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  Josiah Royce und der Amerikanismus
GUSTAV MÜLLER

ROYCE erforschte den anarchischen Individualismus der  Pioniere  in seinem Zusammenstoß mit einer südlichen Rasse und Kultur in seinem Übergang in geordnete Verhältnisse. Der Pioniergeist ist individualistisch und zugleich grausam gegen das Individuum. Er pocht auf die Selbständigkeit der Einzelnen, aber er wünscht nicht, daß der eine vor dem anderen etwas voraus hat. Seine Entferntheit von der Zivilisation, die harte Arbeit unter zufälligen Bedingungen nähert ihn dem Zustand der Wildheit, wo einige wenige Konventionen, Schlagworte eine abergläubische und furchtbare Macht ausüben, wo die Religion zurücksinkt auf die Stufe bloßer Gefühlserregung und Entladung. Der Pionier ist idealistisch in seinem Vertrauen auf das Ungesehene, in seinem Abenteuermut, aber ihm fehlt der Wert des vertrauten Umgangs, der liebenden Eingewöhnung und Tradition. Wo er hinkommt, läßt er Wüsten hinter sich, verbrannte Wälder, mißhandelte Landschaften.

In Kalifornien stießen die amerikanischen Squatter [Landeroberer - wp] auf eine spanisch-mexikanische Kultur; friedliche, weiche Menschen, die sich an der sonnigen Gegenwart erfreuen, die dem unbekümmert geradlinigen Fortschrittseifer der Yankees abhold waren. Die Yankees kümmerten sich nicht um die Gesetze und Ordnungen, die sie vorfanden, sondern errichteten ihr eigenes Gesetz, "der Freiheit und Gleichheit", das Recht des Landraubs. So besetzte eine amerikanische Gruppe mitten im Frieden eine mexikanische Stadt, nahm ihre Führer gefangen und richtete eine Proklamation "des Wolfs an das Schaf", wie ROYCE es nennt, an die Bevölkerung, mit dem Inhalt, daß die Amerikaner gekommen seien, Freiheit und Gleichheit und die Prinzipien der Menschheit und Menschlichkeit zu beschützen. Niemand nahm sich die Mühe, die Proklamation ins Spanische zu übersetzen, aber die Sprache war deutlich genug. ROYCE begleitet das Ereignis mit folgendem Kommentar: "Das Pathos dieses Yankee-Schreiners (IDE, des Führers), die offenbare Ehrlichkeit und Gutmütigkeit seiner Absichten, das Bild des Narrenruhms, das er so trefflich darstellt, der gewichtige Unsinn, den er predigt, - all seine beschwingten Worte gehen verloren an eine Menge schlaftrunkener, passiver, überrumpelter Bürger von Sonoma, die ihr großen schwarzen Augen entsetzt auf ihn heften und nichts fühlen als die Drohungen der Ketzer aus dem Sacramento-Tal. Diese Szene ist ein so monumentales Werk unbewußter Kunst, so vollkommen und so schrecklich repräsentativ, daß man sie nicht leicht vergißt. Wenn ich je wieder von unserer großen nationalen Mission als Zivilisatoren Spanisch-Amerikas höre, dann werde ich nichts vor mir sehen können als den armseligen IDE, der als der selbstgemachte Kapitän eines Haufens von Marodierern wohlwollend vor einigen vierzig oder fünfzig gefangenen, unschuldig eingesperrten Bürgern von Sonoma steht, indem er in seiner devoten Freundlichkeit fühlt, daß er Gott dient, während er sie in einer unverständlichen Rhetorik anbellt, beginnend mit den unveräußerlichen Menschenrechten und schließend mit einem Hinweis auf WASHINGTON."

Was ROYCE in Kalifornien zuerst über das Zusammenleben verschiedener Rassen und Kulturstufen eingesehen hat, wendete er auch auf die  Negerfrage  des Südens an.

Zunächst bekämpfte er die Rassentheoretiker. Er mißtraut Theorien, die immer beweisen, was wir selber wünschen. Er zeigt, wie sich dieselben Rassen in veränderten Zeiten verändern, wie Kulturrassen unter dem Druck sozialer oder natürlicher Widrigkeiten entarten, wie kulturlose Rassen aufsteigen. "Was wäre aus den Germanen geworden, wenn CÄSAR mit Maschinengewehren, Strömen giftigen Schnapses und Waldbränden in Germanien einmarschiert wäre und sie kunterbunt in ein paar Reservaten als kulturunfähige Überreste geduldet hätte?" Gebt den Negern das Recht und die Möglichkeit, sich selbst zu verwalten. Laßt sie über sich selbst richten, laßt sie sich selbst in Ordnung halten. Wenn ihr überlegen seid, so beweist es doch durch Gerechtigkeit und Maß. Ihr beweist es keinesfalls, wenn ihr dem Neger täglich vorredet, daß er minderwertig ist. Ein solches Benehmen könnte auch der beste Mensch auf die Dauer nicht ertragen, ohne Schaden zu leiden. Wenn Lynchen zu einer notwendigen Volksbelustigung geworden ist und die ganze weiße Bevölkerung an einer sexuellen Hysterie krankt, während zugleich die Neger immer weißer werden, so fällt die Verantwortung für diese sonderbare Atmosphäre offensichtlich den Weißen zu.

Der Übergang aus einem unbeschränkten Individualismus in ein geordnetes Gemeinwesen wird für ROYCE ein Sinnbild für das Grundproblem der Ethik. "Der Philosoph", sagt er einmal, "ist ein Pionier, welcher die eingehegte und angebaute Erfahrung überschreitet. Aber er muß beweisen, daß die Götter der Wildnis auch die Hüter der Städte sind." Der Mensch kann nie vergessen, daß er ein Pionier von Natur aus, ein Entdecker und Gründer seines eigenen Heims ist. Aber diese unruhige, schweifende Sehnsucht kommt immer in Konflikt mit gegebenen Ordnungen, denen er sich nicht entziehen kann, die er immer wieder von neuem schafft. Der Konflikt läßt sich niemals einseitig lösen. Er läßt sich nur dann lösen, wenn die Gemeinschaft als eine transzendente, ideale Gemeinschaft auch die wurzelhafte Sehnsucht des Individuums einschließt und restlos erfüllt. Empirische Gemeinschaften können dies nie; wenn sie es tun, verkrüppeln sie den Menschen. Sie sind Notstege. "Wenn wir denken, daß die soziale Ordnung unser Instrument ist, wodurch wir unsere Privatgewinne zu machen gedenken, dann wird diese soziale Ordnung faul. Wir nennen sie dann entartet, kraß, verdorben, ungeistig und fragen, wie wir ihr entgehen können. Aber wenn wir uns ihr trotzdem zuwenden und ihr dienen, dann finden wir, daß ihr Dienst der Dienst an unserem eigenen höchsten Gut ist, verkörpert in erfahrbarer Form. Sie ist niemals dürftig, verdorben, ungeistig, sondern  wir  sind es, wenn wir unsere Pflicht vergessen." Er nennt dies die Lektion der Kalifornischen Geschichte für seine Entwicklung, denn "der Kalifornier neigt dazu, die bloße Lebensfülle zu überschätzen, die ordnenden Beziehungen dieser Fülle aber sehr gering zu schätzen."

Als ROYCE nach Harvard zog hat er dort eine imposante nationale Stellung errungen. Wie stellt er sich zum  Amerikanismus?  Er nennt ihn mit HEGELs Ausdruck einen "selbstentfremdeten Geist". Die industrielle Technik und die großkapitalistische Wirtschaft entfremdet den Einzelnen von seiner eigenen Tätigkeit. Nicht nur die Arbeit selbst wird mechanisch, unpersönilch, abstrakt, sondern auch der Zweck des Unternehmens erscheint dem Einzelnen nicht mehr als ein Zweck, der ihn notwendig packt und ausfüllt, sondern er packt ihn nur äußerlich bei seinen primitivsten Interessen und läßt ihn innerlich vogelfrei, zu arbeiten, wo es gerade eine Gelegenheit gibt. Und wie in der Wirtschaft, so verschwinden auch in der Politik die Zwecke des Ganzen aus dem Gesichtsfeld des Individuums. Die Politik wird von Zwecken geleitet, die dem Einzelnen verborgen bleiben; anstatt dessen tritt die vage Vorstellung und der Rausch materieller Größe und Macht anstelle eines verantwortlichen Patriotismus. Ist das Individuum als Subjekt des Systems einer sinnvollen Zwecktätigkeit beraubt, so fällt es nun als Objekt den gleichmachenden Tendenzen der mechanischen Zivilisation anheim. Alle werden von den gleichen Zeitungen, den gleichen Filmen, den gleichen Anpreisungen beeinflußt und gewöhnen sich so an eine beständige Massenstimmung, die durch die Abwesenheit eines selbständigen Urteils, leichte Beeinflussung, äußerliche und rasch wechselnde Wertungen charakterisiert wird. Sensationen "geistiger" wie materieller Art müssen für die Langeweile, für die Abwesenheit einer begeisternden Loyalität zu einer Sache, Ersatz bieten. Nach Neuigkeiten gierig, fällt das Publikum auf jeden Quacksalber herein, der sich gehörig in Szene zu setzen weiß. "Unsere Ideale werden vager und ruheloser, während unsere materiellen Tätigkeiten immer stetiger von der Macht des Übels gefesselt werden - Betrug, Geschmacklosigkeit, Despotismus - und wir werden enden, wo andere geendet haben, in einem nationalen Zusammenbruch, in sozialem Chaos, in Erniedrigung, in den Klauen eines einheimischen oder fremden Eroberers."

"Das Anwachsen unweisen Luxus', die brutale Macht schlecht verwendeten Reichtums, die unguten Seiten unseres politischen Lebens, die Übel unserer großen Städte - welcher gebildete Amerikaner würde die Größe dieser Krankheit in unserer Mitte unterschätzen?"

Aber Kritik setzt Erkenntnis voraus. Es kommt alles darauf an, daß Kritik und Erkenntnis sich gegenseitig stärken. "Der Amerikaner ist wesentlich ein Idealist", aber sein Idealismus ist heute zu vage, zu allgemein, zu großzügig, zu sehr gedankenlosen Schlagworten und Moden zugänglich. Es kommt also darauf an, ihn bestimmt, sachlich, im einzelnen kompetent zu machen. ROYCE empfiehlt zunächst, was er  "Provinzialismus"  nennt. Einmal im wörtlichen Sinn: der ausschleifenden, aushöhlenden, nivellierenden Tendenz der standardisierenden Wirtschaft soll als Gegendamm die kulturelle Selbständigkeit der Provinz errichtet werden. Die Provinz soll versuchen, sich zu individualisieren, ihre Tradition zu pflegen, gemeinsame Werke auszuführen, sich zu verschönern, durch ihre Schulen eine Freiheit des kritischen Denkens zu bilden.

Die Hauptsache aber ist "Provinzialismus" im übertragenen Sinn. Jeder sollte sich bestreben, irgendwo kompetent, gründlich, sachlich zu werden, irgendwo eine Liebhaberei ausbilden, der er sich widmen, an der er einen Gehalt gewinnen, wodurch er in die eintönige Schablonengesellschaft Abwechslung und Vielheit bringen könnte. Hat er irgendwo gelernt, was Sachlichkeit ist, so wird er auch aufhören, auf alle Allgemeinheiten hereinzufallen und einen Sinn entwickeln für das, was echt und sachlich ist und für das, was Bluff und Kitsch ist. Im übrigen wird er sich bescheiden und andere gelten lassen.


LITERATUR, Gustav E. Müller, Amerikanische Philosophen, Stuttgart 1950