Wie stellt ein Spiegel die Bedingungen her, unter welchen für ein Auge das Bild eines Gegenstandes entstehen kann? Er vermag es nur, indem er die Lichtstrahlen, die der Gegenstand auf ihn sendet, mit Beibehaltung ihrer gegenseitigen Ordnung nach einer anderen Richtung zurückwirft, und hierzu wird er nur durch Glätte und Form seiner Oberfläche befähigt. Von diesen Eigenschaften hängt es ab, ob er die Strahlen so regellos zerstreut, daß kein Auge sie zu einem Bild vereinigen kann, oder ob er sie so wieder ausschickt, daß sie divergierend ein reelles Bild zusammensetzen, das dem Auge wie ein neuer Gegenstand sichtbar wird. Mit dem allen aber stellt der Spiegel doch nur den Reiz her, der auf die Sehkraft ähnlich wirkt, wie der Gegenstand selbst, und deshalb ihn vertreten kann; fragen wir aber, wie nun infolge desselben ein Bild gesehen werden kann, so empfinden wir, wie unpassend überhaupt die Vergleichung einer Erkenntnis mit einer Abbildung ist. Das erkennende Bewußtsein ist keine widerstehende gekrümte oder ebene, glatte oder rauhe Oberfläche, und es würde ihm nichts helfen, empfangene Strahlen irgendwohin zu reflektieren; in sich selbst und in seiner zusammenfassenden Einheit, die kein Raum und keine Platte, sondern eine Tätigkeit ist, muß es die erregten Einzelvorstellungen zur Anschauung einer räumlichen Ordnung verbinden, welche nicht selbst wieder eine räumliche Ordnung, sondern eben nur deren Vorstellung ist. Denn wenn nun auch, wie vielleicht Einige meinen, die Vorstellung eines linken Punktes in unserem Bewußtsein links neben der Vorstellung eines rechten Punktes läge, und die eines oberen über der eines unteren, so wäre durch diese Tatsache noch nicht die Anschauung dieser Tatsache gegeben; hierdurch allein würden wir uns in der Tat nur als ein Spiegel verhalten, in welchem die Wahrnehmung einer anderen Seele die Lage jener Punkte entdecken könnte, wenn diese Seele wenigstens das vollbrächte, was unsere eigene nicht getan hätte: wenn sie nämlich die von uns in bestimmter Ordnung ihr zugestrahlten Eindrücke nicht bloß erleiden und in sich beherbergen würde, sondern sie sich zur Veranlassung dienen ließe, eine zusammenfassende Anschauung dieser Ordnung zu erzeugen. Nichts also bleibt von diesem ungenauen Gleichnis übrig, als die Überzeugung, daß selbst die bloße Wahrnehmung eines Sachverhalts, so wie er ist, nur unter der Voraussetzung möglich ist, das wahrnehmende Subjekt sei durch seine eigene Natur befähigt und genötigt, die von den Gegenständen ihm zugekommenen Anregungen in diejenigen Formen zu vereinigen, die es an ihnen anschauen soll und von ihnen einfach zu empfangen glaubt. Daß es sich ebenso verhält mit allen Vorstellungen, die wir über den inneren Zusammenhang verschiedener Wahrnehmungen bilden, füge ich vorderhand nur kurz hinzu: denn eben dies ist am öftersten zugestanden worden. Daß wir eine ursächliche Verbindung zwischen zwei Ereignissen nicht sehen, daß vielmehr die Vorstellung einer solchen erst von uns zur wahrnehmbaren Zeitfolge der Begebenheiten hinzugebracht wird, hat man allseitig eingeräumt.
LITERATUR - Hermann Lotze, System der Philosophie, Erster Teil: Drei Bücher der Logik (vom Denken, Untersuchen und Erkennen), Leipzig 1912