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GEORG SIMMEL
Der Henkel

"Das Prinzip des Henkels: der Vermittler des Kunstwerks zur Welt hin zu sein, der doch selbst in die Kunstform völlig einbezogen ist - bestätigt sich schließlich daran, daß sein Gegenstück, die Ausgußöffnung oder -ausbiegung des Gefäßes, eben demselben untersteht. Mit dem Henkel reicht die Welt an das Gefäß heran, mit dem Ausguß reicht das Gefäß in die Welt hinaus. Damit erst wird die Einordnung des Gefäßes in die menschliche Teleologie vollkommen, indem es deren Strömung am Henkel aufnimmt und mit seiner Öffnung wieder an sie abgibt."

Moderne Theorien der Kunst betonen es mit Entschiedenheit als die eigentliche Aufgabe der Malerei und Plastik, die räumliche Gestaltung der Dinge zur Darstellung zu bringen. Darüber kann leicht verkannt werden, daß der Raum innerhalb des Gemäldes ein völlig anderes Gebilde ist als der reale, den wir erleben. Denn indem innerhalb dieses der Gegenstand getastet werden kann, im Bildwerk aber nur angeschaut; indem jedes wirkliche Raumstück als Teil einer Unendlichkeit empfunden wird, der Bildraum aber als eine in sich abgeschlossene Welt; indem der reale Gegenstand in Wechselwirkungen mit allem steht, was um ihn herum flutet oder beharrt, der Inhalt des Kunstwerks aber diese Fäden abgeschnitten hat und nur seine eigenen Elemente zu einer selbstgenügsamen Einheit verschmilzt - lebt das Kunstwerk ein Dasein jenseits der Realität. Aus den Anschauungen der *Wirklichkeit, aus denen das Kunstwerk freilich seinen Inhalt bezieht, baut es ein souveränes Reich; und während die Leinwand und der Farbenauftrag auf ihr Stücke der Wirklichkeit sind, führt das Kunstwerk, das durch sie dargestellt wird, seine Existenz in einem ideellen Raum, der sich mit dem realen so wenig berührt, wie sich Töne mit Gerüchen berühren können.

Mit jedem Gerät, mit jeder Vase, insoweit sie als ästhetische Werte betrachtet werden, verhält es sich ebenso. Als ein Stück Metall, tastbar, wägbar, einbezogen in die Hantierungen und Zusammenhänge der Umwelt, ist die Vase ein Stück Wirklichkeit, während ihre Kunstform eine rein abgelöste, in sich ruhende Existenz führt, für die ihre materielle Wirklichkeit der bloße Träger ist. Allein indem das Gefäß nicht, wie das Bild oder die Statue für eine inselhafte Unberührsamkeit gedacht ist, sondern einen Zweck erfüllen soll - wenn auch nur symbolisch -, da es in die Hand genommen und in die praktischen Lebensbewegungen hineingezogen wird - so steht es gleichzeitig in jenen zwei Welten: während das Wirklichkeitsmoment im reinen Kunstwerk völlig indifferent, sozusagen verzehrt ist, erhebt es Forderungsrechte an die Vase, mit der hantiert wird, die gefüllt und geleert, hin und her gereicht und gestellt wird. Diese Doppelstellung der Vase nun ist es, die sich in ihrem Henkel am entschiedensten ausspricht. Er ist das Glied, an dem sie ergriffen, gehoben, gekippt wird, mit ihm ragt sie anschaulich in die Welt der Wirklichkeit, das heißt der Beziehungen zu allem Außerhalb hinein, die für das Kunstwerk als solches nicht existieren. Nun soll doch aber nicht nur der Körper der Vase zugleich den Ansprüchen der Kunst gehorchen, und die Henkel wären bloße, gegen ihren ästhetischen Formwert gleichgültige Griffe, wie die Ösen des Bilderrahmens. Sondern diese Henkel, die die Vase dem Dasein jenseits der Kunst verknüpfen, sind zugleich in die Kunstform einbezogen, sie müssen, ganz gleichgültig gegen ihren praktischen Zwecksinn, rein als Gestaltung und dadurch, daß sie mit dem Vasenkörper eine ästhetische Anschauung bilden, gerechtfertigt sein. Durch diese zweifache Bedeutung und ihr charakteristisch deutliches Hervortreten wird der Henkel zu einem der nachdenklichsten ästhetischen Probleme.

Wie die Gestalt des Henkels die beiden Welten in sich zur Harmonie bringt: die äußere, deren Anspruch mit ihm an das Gefäß herangreift, und die Kunstform, die ihn, ohne Rücksicht auf jene, für sich fordert - das scheint das unbewußte Kriterium seiner ästhetischen Wirkung zu sein. Und zwar muß der Henkel die praktische Funktion nicht nur tatsächlich üben können, sondern er muß dies auch durch seine Erscheinung eindringlich machen. Dies geschieht mit Nachdruck in den Fällen, wo der Henkel angelötet wirkt, im Gegensatz zu denen, wo er mit der Substanz des Vasenkörpers aus einem Fluß gebildet erscheint. Die erstere Gestaltung markiert, daß der Henkel von äußeren Mächten, aus einer äußeren Ordnung der Dinge herangesetzt ist, sie läßt seine aus der reinen Kunstform herausreichende Bedeutung hervortreten. Ein solches Intervall zwischen Vase und Henkel pointiert sich stärker in der häufigen Form: daß der Henkel als Schlange, Eidechse, Drache gestaltet ist. Dies deutet jene Sonderbedeutung des Henkels an, daß das Tier von außen an die Vase herangekrochen und sozusagen erst nachträglich in die Gesamtform eingeschlossen scheint. Durch die ästhetisch-anschauliche Einheit von Vase und Henkel hindurch wirkt hier noch die Zugehörigkeit des Henkels zu einer ganz anderen Ordnung, aus der er entsprang, und die mit ihm die Vase für sich reklamiert. In vollkommenen Gegensatz hierzu und in stärkster Betonung der Einheitstendenz scheinen manche Vasen Vollformen gewesen zu sein, deren Materie ununterbrochen bis zu ihrer Peripherie reichte und aus denen erst nachträglich so viel weggenommen wurde, daß die Henkel stehen blieben; so am vollendetsten bei manchen chinesischen Schalen, deren Henkel aus kaltem Metall herausgeschnitten sind. In mehr organischer Weise jedoch akzentuiert sich das Einbezogensein in die ästhetische Einheit, sobald der Henkel aus dem Vasenkörper in einem ununterbrochenen Übergang und von den Mächten, die diesen Körper selbst bildeten, herausgetrieben scheint - wie die Arme des Menschen, die in demselben einheitlichen Organisierungsprozeß wie sein Rumpf erwachsen sind und gleichfalls die Beziehung des ganzen Wesens zur Welt außerhalb seiner vermitteln.

Manchmal werden flache Schalen so gebildet, daß sie mit ihrem Henkel wirken wie ein Blatt mit seinem Stiel; sehr schöne dieser Art sind aus der alten mittelalterlichen Kultur erhalten. Die Einheit des organischen Wachstums verbindet hier fühlbar die beiden Teile. Man hat das Werkzeug schlechthin als die Verlängerung der Hand oder der menschlichen Organe überhaupt charakterisiert. In der Tat: wie für die Seele die Hand ein Werkzeug ist, so ist ihr auch das Werkzeug eine Hand. Daß aber der Werkzeugcharakter Seele und Hand auseinanderschiebt, verhindert nicht die innige Einheit, mit der der Lebensprozeß sie durchströmt; daß sie außereinander und ineinander sind, das eben macht das unzerlegbare Geheimnis des Lebens aus. Dies aber greift über den unmittelbaren Umfang des Leibes hinaus und bezieht das "Werkzeug" in sich ein; oder vielmehr, Werkzeug wird die fremde Substanz, indem die Seele sie in ihr Leben, in den Umkreis, den ihre Impulse erfüllen, hineinzieht. Der Unterschied von Außerhalb und Innerhalb der Seele, wie er für den Leib zugleich wichtig und nichtig ist, wird noch für die Dinge jenseits des Leibes durch das große Motiv des Werkzeugs in der Strömung des übergreifenden, einheitlichen Lebens in einem Akt bewahrt und aufgelöst. Die flache Schale ist nichts als die Verlängerung oder Steigerung der schöpfenden, tragenden Hand. Indem sie aber nun nicht einfach in die Hand genommen, sondern am Henkel gefaßt wird, entsteht eine vermittelnde Brücke, eine schmiegsame Verbindung zu ihr, die wie mit anschaulicher Kontinuität den seelischen Impuls in sie, in die Handhabung mit ihr überleitet und sie nun in der Rückströmung dieser Kraft wieder in den Lebensumfang der Seele einbezieht. Durch kein vollkommeneres Symbol kann dies getragen werden, als wenn die Schale sich aus ihrem Henkel entwickelt, wie das Blatt aus seinem Stil - als benutzte der Mensch hier die Kanäle des natürlichen Säfteflusses zwischen Stiel und Blatt, um seinen eigenen Impuls in das Außending einzuströmen und es damit seiner eigenen Lebensreihe einzugliedern.

Der Eindruck schließt aber sogleich ein Mißfallen ein, sobald eine der beiden Sinngebungen des Henkels in der Erscheinung völlig zugunsten der andern vernachlässigt ist. So z. B. sehr oft, wenn die Henkel nur eine Art Reliefornament bilden, an den Körper der Vase ohne irgendeinen Zwischenraum anschließen. Indem der Zweck des Henkels: das Anfassen und Hantieren der Vase, durch diese Form ausgeschlossen ist, entsteht ein peinliches Gefühl von Sinnwidrigkeit und Gefangenheit, wie wenn einem Menschen die Arme an den Leib gebunden wären; und nur selten kann die dekorative Schönheit der Erscheinung dafür entschädigen, daß hier die innere Einheitstendenz der Vase ihre Beziehung zur äußeren Welt verschlungen hat. - Wie also die ästhetische Form nicht so eigenwillig werden darf, um für die Anschauung die Zweckmäßigkeit des Henkels zu dementieren (selbst wenn diese, für die Ziervase, praktisch gar nicht in Frage kommt) - so entsteht ein widerwärtiges Bild, sobald die Zweckmäßigkeit nach so verschiedenen Seiten hin wirkt, daß sie die Einheit des Eindrucks zerreißt.

Es gibt griechische Gefäße, die drei Henkel haben: zwei am Körper der Vasen, um sie mit beiden Händen zu fassen und nach der einen oder der anderen Seite zu beugen, und einen am Hals, mit Hilfe dessen sie nur nach der einen Seite gekippt werden kann. Den entschieden häßlichen Eindruck dieser Stücke bewirkt weder eine unmittelbare Sünde gegen die Anschaulichkeit noch eine gegen die Praxis; denn warum sollte ein Gefäß nicht nach mehreren Seiten gekippt werden? Er geht vielmehr, wie mir scheint, darauf zurück, daß die in diesem System angelegten Bewegungen nur nacheinander stattfinden können, während sich die Henkel gleichzeitig darbieten; dadurch entstehen völlig konfuse und widerspruchsvolle Bewegungsgefühle; denn obgleich die Forderungen der Anschaulichkeit und die der Praxis sich hier sozusagen nicht primär widersprechen, so wird doch mittelbar die Einheit der Anschauung zerrissen: diese bietet die Henkel, die gleichsam potentielle Bewegungen sind, in einem Zugleich dar, das deren praktische Aktualisierung dementieren muß.

Und dies leitet zu einem anderen ästhetischen Fehler des Henkels: seiner übertrieben Abtrennung von der Eindruckseinheit der Vase - der zu seiner Einsicht eines Umwegs bedarf. Die äußerste Fremdheit des Henkels gegen das Gefäß als Ganzes, seine äußerste Designiertheit zum praktischen Zweck liegt vor, wo er überhaupt nicht mit dem Gefäßkörper starr verbunden, sondern umlegbar ist; in der Sprache des Materials wird dies oft dadurch betont, daß der Henkel von anderem Stoff ist als das Gefäß. Dies ergibt vielfältig kombinierte Erscheinungen. Bei manchen griechischen Vasen und Schalen hat der Henkel, am Gefäßkörper starr befestigt und aus gleichem Stoff, das Wesen eines breiten Bandes. Wenn ihm dabei eine volle Formeinheit mit dem Gefäß erhalten bleibt, so kann das sehr glücklich sein. Das Material eines Bandes, mit seiner vom Stoff des Vasenkörpers ganz abweichenden Schwere, Konsistenz, Biegsamkeit, wird hiermit symbolisiert und deutet durch diese anklingenden Verschiedenheiten hinreichend die Zugehörigkeit des Henkels zu einer anderen Provinz des Daseins an, während er durch seine unverkennbare Stoffgleichheit mit jenem doch den ästhetischen Zusammenhang des Ganzen erhält. Allein das feine und labile Gleichgewicht zwischen den beiden Forderungen an den Henkel verschiebt sich auf das Ungünstigste, wenn der feste Henkel zwar tatsächlich aus demselben Stoff ist wie der Vasenkörper, aber einen anderen Stoff naturalistisch nachahmt, um durch diese andere Erscheinung seinen besonderen Sinn zu markieren. Gerade bei den Japanern, die sonst die größten Meister des Henkels sind, findet sich dieses ganz Widrige: feststehende, über dem Durchmesser der Vase sich wölbende Porzellanhenkel, die genau die strohgeflochtenen, umlegbaren Henkel von Teekannen imitieren. Wie sehr sich mit dem Henkel eine dem selbständigen Sinn der Vase fremde Welt aufdrängt, wird hier aus äußerste anschaulich, wo der Sonderzweck des Henkels das Material der Vase eine ihm ganz unnatürliche und maskenhafte Oberfläche hergeben läßt. Wie der mit dem Vasenkörper abstandslos verwachsene Henkel seine Zugehörigkeit zu jenen einseitig auf Kosten seiner Zweckloswertung übertreibt, so fällt die letztere Gestaltung in das entgegengesetzte Extrem: der Henkel kann die Distanz gegen alles Übrige an der Vase nicht rücksichtsloser betonen, als indem er den Stoff dieses Übrigen aufnimmt und gerade ihm das Aussehen eines ganz heterogenen, der Vase nur wie von außen angehängten Reifens aufzwingt.

Das Prinzip des Henkels: der Vermittler des Kunstwerks zur Welt hin zu sein, der doch selbst in die Kunstform völlig einbezogen ist - bestätigt sich schließlich daran, daß sein Gegenstück, die Ausgußöffnung oder -ausbiegung des Gefäßes, von eben demselben ressortiert. Mit dem Henkel reicht die Welt an das Gefäß heran, mit dem Ausguß reicht das Gefäß in die Welt hinaus. Damit erst wird die Einordnung des Gefäßes in die menschliche Teleologie vollkommen, indem es deren Strömung am Henkel aufnimmt und mit seiner Öffnung wieder an sie abgibt. Eben darum, weil die Öffnung vom Gefäß selbst ausgeht, ist es leichter, ihre Form organisch mit ihm zu verbinden (der Ausdruck Schnabel oder Schnauze, für den der Henkel gar kein Pendant bietet, deutet schon diese organische Gliedfunktion an), und es kommen an ihr deshalb so unnatürliche und sinnwidrige Ausartung wie beim Henkel kaum vor. Daß Henkel und Schnabel einander anschaulich als Endpunkte des Gefäßdurchmessers korrespondieren und ein gewisses Gleichgewicht halten müssen, entspricht den Rollen, mit denen sie, das Gefäß in sich zwar begrenzend, es doch der praktischen Welt verbinden: der eine zentripetal, der andere zentrifugal. Es ist wie das Verhältnis des Menschen als Seele zu dem ihm äußeren Sein: durch die sinnliche Empfindlichkeit reicht die Körperlichkeit an die Seele heran, durch die willensmäßigen Innervationen reicht die Seele in die Körperwelt hinaus - beides der Seele und der Geschlossenheit ihres Bewußtseins zugehörig, das das Andere der Körperlichkeit ist und nun dennoch durch jenes beides ihr verflochten ist. -

Es ist von prinzipiellstem Interesse, daß die rein formalen ästhetischen Anforderungen an den Henkel dann erfüllt sind, wenn seine symbolischen Bedeutungen: der geschlossenen Einheit der Vase zuzugehören und zugleich der Angriffspunkt einer, dieser Form ganz äußerlichen Teleologie zu sein - zu Harmonie oder Gleichgewicht gekommen sind. Dies fällt nicht etwa unter das wunderliche Dogma, daß die Nützlichkeit über die Schönheit entscheidet. Denn es handelt sich gerade darum, daß die Nützlichkeit und die Schönheit als zwei einander fremde Forderungen an den Henkel herantreten - jene von der Welt, diese vom Formganzen der Vase her - und daß nun gleichsam eine Schönheit höherer Ordnung beide übergreift und ihren Dualismus in letzter Instanz als eine nicht weiter beschreibliche Einheit offenbart. Durch die Spannweite seiner beiden Zugehörigkeiten wird der Henkel zu einem höchst bezeichnenden Hinweis auf diese, von der Kunstlehre noch kaum berührte höhere Schönheit, für die alle Schönheit im engeren Sinne nur ein Element ist; diese wird von jener sozusagen überästhetischen Schönheit mit den gesamten Forderungen von Idee und Leben zu einer synthetischen Form zusammengefaßt, die eben diese engere oder speziellere, bisher aber fast ausschließlich analysierte Schönheit an den unmittelbaren Elementen des Daseins vollzieht. Diese Schönheit oberster Instanz ist wohl das Entscheidende für alle wirklich großen Kunstwerke und ihre Anerkennung scheidet uns am weitesten von allem Ästhetentum.

Neben diesem Anblick aber lohnt vielleicht ein zweites, an ein so unscheinbares Phänomen eine so umfängliche Deutung zu setzen: die Weite der symbolischen Beziehungen, die sich gerade an ihrer Geltung auch für das an und für sich Unbedeutende offenbart. Denn es handelt sich um nichts Geringeres, als umd die große, menschliche und ideale Synthese und Antithese: daß ein Wesen ganz und gar der Einheit eines umfassenden Gebietes angehört und zugleich von einer ganz anderen Ordnung der Dinge beansprucht wird - indem diese letztere ihm eine Zweckmäßigkeit auferlegt, von der seine Form bestimmt wird, ohne daß diese Form darum weniger jenem ersten Zusammenhang - als ob der zweite gar nicht bestünde - eingeordnet bleibt. Außerordentlich viele Kreise - politische, berufliche, soziale, familiäre - in den wir stehen, werden von weiteren so umgeben, wie das praktische Milieu das Gefäß umgibt, derart nämlich, daß das Individuum, einem engeren und geschlossenen angehörig, eben damit in den weiteren hineinragt und von diesem jeweils benutzt wird, wenn er mit jenem engeren Kreis gleichsam zu hantieren und ihn in seine umfassendere Teleologie einzubeziehen hat. Und wie der Henkel über seine Bereitheit zu der praktischen Aufgabe nicht die Formeinheit der Vase durchbrechen darf, so fordert die Lebenskunst vom Individuum, seine Rolle in der organischen Geschlossenheit des einen Kreises zu bewahren, indem es zugleich den Zwecken jener weiteren Einheit dienstbar wird und durch eine solche Dienstbarkeit den engeren Kreis in den umgebenden einordnen hilft. Nicht anders ist es mit unseren einzelnen Interessenprovinzen. Wo wir erkennen oder sittlichen Forderungen unterstehen oder objektiv normierte Gebilde schaffen, ragen wir mit diesen Teilen oder Kräften unser selbst in ideale Ordnungen hinein, die wie von einer inneren Logik, einem überpersönlichen Entwicklungsdrang getrieben werden und jeweils unsere Gesamtenergie an jenen einzelnen Gliedern ergreifen und in sich einstellen. Und nun kommt alles darauf an, daß wir die Geschlossenheit unseres in uns zentrierenden Seins nicht zerstören lassen, daß jedes einzelne Können und Tun und Sollen im Umkreis dieses Seins dem Gesetz von dessen Einheit verhaftet bleibt, während es zugleich jenem ideellen Außerhalb angehört und uns zu Durchgangspunkten für dessen Teleologie macht. Vielleicht formuliert dies den Lebensreichtum der Menschen und der Dinge; denn dieser ruht doch in der Vielfachheit ihres Zueinandergehörens, in der Gleichzeitigkeit des Drinnen und Draußen, in der Bindung und Verschmelzung nach der einen Seite, die doch zugleich eine Lösung ist, weil ihr die Bindung und Verschmelzung nach einer anderen Seite gegenübersteht. Das ist ein Wunderbarstes in der Weltauffassung, Weltgestaltung im Menschen, daß ein Element die Selbstgenügsamkeit eines organischen Zusammenhangs mitlebt, als ginge es ganz in ihm auf - und zugleich die Brücke sein kann, über die ein ganz anderes Leben in jenes erste einfließt, die Handhabe, an der die Ganzheit des einen die Ganzheit des anderen erfaßt, ohne daß darum eine von ihnen zerrissen wird. Und daß diese Kategorie, die im Henkel der Vase vielleicht ihr äußerlichstes, aber eben deshalb ihre Spannweite am meisten offenbarendes Symbol findet - daß sie unser Leben mit einer solchen Vielheit des Lebens und Mitlebens beschenkt, ist wohl die Spiegelung des Schicksals unserer Seele, die ihre Heimat in zwei Welten hat. Denn auch sie vollendet sich erst in dem Maße, in dem sie ganz in die Harmonie der einen als notwendiges Glied hineingehört und nicht trotz, sondern gerade mittels der Form, die ihr diese Zugehörigkeit auferlegt, in die Verflechtungen und den Sinn der andern hineinreicht; als wäre sie der Arm, den die eine Welt ausstreckt - mag es die reale, mag es die ideale sein - um die andere zu ergreifen und ansich zu schließen und sich von ihr ergreifen und ansich schließen zu lassen.
LITERATUR Georg Simmel, Der Henkel, Philosophische Kultur - Gesammelte Essais, Leipzig 1911