F o r m e n d e r W i r k l i c h k e i t Recht - I I -
Die Frage nach der Mehrheit geht auf die Kategorie der Quantität zurück, die Richtigkeit jedoch ist eine Erwägung der Qualität. Wie eine Meinung zustande kommt zählt aber nicht. Entscheidend ist nur der quantitative Wert der Stimme, nicht deren Qualität. Die Urteile des gewöhnlichen Wahlpublikums sind größtenteils von Gewohnheit und Beispiel bestimmt, aber nicht durch sichere Einsicht. In den meisten Fällen stimmen die Leute nur ab, weil sie eine Stimme, nicht aber eine fundierte Meinung haben. Mehrheit und Konsens allein sind deshalb noch nicht wertvoll. "Mehrheit der Stimmen ist kein Beweis, der etwas gilt, wenn es sich um Wahrheiten handelt, die nicht ganz einfach zu erkennen sind, denn es ist weit wahrscheinlicher, daß ein Mensch allein sie findet, als ein ganzes Volk." 13)Es besteht ein direkter Gegensatz zwischen der Idee des Guten und dem bloßen Zusammenzählen von Interessen. Das Paradox der Demokratie besteht darin, daß sich die Mehrheit auch zur Herrschaft eines Tyrannen entscheiden kann. Die Herrschaft der Mehrheit kann auch die Herrschaft des rücksichtslos gewinnsüchtigen Pöbels sein, da Mehrheitsentscheidungen indifferent sind gegen die Qualität der Meinungen. "Man beginnt zu begreifen, daß die Herrschaft der Majoritäten bedeutet, alle Geschäfte eines Landes denen zu überlassen, die die Mehrheit für sich zu gewinnen wissen, d.h. den Kröten des Sumpfes im Parlament und in den Wahlversammlungen, mit einem Wort denen, die keine eigene Meinung haben." 14)Mehrheit hat keine Autorität. Wo es auf Mehrheit ankommt, werden Probleme ignoriert und vergewaltigt. Es gelten erzwungene Lösungen. Hauptsache das Mehrheitsprinzip bleibt gülitg. Die Freiheit wird der Einheit geopfert. Wem es nur darauf ankommt Mehrheiten zu gewinnen, kommt dabei nicht umhin, Probleme zu verniedlichen, nur um eine möglichst breite Zustimmung zu erzielen. Wo Mehrheit den Ausschlag gibt, kann keine Gerechtigkeit sein. Interessenkonflikte können durch Mehrheitsbeschlüsse nicht in befriedigender Weise gelöst werden. Es ist absolut nicht zu begründen, woher die Gesamtheit ein Recht haben soll, andere zu strafen. "Das bloße Zusammenzählen subjektiver Meinungen ist ohne grundsätzliche Bedeutung, sowohl für das Einsetzen des Begriffs, wie der Idee des Rechts." 15)Durch Mehrheitskonsens wird nur bloße Legalität, keineswegs Legitimität geschaffen. Die Legalität allein ist jedoch keine ausreichende Begründung. "Legalität ist bestenfalls ein prekäres Übergewicht der Herrschaft über den Widerstand, den sie hervorruft." 16)Demokratie ist Parteienherrschaft. Jede Partei versucht die Mehrheit zu gewinnen, um mit ihr zu herrschen. Die Stimmenmaximierung zur Erringung von Wahlsiegen, mit dem Parlament als exklusiver Arena für politische Aktionen. Die Entscheidungsbefugnis wird vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erworben. Rivalisierende, aber sich ähnelnde Parteien, bemühen sich mit erlaubten und oft unerlaubten Mitteln um das wahlfähige Publikum, den politischen Konsumenten. Politik ist die rationalisierte Form des Kampfes um soziale Vorherrschaft. Politik ist immer Machtkampf, der Kampf um Herrschaft, um die Staatsgewalt, um die Regierung. Jede politische Partei ist eine Kampforganisation. Wo gekämpft wird, wird um Macht gekämpft. Nicht wenige Politiker spielen sich als Demokraten auf, sehen aber im Volk nur ein Mittel, um zur Macht zu gelangen. Das ganze parlamentarische System gerät zur schlechten Fassade für die Herrschaft von Parteien und wirtschaftlichen Interessen. "Die demagogischsten und schlauesten Regierungen beschönigen ihr Streben, den Willen des Volkes zu lenken und zu formen, gewöhnlich mit den Worten: Wir repräsentieren den Willen des Volkes." 17)Der Zweck ist das Herrschen selber, das aber muß verschleiert werden, weil sich ein solcher Zweck selbst vereitelt, wenn er sich erklärt. Keine Regierung, auch nicht die totalitärste, wird es deshalb wagen, sich offen als undemokratisch zu bezeichnen. Wahlen aber werden lediglich abgehalten, um den undemokratischen Staatsgebilden ein pseudo-demokratisches Mäntelchen umzuhängen. Hauptsorge jeder Regierung ist es, an der Macht zu bleiben. Macht zu erhalten ist aber noch schwerer, als sie zu erringen. Selbsterhaltung und Machtsteigerung des Staates ist deshalb das Hauptprinzip politischen Handelns. Jede Regierung agiert weniger zum Wohle des Volkes, als zum Vorteil ihrer Wiederwahl. Wer an der Macht ist, will an der Macht bleiben. In einer solchen Politik gibt es am Ende keine moralischen Gesichtspunkte mehr, sondern nur noch Machtfragen. Jede Regierung gibt zwar vor, Leben und Eigentum ihrer Untertanen zu schützen. Hauptsächlich aber sorgt sie durch umfangreiche Vorschriften für ihre eigene Sicherheit. Diesem Zweck zu dienen, sind bisweilen alle Mittel recht: Täuschung, List, Verrat, Meineid, Bestechung, Vertragsbruch oder Gewalttat, wenn sie nur Erfolg versprechen. Politik ist nur als Machtpolitik möglich. Solange um Macht gekämpft wird, geschieht das immer um einen hohen Preis. Das Doppelantlitz der Macht ist sowohl spendend, als auch mordend. "Zeiget mir eine Stätte, wo man sich in Massen und in vollen Zügen ums Leben bringt, ich werde euch stets eine Regierung an der Spitze des Blutbades aufweisen." 18)Politiker halten sich zwar für die berufenen Künder des Gemeinwillens, aber anstatt das Volk anzuhalten sich selbst zu organisieren, verlangt es sie einzig nach der Macht. Herrschaft durch Demokratie beruth auf einer manipulierten Mehrheit. Die Mehrheitsdemokratie ist darum wesentlich Wahlmache und ihre Voraussetzungen liegen in der Beeinflußbarkeit der Masse. Es kommt nur darauf an, soviele Stimmern wie möglich zu erhalten. Das Stimmvieh wird systematisch irregeführt und durch die Massenmedien indoktriniert. Die Schmeichler der Masse wissen, daß der Begriff der Demokratie beliebig dehnbar ist. "Demokratie bedeutet in den Augen von vielen Politikern eine Regierungsform, das heißt: eine Methode, die Menschen das tun lassen, was ihre Führer wollen, während sie den Eindruck haben, sie täten, was sie selber wollen." 19)Die Manipulationstechniken derjenigen, die die Macht haben, lassen eine freie Meinungsbildung gar nicht zu. "Das wirkliche Volk muß unmündig und apolitisch sein, wenn das System funktionieren soll." 20)Zum Regieren ist die Zustimmung der Mehrheit notwendig, nicht ihre Mitwirkung. Regierung bedeutet die Herrschaft rechtmäßiger Gewalt, die durch den Verzicht auf selbständiges Handeln und Selbstbestimmung der Bevölkerung zustande kommt. Echte Demokratie aber bemißt sich nach dem Grad der Aufhebung von Herrschaft und nicht ihrer Akkumulation. Die beste Art frei zu sein ist die, nicht vertreten zu sein. Die demokratische Herrschaft ist durch die Mehrheit der Quantitäten lediglich legalisiert, ohne daß qualitative Legitimität vorhanden wäre. Für eine Demokratie, die diesen Namen verdienen soll, ist politische Willensbildung deshalb unerläßlich. Der Wahlzettel in den Händen von Leuten, deren Bildung absichtlich vernachläßigt wird und die daher auch kein vernünftiges und überlegtes Urteil fällen können, ist nur ein frommer Betrug. "Demokratie ist eine Versammlung reifer Menschen und nicht ein Haufen Schafe, die von einer kleinen Clique Neunmalkluger geführt werden müßte, Reife findet man aber nicht auf der Straße, sie muß erlangt werden." 21)Totalitäre Demokratien arbeiten mit der Verinnerlichung von Gleichschaltungsmechanismen, wie sie uns in der Form der Massenmedien tagtäglich aufgedrängt werden. Ohne die Techniken der Massenbeherrschung könnten die Massendemokratien gar nicht mehr auskommen. Der Volkswille wird fabriziert analog zur Art und Weise kommerzieller Reklametechniken. Die meisten Menschen sind der Macht organisierter Interessen ausgeliefert. Politische Themen erhalten ihre Bedeutung in Hinsicht auf das Interesse einer fiktiven Mehrheit der Bevölkerung. Minderheitenprobleme sind nur insofern interessant, als sich aus ihnen entgegengesetzte Mehrheiten manipulieren lassen. Das Big Business diktiert, welche Geschehnissse thematisiert und wie sie dargestellt werden. Es gibt keine Publikationsmittel, die nicht von ihrer Geldgebern kontrolliert würden. Die Massenmedien werden von der Geschäftswelt und ihren vulgären Interessen beherrscht, die sich jedoch als hehre Tugenden präsentieren. Herschaftsinteresse und Sklavenbewußtsein verbergen sich hinter friedlichen Phrasen. Goldene Worte von Frieden und Freiheit werden von einem System gesprochen, dessen Börse auf die Ermordung der Kennedys und Martin Luther Kings positiv reagiert und dessen Banken alle Diktaturen dieser Welt stützen. Geld und Macht sind die wesentlichsten Faktoren von Politik und Wirtschaft. Beide sind Resultate des Abstraktionssystems Recht. Eigentum und Staat sind juristisch definiert. Der Glaube an den Staat ist im wesentlichen der Glaube an die Rechtssicherheit des Eigentums. Eigentum heißt die Zauberformel, mit der sich die Organisation der Gesellschaft auf einen Nenner bringen läßt. Eigentum ist der Ausdruck von Gewalt kraft abstrakter Rechtsansprüche. Eigentum existiert überhaupt nur durch den Rechtsschutz. "Die Sicherheit des Eigentums ist der Angel, um den sich die ganze Gesetzgebung dreht, worauf sich die meisten Rechte der Staatsbürger beziehen." 22)Die Absicht der Staaten geht deshalb mehr auf das, was ein Mensch besitzt, als auf seine Persönlichkeit, d.h. auf das, was er ist. Das Gesetz des Staates trifft einen Menschen sehr unvollständig, nämlich als einen Habenden gedacht. Die Staaten gedeihen dementsprechend am Besten, wenn sie möglichst viele Staatsbürger soweit wie möglich an das Eigentum binden. Das Privateigentum ist diejenige Institution, an deren Intakthaltung der Staat eine seiner zentralsten Aufgaben erblickt. Alles Eigentum ist durch die Bereitschaft der Gesellschaft gesichert, Polizei und andere Mittel zum Schutz der Eigentümer und deren Besitz einzusetzen. Das Eigentum steht im Mittelpunkt politischer und wirtschaftlicher Systeme und darf als wesentliche Komponente für grundlegende Reformen nicht aus den Augen verloren werden. Es ist müßig, über den Staat zu räsonnieren, ohne das Eigentum anzugreifen. "Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen: der Zweck ist der Schutz des Eigentums, das Mittel ist die Anerkennung des Mehrheitswillens als seines eigenen Willens." 23)Eigentum ist ein Rechtsverhältnis und die ausschließliche Verfügungsgewalt über eine Sache. Eigentum war ursprünglich auch ein Eigentum an Personen, vor allem an Frauen. Sklaverei war Privateigentum an Menschen. Das Recht der Eigentümer stand sogar höher, als Leben und Freiheit von Menschen. Hatten mehrere Gläubiger an denselben Schuldner Forderungen zu stellen, so stellte das Gesetz ihnen frei, ihn zu töten oder in Stücke zu schneiden. Die Sache gehört dem, der das Recht dazu hat. Solche Verhältnisse, die auf der Institution des Eigentums und einer fiktiven Vertragsfreiheit beruhen, werden gewöhnlich als kapitalistische bezeichnet. Der Kapitalismus ist die Geldordnung. Eigentum ist nicht nur das Recht zu benützen, sondern auch das Recht, andere von der Benützung abzuhalten. "Eigentum ist das Recht, seine Sachen zu gebrauchen und zu mißbrauchen", erklärt das römische Gesetz. Diese Auffassung ist bis heute Rechtsgrundlage jeder Ausbeutung und Monopolherrschaft geblieben. "Der Eigentümer kann seine Früchte am Stengel verfaulen lassen; er kann Salz in seine Felder säen, die Milch seiner Kühe in den Sand laufen lassen, einen Weinberg in eine Wüste und einen Park in einen Gemüsegarten verwandeln, ganz nach seinem Gutdünken." 24)Das Motto lautet: Sei Eigentümer und du bist im Recht! Die bürgerliche Demokratie ist nur eine formale, sie greift nicht auf das Wirtschaftsleben über. Eine Demokratie weiß offiziell nichts von Besitzunterschieden. "Das ist die majestetische Gleichheit vor dem Gesetz, daß es den Reichen wie den Armen gleichermaßen verbietet, Holz zu stehlen." 25) Die Abstraktion der Bedürfnisse wird durch ein politisches System (den Wahlmodus) und über ein Wirtschaftssystem (den Geldmodus) legalisiert. Die für alle gleiche Vertragsfreiheit wird für den Eigentümer zur Freiheit, für den Besitzlosen zur Unterworfenheit. Die Herrschaft ist ein Recht, die Ausbeutung ein Vertrag. Äußere Gewaltlosigkeit ist deshalb normal für das Funktionieren des Kapitalverhältnisses. Wo das Herrschaftsverhältnis verschwindet, kann die politische Herrschaft eine Form annehmen, in der ihre Gewalt latent bleibt, d.h. sich lediglich finanziell auswirkt. Die Gewalt tarnt sich als die Verfolgung wirtschaftlicher Interessen. Mit Geld wird bezahlt, wo es unvorteilhaft wäre, mit Gewalt zu nehmen. "Eigentum als Recht und Eigentum als Diebstahl stehen nebeneinander." 26) Das Eigentum lebt von der Gnade des Rechts und entsteht nicht durch die Bearbeitung der Dinge. Die Rechtfertigung des Eigentums durch Arbeit, bzw. Arbeit als Grund für Eigentum, ist mehr als fragwürdig. Arbeit als solche gibt kein Recht, sich die Dinge anzueignen. Produktionsverhältnisse sind Eigentumsverhältnisse. Eigentum ist nichts weiter, als ein Faktum. Fakten aber schaffen kein Recht. Daß das Eigentum von jemandem nur gerechtfertigt ist, wenn es erarbeitet wurde, damit verträgt sich zum Beispiel das Erbrecht nicht. Die ganze Vermögensverteilung ist also eigentlich eine politische Angelegenheit. Einkommensunterschiede können nicht aufgrund unterschiedlicher Produktivität gerechtfertigt werden, sie sind Folge politischer Entscheidungen, nicht volkswirtschaftlicher Gesetze. Verteilung ist weniger ein wirtschaftlicher, als ein politischer Prozess. Einkommensungerechtigkeiten stehen in keinerlei Beziehung zu Bedarf, Produktivität oder Effizienz, sondern sind vielmehr das Ergebnis ungleicher Machtverhältnisse. Jedes einzelne Rechtsverhältnis könnte als eine wirtschaftliche Erscheinung angesprochen werden. "Eine von der Rechtsphilosophie unabhängige Wirtschaftsphilosophie kann es nicht geben." 27) Auch PROUDHON geht vom Recht aus. Vom Recht kommt er zum ökonomischen Faktor. Die Arbeiter können nur ausgebeutet werden, wenn sie ein Anrecht auf das von ihnen hergestellte Produkt haben. Eigentum bringt immer politische Macht mit sich. Eigentum ist aber keine Legitimation, um Macht auszuüben. Das Eigentum ist deshalb eine Form legaler Gewalt, als Kapital die Gewalt über fremde Arbeit. Wirtschaftlich ist der Kommerzialismus ein Phänomen der Anhäufung durch Unterdrückung. Das entscheidende Gewaltverhältnis des organisierten Kommerzes ist die private Aneignung des Mehrwerts. Die Hierarchie des Eigentums beruth letztlich immer auf Gewalt, wie sehr sie auch legalistisch verhüllt sein mag. Das Interesse des Rechts ist hauptsächlich die Aufrechterhaltung der bestehenden Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse, welche einer Minderheit zur physischen und psychischen Ausbeutung einer Mehrheit dient. Jeder kommerziell organisierte Staat muß als Mittel zur Ausbeutung aufgrund des bürgerlichen Rechts angesehen werden. Unter kommerzialistischen Bedingungen kann es keine gerechte Vermögensverteilung geben. Der Staat trägt dabei in erheblichem Maß zur Erweiterung und Beibehaltung von Priviliegien bei. Geschützt werden können auch Privilegien oder diktatorische Machtpositionen gegenüber den Benachteiligten. Der ungerechte Moralkodex stützt die Privilegien der Starken und hält die Schwachen in Gehorsam. Die Inhaber gesellschaftlicher Privilegien und politischer Schaltstellen garantieren die zuverlässige Fernhaltung der Nichtprivilegierten. Sicherheitskonzepte bewahren die Ungleichheit als Ordnung. Privilegierte Personen dürfen das tun oder genießen, was den übrigen vorenthalten bleibt. Der Privilegierte genießt Vorteile, die auf Vorrechten beruhen. Die meisten Privilegien sind das Ergebnis von Gesetzgebung. "Das Gesetz, das zuerst als eine Sammlung von Gewohnheiten auftrat, die der Erhaltung der Gesellschaft dienen, ist nur noch ein Werkzeug, um die Ausbeutung und Beherrschung der arbeitsamen Massen durch reiche Müßiggänger aufrechtzuerhalten. Es hat heute keine Kulturaufgabe mehr, seine einzige Aufgabe ist der Schutz der Ausbeutung." 28)Das Recht wird zum Vorrecht des Staates und zur Absegnung bereits vorhandener Vorteile. Wer Vorrechte hat, übt Macht aus. Macht hat ihren Ursprung im Vorrang des Stärkeren vor dem Schwächeren. Wo der Stärkere seine Macht für sich auszunutzen vermag, gilt nichts als Gewalt. Der größte Mißbrauch des Staates besteht deshalb in seiner Verwendung als Schutzmittel der Besitzenden gegen die Nichtbesitzenden. "Das Eigentum ist die Ungleichheit der Rechte, denn wenn es nicht die Ungleicheit der Rechte wäre, wäre es die Gleichheit der Güter und dann würde das Eigentum eben nicht bestehen." 29)Liberalismus und Demokratie sind für Marx nichts anderes, als eine bloße Verschleierung der Diktatur der Bourgeoisie. Die formale Demokratie ist ihm nur ein Mittel, um das Volk zu betrügen. Die Geldpriester haben sich zu ihrem Schutz eine demokratische Maske aufgesetzt. Echte Wirtschaftsdemokratie dagegen hieße effektive Mitbestimmung aller Arbeitnehmer auf allen Ebenen. Tatsächliche Mitbestimmung müßte auch die Demokratie am Arbeitsplatz bedeuten. "Demokratie ist eine gerechte Staatsform, weil diese Staatsform individuelle Freiheit sichert. Das heißt aber, daß Demokratie eine gerechte Staatsform nur unter der Voraussetzung ist, daß die Wahrung individueller Freiheit der höchste Zweck ist. Wenn anstatt individueller Freiheit wirtschaftliche Sicherheit als höchster Zweck vorausgesetzt wird, und wenn bewiesen werden kann, daß diese unter einer demokratischen Staatsform nicht gewährleistet wird, dann muß eine andere Regierungsform als gerecht angesehen werden." 30)Befreiung ist allemal eine von Zwang und Druck, ob das nun wirtschaftlicher oder politischer Druck ist. Die Emanzipation durch den Wahlzettel ist aber eine Illusion, solange die Mehrheit der Bevölkerung sich in dumpfer Unwissenheit befindet. Das Wahlrecht allein ist schon fragwürdig genug, durch das Eigentumsrecht wird es jedoch zur Farce. "Wo es Vorrechte des Besitzes gibt, kann kein formales Gleichsetzen von Stimmen wirkliche Gleichheit schaffen..." 31) Faktisch wirkt sich der auf der Abstraktion gesellschaftlich gleicher Individuen aufgebaute Liberalismus immer zum Vorteil der Reichen aus. Die ökonomische Emanzipation darf deshalb nicht von der politischen getrennt gesehen werden, genausowenig, wie die soziale Frage nur auf das Ökonomische beschränkt werden darf. Politik und Ökonomie sind nur zwei verschiedene Worte für ein und dieselbe Sache. "Sobald ein Mensch, wenn er um höheren Lohn kämpft, nicht auch im Willen hat, daß die Gesellschaft verschwindet, die ihn dazu zwingt, überhaupt nur um Lohn kämpfen zu müssen, wird er auch im Lohnkampf nichts Gründliches erreichen." 32)Freiheit ist ohne ökonomische Emanzipation wertlos. "Die Freiheit ohne die Gleichheit ist eine ungesunde Fiktion, die von Spitzbuben geschaffen wurde, um die Dummen zu betrügen. Die Gleichheit ohne die Freiheit, das ist der Despotismus des Staates." 33)Durch eine bloß politische Veränderung kann daher keine gründliche Umgestaltung der Gesellschaftsverhältnisse erreicht werden. Die bloße Parlamentspolitik wird die ökonomische Realität niemals entscheidend verändern. Jede politische Reform ohne grundlegende ökonomische Konsequenzen ist bloßes Theater. "Man hat nicht das Recht, sich heute Demokrat zu nennen, wenn man neben der vollständigen politischen Befreiung nicht in ebenso weitem Maße die ökonomische Befreiung des Volkes will." 34)Ein guter Jurist ist für GUSTAV RADBRUCH darum nur, wer mit schlechtem Gewissen Jurist ist. 35) Privilegien sind zu rechtfertigen. Die Idee der Gerechtigkeit muß das Fundament des Gesetzes sein. Vor dem Gesetz darf es keine Privilegien geben. Wenn das Recht gleichermaßen für alle Menschen eine echte Bedeutung haben soll, dann muß es alle hergebrachten Privilegien vernichten. Solange es das privilegierte Eigentum gibt, wird es immer so etwas wie Ausbeutung geben. Der privilegierte Reichtum wird aber aufhören eine Macht zu sein, wenn er nicht mehr durch juristische Einrichtungen unantastbar gemacht ist. Die moralische Gleichheit bedeutet Vorrechtslosigkeit. Auch der Staat darf keine Vorrechte besitzen. Der Endzweck einer sozialen Vereinigung darf kein anderer sein, als die Erhaltung der unabdingbaren Menschenrechte. Recht muß, als moralischer Anspruch, den Schutz vor Ausbeutung und Unterdrückung bedeuten. Es ist Sinn und Wert der Menschenrechte, Glück auch da zu ermöglichen, wo keine Macht ist. Das Vorrecht körperlich oder wirtschaftlich Stärkerer steht im Gegensatz zu unserer Menschenwürde. Moralische Gleichheit bedeutet die spezielle Berücksichtigung der konkreten Umstände, in denen ein Mensch lebt, um allen seinen individuellen Besonderheiten gerecht zu werden. Nicht Verallgemeinerung, sondern Individualisierung bringt uns gerechteren Verhältnissen näher. Gleichheit kann nur als moralischer Wertbegriff von Bedeutung sein. Freiheit und Gerechtigkeit sind die eigentlichen Ideen des Rechts, nicht Zweckmäßigkeit.
RENE DESCARTES: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, Stuttgart 1977, Seite 17 PETER KROPOTKIN in ERWIN OBERLÄNDER, (Hrsg), Der Anarchismus, Freiburg 1972, Seite 245 RUDOLF STAMMLER, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Berlin 1970, Seite 348 RALF DAHRENDORF, Pfade in Utopie, München 1974, Seite 303 MAXIM GORKI, Unzeitgemäße Gedanken über über Kultur und Revolution, Frankfurt 1974, Seite 143 ANSELM BELLEGARRIGUE in PIERRE RAMUS, William Godwin, Westbevern o.J., Seite 58 BERTRAND RUSSELL, Freiheit ohne Furcht, Reinbek 1975, Seite 84 K.-M. MICHEL in Kursbuch 19, Berlin 1969, Seite 163 PAUL FEYERABEND in H.-P. DUERR (Hrsg), Unter dem Pflaster liegt der Strand, Berlin 1981, Seite 28 ERNST BLOCH in GEORG LUKÁCS: Der junge Hegel I, Frankfurt 1973, Seite 92 C.B. MacPHERSON, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt 1980, Seite 286 RUDOLF ROCKER, Nationalismus und Kultur II, Bremen o.J., Seite 540 ERNST BLOCH, Geist der Utopie (erste Fassung 1918), Frankfurt 1985, Seite 400 ALEXANDER HERZEN, Die gescheiterte Revolution, Frankfurt 1977, Seite 215 2 RUDOLF STAMMLER, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Berlin 1970, Seite 118 PETER KROPOTKIN in PAUL ELTZBACHER, Der Anarchismus, Berlin 1977, Seite 131 PIERRE-JOSEPH PROUDHON in HECTOR ZOCCOLI, Die Anarchie und die Anarchisten, Berlin 1980, Seite 96 HANS KELSEN, Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1975, Seite 16 ERICH MÜHSAM, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat, Berlin o.J., Seite 35 ERNST BLOCH, Das Prinzip Hoffnung III, Frankfurt 1978, Seite 1510 MICHAIL BAKUNIN, Staatlichkeit und Anarchie, Frankfurt/Berlin/Wien 1972, Seite 726 MICHAIL BAKUNIN, Staatlichkeit und Anarchie, Frankfurt/Berlin/Wien 1972, Seite 726 Vgl. GUSTAV RADBRUCH, Rechtsphilosophie, Stuttgart 1973, Seite 34 |