ra-4
 
Vom Gegebenen
JULIUS KAFTAN

Raum, Zeit, Ding, Bewegung - waren von jeher ein Gegenstand der Skepsis. Gehören sie wirklich zum Gegebenen und werden nicht erst von uns in dasselbe hineingetragen? Wer hat denn je eine Entfernung zwischen zwei Dingen gesehen? wer eine Zwischenzeit zwischen zwei Tönen gehört? wo war ein Ding und nicht bloß dessen Eigenschaft jemals gegeben? wo die Veränderung, wo der Wechsel? So stürzen die Formen der Erfahrung zusammen, höchstens das Ich bleibt übrig als ein rettender Anker im allgemeinen Schiffbruch. Dieses Ich scheint für sich gegeben, die Formen der Erfahrung sind es weder für sich noch in der Empfindung: mithin  sind  sie überhaupt nicht. Aber  niemand  kann diese Vernichtung allen Denkens länger als einen Augenblick ertragen, und wieder aufblickend aus der Vertiefung in die Skepsis fühlt sich auch jeder sofort von gegebenen Gestalten, Zeiträumen, Dingen und Veränderungen ergriffen: indem er sich dann weiter erinnert, daß, wenn all das nicht gegeben wäre, sondern aus uns erst hineingetragen würde, man es willkürlich müßte verändern können, kommt er von selbst zu dem Schluß, daß die Formen der Erfahrung doch wohl durch das Seiende bedingt sind. So dringt der Zweifel allerdings nicht durch, allein der Kinderglaube, alles, was mit Augen gesehen, mit Händen betatstet werde, sei real, der ist nun doch ein für alle Mal dahin. Und so entspringt die Frage, wo es denn nun durch das Denken zu einer solchen Setzung kommen könne, die dem Gesetzten das Sein zuschreibt. In der Empfindung war sie unmittelbar. Aber das nützte uns nichts; denn an den Empfindungen kleben die Formen der Erfahrung, und diese wollen die absolute Setzung nicht vertragen, denn wir können uns weder gleich wieder von ihnen los machen im Leben, noch sie ohne weiteres aus dem Denken verbannen, folglich: was empfunden wird, das  ist,  was gedacht wird  nicht. 

LITERATUR, Julius Kaftan, Sollen und Sein in ihrem Verhältnis zueinander, Leipzig 1872