verlieren. Selbstverständlich war es aber auch das Inhaltliche von BRENTANOs Lehre und hier insbesondere seine Psychologie vom empirischen Standpunkt, die neben seinen historischen Leistungen auf seine Hörer den größten Eindruck machte. Und hier wiederum war es die für die Logik so bedeutsame "idiogenetische" Urteilslehre BRENTANOs und seine Klassifikation der psychischen Phänomene überhaupt, die für die wissenschaftliche Entwicklung MARTYs richtunggebend wurde.

MARTY wurde nun im Jahr 1869 mit 22 Jahren als Professor für Philosophie an das Schwyzer Lyzeum berufen, empfing die höheren Weihen und im Herbst 1870 las er zum ersten Mal die Messe.

Im Jahre 1872 wird BRENTANO zum Professor der Philosophie in Würzburg ernannt. Aber schon 1873 legt er die Professur nieder. Die Voraussetzungen, unter denen er sie erhalten hatte, waren nicht mehr gegeben. Er hatte aufgehört ein gläubiger Katholik zu sein.

Das Unfehlbarkeitsdogma hatte zu diesem Umschwung Anstoß gegeben. Bekanntlich haben damals viele hervorragende Katholiken, ja eine ganze Reihe Bischöfe gegen die geplante Verkündigung des Infallibilitätsdogmas protestiert. Während aber selbst Bischof KETTELER sich den vollzogenen Tatsachen unterwarf, DÖLLINGER an der Begründung des Altkatholizismus sein Genügen fand, sah BRENTANO sich zu einer Überprüfung der gesamten Grundlagen seiner bisherigen religiösen Überzeugungen gedrängt und gelangte zu ihrer Ablehnung. Er legte das geistliche Gewand ab.

Durch diesen Schritt seines geliebten Lehrers wurde MARTY in tiefster Seele schmerzlich ergriffen und erschüttert. BRENTANO hatte von seinen Zweifeln niemals mit ihm gesprochen, auch brieflich nicht. Nun aber wandte sich MARTYs kritischer Geist diesem Gebiet zu, von dem er sich bisher in ehrfürchtiger Scheu zurückgezogen hatte. Das Resultat war das Gleiche wie bei BRENTANO. Das Tagebuch meldet lakonisch: "Meine Überzeugung erfährt einen Wandel." Auch er legt seine Stelle nieder und verläßt eiligst, nahezu mittellos und zunächst auch ohne jede Aussicht auf einen Broterwerb, sein Heimatland.

Er wandte sich nach Göttingen, um bei LOTZE zu promovieren. Als Dissertation diente der historische Teil eines Werkes über den Ursprung der Sprache. Geprüft wurde er von LOTZE und von WILHELM WEBER. Die einstündige Prüfung aus Physik trug ihm die Note 1 ein. Bei LOTZE entsprach er eminenter und LOTZE rühmte am nächsten Tat seinen Kandidaten, der einmal ordentlich Griechisch gekonnt habe. Er hatte ihn ARISTOTELES' De anima interpretieren lassen.

Inzwischen war BRENTANO unter dem Ministerium von STREMAYR nach Wien berufen worden und ihm gelang es, MARTY, dessen "Ursprung der Sprache" inzwischen 1875 erschienen war, an die neubegründete Universität CZERNOWITZ mit Erfolg zu empfehlen. MARTY reist über Wien und Krakau nach Lemberg. Sein Tagebuch berichtet:
    "Ich empfing zum ersten Mal Eindrücke und sah Dinge, die ich früher nie gesehen hatte, und zwar wachsend fremdartig und fremdartiger; ich weiß noch, wie ich die elenden Hütten gesehen habe, die man dort Panenhäuser (= Herrenhäuser) nennt und die so abstechend von den Schweizer Bauernhäusern. Ich klammerte mich daran, daß man sagte, in der Bukowina sei es besser; aber als ich die bukowinaer Grenze überschritt, sahen die Bauernhäuser gerade so aus, wie in Galizien."
Trotz der Fremdartigkeit der neuen Umgebung war MARTY glücklich, in Czernowitz ungestört seiner Wissenschaft leben zu können.

Die Ferien verlebte er gemeinschaftlich und auf gemeinschaftlichen Reisen mit BRENTANO. Eine italienische Reise vermittelte ihm künstlerische Eindrücke, von denen zahlreiche Notizen ein begeistertes Zeugnis ablegen. Es war die glücklichste Zeit seines Lebens.

Nachdem 1879 sein Buch über die Entwicklung des Farbensinns erschiedenen war, erfolgte 1880 seine Berufung nach Prag. Der Vorschlag lautete primo loco EUCKEN, secundo loco MARTY, tertio loco ELIAS MÜLLER. Seine Czernowitzer Hörer lassen bei dem überaus herzlichen Abschied das Lied von den Prager Studenten ertönen. Seine Antrittsvorlesung hält er über die Philosophie KANTs.

Ein Teil des Jahres 1880 ist dem neuerlichen prüfenden Studium von KANTs "Kritik der reinen Vernunft" gewidmet, diesmal gemeinschaftlich mit BRENTANO, der inzwischen auch auf die Wiener Professur verzichtet hatte. Die folgenden Jahre sind ausgefüllt mit intensiver wissenschaftlicher und schriftstellerischer Tätigkeit. Außerdem zieht sein Vortrag, der sich auf alle Gebiete der Philosophie erstreckt, eine immer steigende Zahl von Hörern aller Fakultäten an. Im Jahr 1890 ist er Dekan der philosophischen Fakultät. An äußeren Erfolgen bringt ihm das Jahr 1894 einen primo loco Vorschlag der Wiener Universität für die neu zu errichtende III. Lehrkanzel. An zweiter Stelle wurde JODL, an dritter WINDELBAND namhaft gemacht. Für die II. Professur hatte die Fakultät, wie fast alljährlich, unico loco BRENTANO genannt. Da dieser Vorschlag auch diesmal unberücksichtigt bleibt, verläßt BRENTANO Wien, an dessen Uniersität er mit beispiellosem Erfolg durch 14 Jahr als Privatdozent gewirkt hatte. An seiner Statt wird der Physiker ERNST MACH zum Professor der Philosophie, insbesondere für Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften ernannt. Im folgte später BOLTZMANN. Allein auch der Vorschlag MARTYs wurde nicht berücksichtigt. Minister MADEYSKI erklärte, MARTYs Berufung nach Wien scheitert an seiner Vergangenheit; er - der Minister - müsse auf Imponderabilien [Unwägbarkeiten - wp] Rücksicht nehmen. So wurde dann FRIEDRICH JODL, der bisher neben MARTY in Prag gewirkt hatte, berufen. Diese Besetzungsangelegenheit fand ihren Abschluß, indem der Theologe LAURENZ MÜLLNER der Wiener philosophischen Fakultät zugeteilt wurde. Von MARTYs Hörern wurde alle diese Begebenheiten zum Anlaß genommen, um ihm wiederholt stürmische Ovationen zu bereiten. Darauf folgte die Wahl MARTYs zum Rektor. Diese von allen vier Fakultäten einstimmig dargebrachte Vertrauenskundgebung erfüllte ihn mit dankbarer Genugtuung. Es war das letzte freundliche Ereignis seines Lebens, das ihm von nun an nur allzuviel Kummer und Enttäuschungen bringen sollte.

Die Fäden, die ihn mit der Heimat verbanden, waren einer nach dem andern von der Hand der Parzen [römische Schicksalsgöttinnen - wp] durchschnitten worden. Sein Vater war lange tot. Seine Mutter war im Jahr 1888 gestorben. Von seinen Geschwistern war ihm schließlich nur noch der jüngste Bruder geblieben. Er beklagt die Abberufung manches lieben Kollegen nach anderen Universitäten und den Tod seines Freundes JUNG. Der Kreis jener Männer, die sein Wesen und sein Wirken zu würdigen wußten, wird immer kleiner.

Zunehmende Kränklichkeit liegt ihm Rücktrittsgedanken nahe. Durch die Habilitation einiger seiner Schüler hofft er, dafür sorgen zu können, daß ihn die Methode und die Richtung seines Forschens und Denkens überdauert. Die folgenden Jahre steigert sich womöglich noch die Intensität seiner Tätigkeit; nicht nur den ganzen Tag, auch die oft schlaflosen Nächte hindurch beschäftigten ihn philosophische Probleme.

Wenn ich noch eines freudigen Augenblicks gedenken soll, so ist es die Nachricht von der einstimmigen Wahl BRENTANOs zum korrespondierenden Mitglied der Berliner Akademie im Jahre 1914. Gewisse Versuche, die Bedeutung BRENTANOs und seiner Richtung durch den Hinweis auf die angebliche Unbekanntheit BRENTANOs in Deutschland herabzudrücken, wurden dadurch in schöner Weise illustriert.

Im Jahr 1909 starb der Professor der Philosophie in Innsbruck EMIL ARLETH. MARTY hielt ihm, der früher in Prag gelehrt hatte, in der deutschen Gesellschaft für Altertumskunde einen Nachruf und sagte bei dieser Gelegenheit:
    "Aber wenn Professor Arleths Geschick so in mannigfacher Hinsicht ein recht tragisches zu nennen ist, so ist ihm doch eine schmerzliche Erfahrung erspart geblieben, auf die sich der wissenschaftliche Forscher, und wie die Geschichte zeigt, insbesondere der Philosoph auch gefaßt machen muß, ich meine das Los der gänzlichen Verkennung seines verdienstlichen Wirkens."
Ob MARTY Erfahrungen dieser Art erspart geblieben sind? Die Antwort ergeben seine Aufzeichnungen. Im Jahr 1911 schreibt er:
    "Ich überlasse es also der Geschichte, zu urteilen, ob ich in meinen publizierten Arbeiten und in dem langjährigen wissenschaftlichen Briefwechsel zwischen Professor Brentano und mir, bloß ein Hinnehmender oder auch ein Prüfender, und ob und in welchem Maße auch selbst ein die Forschung fördernder war; und was den Unterricht betrifft, so war ich stets bestrebt, meine Schüler zu selbständigem Denken anzuleiten, und derjenige war mir der Liebste, der nichts autorativ hinnahm, sondern für alles nach Gründen fragte, der mir die meisten und treffendsten Einwände brachte und nicht ruhte, bis ihm alles zur Evidenz geklärt war."
Wie es also scheint, hat sowohl seine Forscher- als auch seine Lehrtätigkeit ungerechte Angriffe erdulden müssen. Und weiter heißt es in diesen Betrachtungen:
    "Meine einzige Diplomatie war, persönliche Niederlagen und Demütigungen gering anzuschlagen und nur das unter den Umständen Mögliche anzustreben."
Dazu die Worte: "Man muß pflügen auch bei dunklem Wetter und pflügen, pflügen!" Und noch im Jahr 1913 - also in dem Jahr, wo er von seinem Lehramt zurücktrat -, schreibt er in sein Tagebuch:
    "Die einzige Pflicht, die man solchen Erlebnissen gegenüber hat, ist, sich durch derartige Mißhandlungen nicht in der Ruhe zur meditatio aeterni beeinträchtigen zu lassen" ... "Arbeiten und nicht verzweifeln. Arbeiten versetzt den Menschen in eine gewisse Harmonie, ist ein Läuterungsfeuer, woran alles Gift in heiliger Flamme verbrennt."
Und er notiert die Verse GRILLPARZERs:
    "Ihr wollt meinen Wert bestreiten!
    Ich lasse es ruhig geschehen.
    Ich komme aus anderen Zeiten
    Und hoffe, in andere zu gehen."
Ein anderes Mal zitiert er:
    "Hast du getan das Beste, sie wollen es nicht fassen,
    Tue was noch besser, bleib ruhig und gelassen."
Und an diese Maxime hatte er sich nach Kräften zu halten gesucht.

Er fühlte sich als eine HERDER verwandte Natur und Biographie HERDERs von RUDOLF HAYM las er gerade im letzten Jahr seines Lebens mit großer Teilnahme. Er notiert viele Seiten daraus. In der Tat war ihm mit HERDER mehr gemein als das Interesse für die Frage nach dem Ursprung der Sprache. Vor allem die überzeugte Gegnerschaft gegen die kantische Philosophie. Sein erstes Wort beim Antritt seiner Lehrtätigkeit war gegen KANT gerichtet gewesen und ebenso galt sein Abschiedswort den Irrtümern der transzendentalen Methode. Er applaudiert in seinen Notizen dem Urteil HERDERs, der die Postulatenphilosophie KANTs "das gefährlichste Kissen für Schlaftrunkene" nennt.

Seine Untersuchungen zur allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie wenden sich vielfach gegen Grundlehren KANTs und seine nachgelassenen Werke über Zeit und Raum, wie auch der II. Band der Untersuchungen sind zum großen Teil nichts anderes als eine tief dringende, ruhige und vorurteilslose Kritik des Kritizismus.

Mit HERDER gemein hatte MARTY die Zartheit seines Charakters und seine moralische Integrität; beides machte es ihm unmöglich den Brutalitäten des Lebens mit gleichen Waffen zu begegnen. Das Wort von der anima candida [reinen Seele - wp] wird oft mißbraucht; wenn es aber nicht auf MARTY paßt, dann auf niemand. Er war eine reine, kindliche Seele. Daher auch seine Zuneigung zu Kindern. Was sich da im Prager Stadtpark, in dessen Nähe er wohnte, und in der Mariengasse an Kleinzeug herumtrieb, gehörte zu MARTYs Freunden und Freundinnen. Die chronometrisch abgemessene Zeit seiner Spaziergänge war ihnen zum Teil gewidmet. Und manche sprachgenetische Beobachtung hat er an der Seite eines Kinderwägelchens gemacht. Wohl waren ihm allerlei Sonderbarkeiten eigen. Vor allem eine Hypochondrie von Kindheit an, die sich durch einen unglücklichen Zufall - eine Überanstrengung des Herzens bei einem Ausflug - ins Maßlose steigerte. Diese Hypochondrie wurde in späteren Jahren noch gefördert durch die brennende Begier, sein Lebenswerk der geschwächten Gesundheit und allen feindlichen Mächten zum Trotz in theoretischer und praktischer Hinsicht zu vollenden. Von der peinlichen Erfüllung seiner Pflichten hielt ihn jedoch nichts ab.

Er litt immer mehr und mehr an den qualvollsten Migräne-Anfällen. Hierzu gesellten sich oft heftige Beschwerden, Symptome der schleichenden Krankheit, die ihn, dessen Widerstandskraft durch seelische Erschütterungen geschwächt worden war, allzu früh und unerwartet hinwegraffen sollte.

Ihrer ungeachtet hat er oft, den stärksten Üblichkeiten ausgesetzt, Kolleg gelesen oder sich an wichtigen Sitzungen beteiligt. Und die Sorge um sein Wohl hat ihn schon seinerzeit nicht gehindert seinen Freund und Lehrer BRENTANO, als dieser in Wien an den schwarzen Blattern [schwere Pocken - wp] erkrankte, Tag und Nacht zu pflegen. Je größer die Hemmungen, desto größer das Verdienst, desto größer die Selbstaufopferung. Wie er vom Wert der Freundschaft dachte, bezeugt somit nicht nur seine Rektoratsrede "Was ist Philosophie?, die edle Freundschaft als eines der kostbarsten Güter des Philosophen preist, sondern sein praktisches Verhalten selbst. BRENTANO war er insbesondere zeitlebens in Treue und Dankbarkeit zugetan, und weil er die wissenschaftlichen Differenzen, die sich im Laufe der Zeit einstellten, nicht in auffälliger Weise vor der Öffentlichkeit betonte, und weil er diese wissenschaftlichen Meinungsverschiedenheiten das persönliche Verhältnis zwischen den beiden Freunden niemals zu beeinträchtigen vermochte, so wurden daraus ungerechte Schlüsse auf seine wissenschaftliche Selbständigkeit gezogen. BRENTANO freilich wußte seinen Wert vollauf zu würdigen. Zu MARTYs 60. Geburtstag widmete er ihm einige Distichen [Zweizeiler - wp], von denen ich nur die letzten Verse zitieren will:
    Und noch nannte ich nicht, was dir als Bestes verliehen, Du warmfühlendes Herz! selbstlos, ganz in Liebe und Treue,

    O, wer kennt es wie ich, den es vor allen beglückt?

    Schien oft Wüste die Erde, der Bronnen der Treue versieget,

    Scheucht auf dich ein Blick, rasch mir den schreckenden Traum.

    Nein, wenn alle verlassen, solang du pilgernd der Erde

    Lebst, lebt Freundschaft auch, bleibet ihr süßester Trost.

    Und so grüß' ich dich heut' nicht Forscher, nicht Führer
    nicht Streiter

    Hehrer Befreiung, nein: liebend, geliebtester Freund!
Auch vielen seiner Schüler wurde MARTY ein Freund, Helfer und Berater. Seine Hörer fesselte der wunderbar klare, jeder rhetorischen Phrase abholde, dabei doch eindringlich überzeugende Vortrag.

Die Hörerschaft hat ihm dann auch bei verschiedenen Anlässen ihre Sympathien kundgegeben; so auch anläßlich seines Scheidens. MARTY erwiderte mit folgender Abschiedsrede:
    "Aufrichtigen Dank für die freundlichen Worte. Seien Sie überzeugt, daß Sie mir damit eine herzliche Freude bereitet haben. In der ganzen Zeit der 43 Jahre, wo ich als Lehrer der Philosophie gewirkt habe, war - neben der wissenschaftlichen Forschertätigkeit - die Anhänglichkeit meiner Hörer eine meiner größten Freuden, insbesondere wenn diese Anhänglichkeit mit derjenigen für die Philosophie Hand in Hand ging und ihr Ausfluß war. Das aber zu sehen ist mir vielfach besonders während der 33 Jahre meiner Wirksamkeit an der hiesigen Universität zuteil geworden. Und es wird mir ein Trost sein, wenn Sie, meine Herren, auch fernerhin, wenn ich nicht mehr unter Ihnen, ja auch nicht mehr unter den Lebenden sein werde, Freunde der echten Philosophie und des echten Philosophierens bleiben. Ich sage des echten Philosophierens. Denn es gibt ja und gab zu jeder Zeit auch Imitationen - eine Mimikry - der Philosophie, und wir finden etwas derart schon in der alten griechischen Zeit, wo die Sophisten an die Stelle aufrichtiger Wahrheitsforschung rhetorisch-dialektische Künste setzen und sich anheischig machten [aufgefordert fühlen - wp] für Jegliches, ja auch für Entgegengesetztes gleich glaubhafte Begründungen zu liefern.

    Und das Angebot derartiger Leistungen begegnete auch zu allen Zeiten mehr oder weniger der Nachfrage, ja zeitweilig überstieg und übersteigt die Nachfrage sogar das Angebot. Jedenfalls sehen wir immer und immer wieder, aus dem Kreis verschiedener Lehrgebiete und Weltanschauungen und aus entgegengesetzten Lagern das Ansinnen an die Philosophie gestellt, daß sie sich als Herold und Wanderprediger in den Dienst von diesen oder jenen Ansichten stellen soll, die gerade dominieren, obwohl die betreffenden Meinungen vielleicht diese Gunst beim Publikum gar nicht ihrem Wahrheitsgehalt verdanken, sondern nur vorübergehende Vorurteile sind. Aber wer solche Dienste tut, der kann kein echter Philosoph sein. Vielmehr verdient diesen Namen nur derjenige, der sich allem gegenüber, was nicht bewiesen ist, das Recht des Zweifels und der Kritik wahr und der an jeden Beweisversuch, eigenen und fremden, die höchsten logischen Anforderungen zu stellen gewohnt ist, mag dies auch manchen Leuten so unbequem und odios [widerwärtig - wp] sein wie den Ratsherren von Athen, die einen ihnen verhaßten Logiker und Kritiker der Art zum Giftbecher verurteilten. Während umgekehrt solche, die mit dem großen Strom schwimmen, auch von ihm getragen, ja hoch gehoben werden, obwohl, was dem Vorübergehenden vielleicht wie ein Stern erster Größe erscheint, nur ein Irrlicht ist, entstiegen dem Sumpf einer ungesunden Methode oder ebenso ungesunder Reklame. Kurz: die echte Philosophie will nicht die Magd irgendeiner Partei sein, sondern nur im höchsten Dienst, in dem der Wahrheit stehen, keine Erscheinung einer blinden Macht, sondern eine solche der Einsicht und entschlossen nur mit dieser zu siegen und sonst lieber zu unterliegen. Diese Philosophie verbindet darum mit dem rein theoretischen Interesse das unentwegte Festhalten an der richtigen Forschungsmethode, die keine andere als diejenige ist, durch welche auch die Naturwissenschaften emporgeblüht sind. Eine Methode, die nicht in phantastischem Flug alle Erkenntnis wie mit einmal zu gewinnen hofft, sondern weiß, daß nur Schritt für Schritt ein Vordringen möglich ist und daß bedächtig und sorgfältig ein Baustein zum anderen gefügt werden muß, wenn ein solides Wissensgebäude entstehen soll.

    Meine Herren! Es war stets mein Bestreben, die Liebe zu dieser Art des Philosophierens in Ihnen zu erwecken, in der mir selbst neben einem Aristoteles, Cartesius, Locke, Leibniz u. a. auch mein verehrter Lehrer Franz Brentano ein Vorbild war, und ich freue mich, wenn diese Liebe unter Ihnen fortdauert, auch wenn ich nicht mehr bin." - -
Durchdrungen vom Wert seiner Wissenschaft, stellte MARTY als Lehrer und Prüfer nicht geringe Anforderungen. Aber die größte Strenge übte er doch nur gegen sich selbst. Ja, infolge seines nervösen Leidens quälten ihn gar oft gänzlich ungerechtfertigte Skrupel, und zu Zeiten, wo die Aufregungen seines Berufes - sie waren nicht selten und nicht gering - besonders an seiner Nervenkraft zehrten, steigerten sie sich bei voller Krankheitseinsicht in Besorgnis erregender Weise. Sein Verkehr wurde immer geringer. Schließlich kamen nur ganz wenige Freunde in sein stilles Heim. Nach seiner Heimat, an der er mit echt schweizerischer Liebe hing, kam er schon lange nicht mehr.

Rücksichten auf Vergangenheit und Zukunft machten es ihm schwer und schwerer. Mit seinem Bruder blieb er in innigem brieflichen Verkehr. Seinen Abscheu vor Eisenbahnfahrten überwand er nur noch, um alljährlich einmal BRENTANO zu besuchen. Seine Sommerreisen wurden alljährlich kürzer. Den größten Teil seiner Ferien verbrachte er in Prag. Mit großem Eifer reiste er dagegen auf der Landkarte, las Reisebeschreibungen, geschichtliche Werke und Biographien. Jahrzehnte lang ging er schon nicht mehr ins Theater, nie in ein Konzert, nie in eine Gesellschaft. Sein ästhetisches Bedürfnis stillte er durch Lesen. Gern griff er zu "Don Quichotte", zum "Prediger von Wakefield", zu "Manzoni", auch zu KELLER, STORM und GOTTHELF. Auf seinem "Blüthner" spielte er MOZART und BEETHOVEN und einige ältere Opern; nichts rührte ihn mehr, als eine schöne Frauenstimme. Um sich nicht gefangen zu geben, vermied er es, sie zu hören. So sehr eine geliebte Frau sein Lebensglück erhöht hätte, blieb er doch unvermählt. Mannigfache Motive bewogen ihne dazu; neben der zartesten Rücksicht auf den Schmerz, den ein solcher Schritt seiner frommen Mutter bereitet hätte, vor allem die Besorgnis, gleich BRENTANO, durch ein Aufgeben des Zölibats in seiner öffentlichen Lehrtätigkeit gefährdet zu werden.

So vereinsamte er schließlich nahezu ganz. Er führte das Dasein eines Eremiten, wie einst jener MARTY, von dem die Schwyzer Chronik berichtet; in mundo tamquam non in mundo [in der Welt und doch nicht in der Welt - wp].

Am Abend blätterte er gern in seinem alten, mit Holzschnitten geschmückten COMENIUS und betrachtete wehmütig das Bild des friedlich dasitzenden Leinenwebers und noch wehmütiger das des baldachingekrönten Universitätsprofessors.

Bis zum letzten Augenblick übte er sich in Entsagung: auf seinem Sterbebett spricht der Dürstende den Wunsch nach einem Schluck Bier aus. Der Arzt gestattet es. Doch schon weist MARTY das Gelüst wieder ab mit den rührenden Worten: "Sehen Sie, so tief bin ich schon gesunken."

So blieb er sich selbst getreu im Leben und im Sterben und ging dahin, schmerzlos, im Frieden mit Gott und mit sich selbst. Das edelste Beispiel eines bios theoretikos [betrachtendes Leben - wp].

Am 1. Oktober 1914, um 10 Uhr nachts, verschied er an innerer Verblutung. Ich wüßte ihm keine bessere Grabschrift zu setzen als jene Worte JOHN LOCKEs, mit denen MARTYs Rektoratsrede schließt:
    "Die Wahrheit um der Wahrheit selbst willen lieben ist der wichtigste Teil menschlicher Vollkommenheit hier in der Welt und die Pflanzstätte aller anderen Tugenden."

LITERATUR: Anton Marty, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Halle a. d. Saale, 1916