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Was ist ein Ding?
JONAS COHN

Was ist ein Ding? und: was ist ein Ding? Für den ganz naiven Menschen ist ein Stein, ein Baum, ein Stock, ein Mensch ein Ding. Was sich fassen läßt, gesonderte Form und Bedeutung und eine gewisse Dauer des Bestandes hat, erscheint ihm dinghaft. Wie schwankend diese Bestimmung ist, kann schon aus der Verlegenheit ersehen werden, in die ihn die Frage bringt, ob eine Wolke ein Ding ist, ob Wasser und das aus diesem Wasser entstandene Eis dasselbe Ding ist, ober der Fluß bei einem fortwährenden Wechsel seines Wassers doch wegen der annähernd gleichen äußeren Form als ein Ding anzusehen ist. In diesen Bedenken haben wir die ersten Ansätze zu den wissenschaftlichen Umgestaltungen des Dingbegriffs, die von den Eleaten und HERAKLIT bis zu den atomistisch oder energetisch gefaßten Erhaltungsgrößen der neueren Naturwissenschaft reichen. So verliert die Dinghaftigkeit ihr scheinbar selbstverständliches Dasein, und als ihr Kern oder doch zumindest als wesentlicher Teil ihres Kerns enthüllt sich die Forderung des Erkennens, in allem Wechsel ein Gleichbleibendes zu finden. Die Abgrenzung des als Einheit erfaßten Dings zeigt sich noch viel deutlicher abhängig nicht nur vom reinen erkennenden Ich, sondern von einem Ich, das durch mannigfache Interessen näher bestimmt ist. Dem Landmann ist der Ochse ein einheitliches Ding, der Hausfrau das Stück Ochsenfleisch, das sie für ihre Küche einkauft. Was wir als ein Ding betrachten, ist im gewöhnlichen Leben von Gesichtspunkten abhängig, die außerhalb des Erkennens liegen. In der Wissenschaft treten an deren Stelle die besonderen wissenschaftlichen Interessen. Der Biologe wird je nach der Richtung seiner besonderen Aufgabe bald das ganze Tier, bald die einzelne Zelle als ein Ding betrachten. Der Chemiker zerstört nicht nur in seiner Retorte, sondern auch in seinen Begriffen die dingliche Einheit der Zelle; ihm ist sie ein komplexes Gebilde, dessen dinghafte Bestandteile, Moleküle und Atome, mehr oder weniger rasch wechseln. Erkannt man so, daß Dingheit und Einheit nur relativ zum besonderen Erkenntniszweck gefaßt werden können, so wird man die Dinge nicht mehr als fertige äußere Gebilde dem erkennenden Ich gegenüberstellen. Sie sind nicht unabhängig von diesem Ich irgendwo da, um sich in ihm abzubilden oder abzuspiegeln, sondern sie sind Dinge nur durch die Arbeit des formenden, erkennenden Ich.

LITERATUR, Jonas Cohn, Voraussetzungen und Ziele des Erkennens, Leipzig 1908