ra-4
Wahrnehmung und unbewußte Schlüsse
PAUL JULIUS MÖBIUS

 
Wahrnehmen heißt, die Empfindungen auf einen Gegenstand beziehen. Es wird wohl von Allen zugegeben, daß eine Erklärung der Empfindungen nicht möglich ist, denn unser ganzes Wissen besteht darin, daß auf gewisse Veränderungen der Sinnesorgane gewisse Empfindungen folgen. Zu sagen, wie das zugeht, das kann niemand von der Psychologie verlangen. Diese pflegt dann auch von den Empfindungen auszugehen und weitläufig zu untersuchen, wie die Empfindungen zur Wahrnehmung werden. Die empirische Psychologie uns darüber belehren soll, was wir innerlich erleben, so sollte sie auch in diesem Fall von der Erfahrung ausgehen. Jedoch, der Redliche muß bekennen, daß er nicht weiß, wie er dazu kommt, etwas wahrzunehmen. Er mag seine Erfahrung durchforschen, wie er will, er wird finden, daß er immer etwas gesehen, gehört usw. hat, daß seine Wahrnehmungen immer von vornherein fertig gewesen sind. Man kann rot sehen, aber das ist immer das Erste, und nur durch künstliche Bemühungen gelangen wir dahin, vom Objekt zu abstrahieren, unsere Wahrnehmung zu zerteilen und die Empfindung als solche zu betrachten. Wenn also der Psychologe lehrt, daß wir die Empfindungen verschmelzen und aus ihnen Wahrnehmungen aufbauen, so trägt er Spekulationen vor, aber keine Ergebnisse der Erfahrung. Aus dem Reich der Phantasie stammt auch alles, was uns über die "Entstehung" der Raumanschauung erzählt wird. Nach Form und Inhalt ist uns die Wahrnehmung fertig gegeben, sie wird nicht aufgebaut, sondern wir versuchen nur hinterher, sie zu zerlegen. Sollte sie wirklich aufgebaut werden, so sind wir an der Sache unschuldig, wir gleichen dann Leuten, die im Zimmer sitzen, denen die arrangierte Speiseschüssel vorgesetzt wird, und die nicht in die Küche gucken können. Auch die Beziehung auf den Gegenstand ist uns völlig rätselhaft. SCHOPENHAUER hat bekanntlich von einer "intuitiven" Anwendung der Kausalität gesprochen, so als suchten wir nach einer Ursache unserer Empfindungen und schaffen dadurch das Objekt. Andere haben von "unbewußten Schlüssen" geredet, was ungefähr dasselbe besagen will. Natürlich ist von einem Nachweis keine Rede, es heißt nur: es muß so sein, denn wie sollten wir sonst zum Richtigen kommen? Die Annahme von unbewußten Schlüssen überhaupt mag uns bei den sogenannten Sinnestäuschungen sehr einleuchtend vorkommen, aber wenn sie gemacht werden, so geschieht es hinter einer Türe, die uns für immer verschlossen ist. Wir, und zwar der Gelehrte ebenso wie das Kind, empfangen die Wahrnehmung als fertiges Geschenk. Mit anderen Worten, alles, was vor der Wahrnehmung liegen mag, ist keine Tätigkeit des uns bekannten Ich, somit kein Gegenstand der empirischen Psychologie.

LITERATUR, Paul Julius Möbius, Die Hoffnungslosigkeit aller Psychologie, Halle/Saale 1907