ra-2Edgar JaffeAlbert Schäffle    
 
MAX NORDAU
(1849-1923)
Die wirtschaftliche Lüge
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"Den Professoren der Nationalökonomie graut vor dem Müßiggang der Menschen und sie sehen alles Heil in der äußersten Ausnutzung der Arbeitskraft. Ihre Lehre läßt sich in zwei Gebote zusammenfassen: Verbraucht möglichst viel, gleichviel ob der Verbrauch durch ein wirkliches Bedürfnis gerechtfertigt ist oder nicht, erzeugt möglichst viel, gleichgültig, ob das Erzeugnis nötig ist oder nicht. Diese weisen Männer machen keinen Unterschied zwischen dem Feuerwerk, das bestimmt ist, zum albernen Augenaufreißen müßiger Dummköpfe in einer Minute verpufft zu werden und der Werkzeugmaschine, welche jahrelang nützliche Betten und Schränke erzeugt. Jedes Feuerwerk kostet 50 000 Mark; es repräsentier außer dem Rohstoff die einjährige Arbeit von fünfzig Arbeitern, die fortwährend in Lebensgefahr waren. Diese Werkzeugmaschine kostet 10 000 Mark. Der Nationalökonom stellt gleichmütig seine Berechnung an und doziert: das Feuerwerk sei genau fünfmal soviel wert wie die Maschine; die Arbeiter seien in beiden Fällen gleich zweckmäßig verwendet worden; die Hervorbringung des Feuerwerks habe das Land in demselben Maß bereichert, wie die Hervorbringung von fünf Arbeitsmaschinen; und wenn es möglich wäre, eine Million Arbeiter mit der Erzeugung von Feuerwerkskörpern zu beschäftigen, jährlich um eine Milliarde dieser Güter hervorzubringen und abzusetzen, so könnte man dem Land zur Blüte dieser interessanten Industrie und den Arbeitern zu ihrem Fleiß und ihrer Leistungsfähigkeit Glück wünschen."

"Ist es recht, daß der Reiche in Müßiggang schwelge, weil er es verstanden hat, das Land an sich zu reißen oder die Menschenarbeit auszubeuten, so muß es auch billig sein, daß der Arme ihn totschlage und sein Vermögen als gute Prise behandle, wenn er zu einem solchen Unternehmen den Mut oder die Stärke hat. Das ist logisch. Freilich geht bei dieser Logik die Gesellschaft zu Grunde und die Zivilisation zum Teufel und die Menschen werden zu Raubtieren, die einzeln in den Wäldern schweifen und einander zerreißen."


III.

Die erste Frage, die sich bei der Betrachtung dieses Bildes aufdrängt, ist die: Muß die ökonomische Lage sein, wie sie ist? Stehen wir vor einem unabänderlichen Naturgesetz oder vor den Folgen menschlicher Torheit und Beschränktheit? Warum schwelgt eine Minderheit im Genuß aller Güter, an deren Erzeugung sie nicht teilnimmt? Warum ist eine nach Millionen zählende Menschenklasse zum Hungern und Darben verurteilt? Hier stoßen wir auf den wichtigsten Punkt des Problems, das gelöst werden soll. Es handelt sich darum, zu wissen, ob die Dürftigen hungern, weil die Erde für sie keine Nahrung in genügender Menge hervorbringt oder ob sie hungern, weil die Nahrung, obwohl vorhanden, nicht an sie gelangt. Nun denn, die letztere Alternative können wir unbedingt ausschließen. Wenn Nahrungsmittel in reichlicher Menge und guter Beschaffenheit für alle vorhanden wären, so müßte der Teil, der auf den Armen entfällt, den er sich aber nicht verschaffen kann, unverbraucht übrig bleiben. Die Erfahrung lehrt, daß nichts derartiges geschieht. Ein jedes Jahr verbraucht seine ganze Ernte an Körnerfrüchten und sonstigen Nährpflanzen aller Art, wenn die neue Ernte eingeheimst wird, ist die vorjährige fast immer bereits völlig erschöpft, ohne daß darum die ganze Menschheit im abgelaufenen Jahr täglich satt geworden wäre, man hat noch nie gehört, daß Getreide dem Wurmfraß überlassen wurde, weil keine Verwendung dafür zu finden war und Fleisch ist noch nie aus Mangel an Käufern verfault. Gewiß, die Reichen vergeuden mehr Güter, als sie brauchen und als auf sie entfallen würden, wenn nur die Ansprüche ihres Organismus maßgebend wären; aber unter diesen Gütern nehmen die wesentlichsten, die Nahrungsmittel, die kleinste Stelle ein; der Millionär verpraßt Menschenarbeit für seine Launen, seinen Übermut oder seine Eitelkeit, er wirft Kleider weg, die noch nicht im Entferntesten ausgedient haben; er läßt Häuser von unnötiger Ausdehnung bauen und füllt sie mit überflüssigem Gerät; er entzieht Menschen der nützlichen Produktion und erhält sie im lasterhaften Müßiggang von Lakaien und Gesellschafterinnen oder in der Scheintätigkeit von Kutschern, Leibjägern usw.; Nahrungsmittel jedoch verbraucht er, die liederlichste Wirtschaft vorausgesetzt, höchstens viermal soviel, als zur Befriedigung seiner organischen Bedürfnisse nötig wäre. Setzen wir voraus, daß es in der zivilisierten Welt eine Million solcher Verschwender gibt; mit ihren Familienmitgliedern würden sie fünf Millionen Individuen ausmachen; diese fünf Millionen würden Nahrungsmittel für zwanzig Millionen, also außer ihrem eigenen natürlichen Anteil den von fünfzehn Millionen anderer Menschen verbrauchen. Damit würde erst erklärt sein, daß 15 Millionen gar nichts oder 30 Millionen bloß halb so viel, als sie unbedingt brauchen, für sich auftreiben können. Man kann aber die Zahl der Notleidenden und Entbehrenden in Europa allein mit Sicherheit auf das Doppelte, auf 60 Millionen veranschlagen. Es bleibt also nichts übrig als die andere Annahme: daß nämlich die Erde keine genügende Nahrung für Alle hervorbringt und daß darum ein Teil der Menschheit ohne Gnade zum physiologischen Elende verurteilt ist.

Ist das eine Folge natürlicher Verhältnisse? Erzeugt die Erde nicht mehr Nahrungsmittel, weil sie dazu unvermögend ist? Nein. Sie gibt keine Nahrung, weil man sie nicht von ihr verlangt. Als die kapitalistische Moral vor das Problem des Mißverhältnis zwischen den hungrigen Mündern und den zu ihrer Sättigung vorhandenen Nährstoffen gestellt wurde, da brach sie sich nicht lange den Kopf über die Lösung, sondern fand alsbald einen biederen MALTHUS, der unbefangen sagte: "Die Erde vermag die Menge der Menschen nicht mehr zu ernähren? Nun denn, so muß man einfach diese Menge vermindern." Und er predigte die geschlechtliche Enthaltsamkeit, aber nur für die Armen. Um ein weniges hätte er vorgeschlagen, daß man jedes Individuum, das nicht mit Renten geboren ist, kastriere und die Menschheit nach dem idealen Muster der Ameisen- oder Bienengesellschaft reformiere, in der einige wenige Individuen das Privileg der Fortpflanzung besitzen, während die große Masse geschlechtslos ist und nur für die vollentwickelten Individuen zu arbeiten das Recht hat. In einer solchen Gesellschaftsordnung würde zum Glück der Millionäre in der Tat gar nichts fehlen. Den Satz umzukehren, zu sagen: "Die Menge der Nahrungsmittel reicht für die Menschen nicht mehr aus? Nun denn, so muß man sie eben vermehren!" das ist dem frommen MALTHUS und seinen Nachbetern nicht eingefallen; und doch solte man denken, daß dieses Heilmittel der wirtschaftlichen Nöte nahe genug liegt. Oder sollte es wirklich einen Menschen im Besitz seines gesunden Verstandes geben, der zu behaupten wagen würde, daß es unmöglich sei, die Nahrungsmittelproduktion der Erde zu vermehren? Einem solchen Kauz hätte man bald genug mit einigen Zahlen heimgeleuchtet. Europa ernährt auf 9 710 340 Quadratkilometern 316 Millionen Bewohner; das heißt es ernährt sie höchst unvollkommen, denn es bezieht aus Indien, dem Kapland, Algerien, Nordamerika und dem australischen Festland Getreide und Fleisch in großen Mengen, ohne selbst von seinen Nahrungsmitteln etwas anderes als höchsten Wein abzugeben und läßt trotz dieser Lebensmittelanleihen bei allen übrigen Weltteilen einen großen Teil seiner Bevölkerung darben. Europa erweist sich also im Ganzen betrachtet scheinbar unfähig, auf einem Quadratkilometer 32 Menschen ausreichend zu ernähren. Nun erhält aber Belgien auf 29 455 Kilometern 5 536 000 Einwohner; in diesem Land ist also ein Quadratkilometer völlig ausreichend, 200 Menschen zu ernähren, mehr als sechsmal die Durchschnittszahl, die wir für ganz Europa gefunden haben. Würde der Boden ganz Europas so bearbeitet wie der Belgiens, so könnte es statt seiner 316 Millionen darbender Menschen 1950 Millionen ernähren, weit mehr als die ganze Menschheit heute beträgt, oder wenn es bloß seine 317 Millionen enthielte, so müßten für jeden einzelnen von diesen sechsmal so viel Lebensmittel vorhanden sein, als er bei reichstem Ausmaß verbrauchen kann. Ein Einwand ist hier vorauszusehen: Belgien genügt eben seinem Bedarf nicht und muß Lebensmittel einführen. Gut. Nehmen wir an, daß Belgien ein volles Viertel seines Lebensmittelbedarfs im Ausland kauft. Es ernährt dann immer noch 150 Menschen auf einem Quadratkilometer, was für ganz Europa 1458 Millionen ergäbe, noch immer mehr als die ganze Menschheit zählt. Nehmen wir ein anderes Beispiel. China (ohne die Nebenländer) mißt 4 024 890 Quadratkilometer, auf denen 405 Millionen Menschen wohnen. Der Quadratkilometer nährt also über 100 Menschen und zwar vollständig, denn China, weit entfernt Lebensmittel einzuführen, verkauft noch große Mengen Reis, Konserven, Tee usw. Auch ist in China nach dem übereinstimmenden Zeugnis aller Reisenden Hunger und Elend nur in Jahren des Mißwuchses bekannt, was sich aus den unentwickelten Verkehrsverhältnissen erklärt und nicht einem Nahrungsdefizit des ganzen Reiches zugeschrieben werden darf. Also wenn Europa auch nur so bewirtschaftet wäre wie China, so könnte es noch immer gegen 1000 Billionen Menschen ernähren statt seiner 316, die sich da so schlecht befinden, daß ihrer jährlich viele Hunderttausende nach den übrigen Weltteilen auswandern.

Warum stellt man nun an den Boden keine größeren Anforderungen, da doch die Erfahrung lehrt, daß er ihnen durchaus entsprechen kann? Warum bemüht man sich nicht, soviel Nahrung hervorzubringen, daß alle Menschen im Überfluß schwimmen könnten? Aus einem einzigen Grund: weil der Kapitalismus zu einer einseitigen und unnatürlichen Entwicklung unserer Kultur geführt hat. Alle Zivilisation drängt zur Industrie und zum Handel und lenkt von der Nahrungsmittelerzeugung ab. Der Physiokratismus, welcher lehrt, daß der einzig wahre Reichtum eines Landes seine Bodenprodukte seien, wird seit einem Jahrhundert von der offiziellen nationalökonomischen Wissenschaft, die sich zum Hofnarren der egoistischen und kapitalistischen Wirtschaftsordnung erniedrigt hat, als ein naiver Irrtum verlacht. Wie der einzelne Sohn des Feldes seine Scholle, die Freiheit der ländlichen Natur, den Überfluß an Licht und Luft verläßt, um sich mit einer Art selbstmörderischen Triebes in die tödlichen Gefängnisse der Fabrik, der großstädtischen Arbeiterviertel zu stürzen, so reißt sich auch die Kulturmenschheit in ihrer Gesamtheit immer mehr vom nährenden Acker los und drängt sich in den Pferch der Großindustrie, wo sie erstickt und verhungert. Das ganze Genie der Menschheit, all ihre Erfindungskraft, ihr ganzes Sinnen und Forschen, ihre Ausdauer im Nachspüren und Versuchen ist der Industrie zugewendet. Die Ergebnisse sehen wir; es sind immer wunderbarere Maschinen, immer vollkommenere Arbeitsmethoden, eine immer größere Gütererzeugung. Mit der Nahrungsmittelproduktion aber beschäftigt sich von hundert Erfindungsgenies vielleicht nicht eines. Würde dieser Produktion nur halbsoviel Forschung und Findigkeit gewidmet wie der gewerblichen, dann wäre physiologisches Elend auf Erden einfach undenkbar. Gerade dieser wichtigste Zweig menschlicher Tätigkeit ist aber in einer Weise vernachlässigt, daß man darüber die Hände zusammenschlagen möchte. Wir sind hochzivilisierte Wesen auf gewerblichem Gebiet und mitternachtsfinstere Barbaren im Ackerbau. Wir bilden uns mit Recht etwas darauf ein, daß wir in der Fabrikation mit staunenerregendem Scharfsinn die scheinbar völlig unverwertbaren Abfälle auch noch ausnutzen und verbrauchen können; dabei aber lassen wir wenigsten die Hälfte aller Abfälle der menschlichen Ernährung, den Inhalt der städtischen Abzugskanäle, unbenutzt in die Flüsse ablaufen, die wir dadurch noch obendrein vergiften und in die See, die uns in Gestalt von Fischen und Schalentieren nicht ein Tausendstel dessen wiedergibt, was sie von uns empfängt. Diese Vergeudung von Millionen Tonnen der wertvollsten Rückstände ist zugleich himmelschreiend und doch auch komisch, wenn man sie mit der Ängstlichkeit vergleicht, mit der man jeden Tropfen Schwefelsäure in der Chemikalien-Fabrikation zu Rate zieht und mit der mitleidverdienenden Hast, mit der ein Erfinder ein Patent nimmt, wenn es ihm gelungen ist, ein Verfahren zu ersinnen, das die Verwertung irgendeines Fabrikskehrichts gestattet. Wir rühmen uns, die Naturkräfte unterjocht zu haben und lassen ruhig Millionen Quadratkilometer Wüsten bestehen, obwohl wir theoretisch wissen, daß es schlechterdings kein Gebiet gibt, das notwendig Wüste sein muß und daß jeder Boden und wenn er aus eisernen Schuhnägeln oder kleingeschlagenen Pflastersteinen bestände, durch Wärme und Wasser, die herbeizuschaffen nur am Pol - vielleicht! - über menschliche Kräfte geht, fruchtbar gemacht wird. Wir zeigen mit Stolz auf Kohlen- und Kupferbergwerke, die mehrere tausend Fuß tief unter die Erde und unter die See gewühlt sind und schämen uns nicht angesichts nackter Bergwände, denen der Mensch, derselbe Mensch, der sich in jene Gruben eingebohrt hat, angeblich nichts abgewinnen kann. Wir beherrschen den Blitz des Himmels und wissen dem Weltmeer, das drei Viertel unseres ganzen Erdballs einnimmt, von seinen unerschöpflichen Nahrungsschätzen kaum ein Atom abzugewinnen. Wie darf es in einer Zeit, die solche mechanische Wunder wie unsere Werkzeugsmaschinen und Präzisionsinstrumente spielend hervorbringt, noch mitten in Europa Sümpfe, fischarme Flüsse, Triften, Brachäcker geben? Wie kann eine Generation nach GAUSS in der Rechenkunst noch so schwach sein, daß man sich nicht an den Fingern abzählt, um wie viel teurer es ist, den Bedarf der Menschen an Eiweißstoffen mit Vieh zu decken, das zu seiner Erhaltung unsere fruchtbare Erde in Anspruch nimmt, als mit Fischen, die uns das sonst zu nichts anderem zu gebrauchende Meer fertig bietet oder mit Geflügel, das keine weiten Wiesen braucht und von unseren Abfällen reichlich leben kann?

Doch ich will mich nicht weiter in Einzelheiten verlieren. Die Tatsache scheint mir genügend erwiesen, daß die Bodenbearbeitung das Stiefkind der Kultur ist. Sie macht kaum einen Schritt nach vorwärts, wenn die Industrie deren hundert macht. Alles, was man seit Jahrhunderten zur reichlicheren Ernährung der Menschheit gefunden hat, ist die Einführung der Kartoffel in Europa, die dem Proletarier ermöglicht, sich einzubilden, daß er satt sei, wenn sein Körper in Wirklichkeit aus Mangel an Nährstoffen langsam verhungert, und die dem Kapitalisten gestattet, den Tagelohn seines Industriesklaven auf das geringste Maß herabzudrücken. Obstgärten, Gemüseäcker, Pilzkeller zeigen, welche Nahrungsfülle das geringste Bodenstückchen zu liefern vermag; die Erfahrung lehrt, daß Menschenarbeit überhaupt nicht lohnender verwertet werden kann, als wenn sie der Erde gewidmet wird; wenn man das Feld mit Schaufel und Grabscheit statt mit dem summarischen Pflug bearbeitete, so würde wahrscheinlich ein sacktuchgroßer Fleck Erde zur Erhaltung eines Menschen ausreichen; wir leiden aber an Nahrungsmangel, die Lebensmittel werden immer teurer und der Industriearbeiter muß immer länger tagwerken, um sich zu sättigen. Die Natur zeigt dem Menschen, daß er nicht ohne den Acker leben kann, daß er des Feldes bedarf wie der Fisch des Wassers; der Mensch sieht, daß er zugrunde geht, wenn er sich von der Stelle losreißt, daß sich nur der Bauer ununterbrochen fortpflanzt, gesund und stark bleibt, während die Stadt ihren Bewohnern das Mark ausdörrt, sie sich und unfruchtbar macht, sie unrettbar nach zwei oder drei Generationen ausrottet, so daß alle Städte in hundert Jahren Kirchhöfe ohne ein einziges lebendes Menschenwesen wären, wenn die Toten nicht durch Einwanderung von den Feldern her ersetzt würden; er besteht aber darauf, den Acker zu verlassen und in die Stadt zu wandern, sich vom Leben loszureißen und den Tod zu umarmen.

Da kommt nun wieder der Professor der Nationalökonomie und belehrt uns mit unerschütterlicher Miene, daß das Maß der Entwicklung des Großgewerbes eines Landes zugleich das Maß seiner Zivilisation sei und daß eine reichentfaltete Industrie einer Nation zum Segen gereiche, indem sie die Güter billig und dadurch auch den Ärmsten zugänglich mache. Das ist eine der verbreitetsten und am häufigsten wiederholten Kapitalistischen Lügen. Die Pest über die Billigkeit der Industrie-Erzeugnisse! Sie erweist niemanden eine Wohltat oder nur dem Unternehmer und Zwischenhändler. Wie die Billigkeit erzielt wird, das haben wir gesehen: durch kapitalistische Konkurrenz, deren Kosten der Arbeiter trägt; durch gewissenlose, verbrecherische Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft. Der Tagelöhner muß zehn, zwölf, vielleicht vierzehn Stunden täglich an seine Maschine gekettet sein, damit das Baumwollzeug so billig werde, wie es ist. Er gelangt eigentlich gar nicht mehr dazu, sich leben zu fühlen. Er verbringt sein Dasein innerhalb kahler Fabriksmauern mit einer Reihenfolge ewig identischer automatischer Bewegungen. Er ist das einzige Lebewesen im Weltall, das während eines so großen Teils seiner Lebenszeit widernatürliche Arbeit verrichten muß, um seinen Organismus zu erhalten. Gewiß, um den Preis solcher Menschenarbeit wird die Ware billig. Aber zunächst wird sie auch schlechter. Unsere ganze Industrie-Entwicklung führt zum Ersatz besseren Rohstoffs durch geringeren und zur möglichsten Verminderung seiner Menge im fertigen Artikel. Warum? Weil der Rohstoff, namentlich so weit er organischer Natur ist, also aus dem Tier- und Pflanzenreich herstammt, nur um den vollen Gegenwert an menschlicher Arbeit zu erhalten, also kostspielig ist. Die Erde läßt sich nicht betrügen; sie gibt Baumwolle und Flachs, Holz und Leim nur dann, webb sue das Äquivalent an Arbeit und Dünger unverkürzt empfangen hat; nicht einmal die Kuh, das Schaf kann man hintergehen, sie bringen Wolle und Felle, Hörner und Klauen bloß im Verhältnis zu ihrer Nahrung hervor. Nur der Mensch ist dümmer als die Erde und einfältiger als Schaf und Kuh und gibt seine Muskel- und Nervenkraft um weniger als den vollen Wert hin. Der Unternehmer hat also alles Interesse daran, mit dem teuren Rohstoff zu sparen und mit der billigen Menschenarbeit freigebig zu sein. Er fälscht und vermindert daher jenen und gibt den Waren durch mühsame oder verwickelte Arbeitsmethoden, das heißt durch reichlichen Verbrauch von Menschenarbeit, ein gutes Ansehen. Im fertigen Stück Baumwollzeug, das der englische Fabrikant auf den Markt bringt, steckt möglichst wenig Baumwollfaser und möglichst viel Menschenkraft. Dieses Zeug ist billig, weil der Fabrikant seine menschlichen Sklaven nicht so zu entlohnen braucht wie die Erde, die ihm die Baumwollfaser liefert. Es ist aber gar nicht nötig, daß die Waren so billig sind. Ihre Billigkeit reizt zu verschwenderischem Verbrauch. Auch der Arme erneuert in der heutigen Kultur Kleider und Hausrat öfter, als unbedingt erforderlich ist und legt Gebrauchsgegenstände ab, die noch dienen könnten, die in Wirklichkeit noch dienen, wie es der große Hanel mit alten Kleidern usw. aus Europa nach überseeischen Ländern beweist. Bei aller Billigkeit der Dinge hat der Europäer, wenn das Jahr herum ist, für sie doch so viel ausgegeben, als wenn sie viel teurer wären, da er sie in diesem Fall einfach länger benutzt hätte. Da haben wir also das praktische Ergebnis dieser berühmten Billigkeit, des Stolzes unseres Wirtschaftslebens. Für den Konsumenten bedeutet sie keine Erleichterung und keine Ersparung, weil sich mit ihr gleichlaufend die tyrannische Gewohnheit der Gütervergeudung entwickelt. Für den Produzenten aber ist sie ein Fluch, denn sie vermindert immer mehr den Preis seiner Arbeit und zwingt ihn zu immer größerer Anstrengung. Da nun jedes nicht zur müßiggängerischen Minderheit gehörige Individuum zugleich Produzent für den einen und Konsument für die übrigen Artikel ist, so kommt bei der ganzen gerühmten Entwicklung der Großindustrie nichts heraus als eine immer heißere, immer wildere Hetzjagd, in welcher jeder Einzelne zugleich Wild und Jäger ist, sich die Seele aus dem Leib rennt und am Ende mit heraushängender Zunge und ohne Atem zusammenbricht. Längere Arbeit des Gütererzeugers, wahnwitzige, sündhafte Güterverschwendung - das ist das unmittelbare Ergebnis der auf Massenproduktion und Billigkeit gerichteten Industrie-Entwicklung. Nehmen wir einmal an, alle Industrie- Erzeugnisse würden bei unverändertem Lebensmittelpreis genau viermal so teuer werden, als sie heute sind, was denkbar wäre, wenn die Entwicklung der Landwirtschaft die der Industrie ein- und überholen würde. Wo wäre das Übel? Ich sehe keines, wohl aber ungeheure Vorteile. Jeder Einzelne würde seine Kleider nur einmal statt viermal höheren Lohn: das heißt, wenn er heute zwölf Stunden arbeiten muß, um seine Lebensbedürfnisse befriedigen zu können, so würde er dann dasselbe Resultat mit dreistündiger Arbeit erreichen. Ziffermäßig würde alles beim Alten bleiben; die Ausgaben des einzelnen Konsumenten hätten keine Änderung zu erleiden. Aber ein ungeheures Resultat wäre erreicht: der Arbeiter wäre vom Galeerensklaven zum freien Mann geworden. Ihm wäre jener höchste Luxus, von dem er heute völlig ausgeschlossen ist, zugänglich gemacht: die Muße. Das bedeutet, daß er an den höheren Freuden des Kulturdaseins teilnehmen, daß er Museen und Theater besuchen, lesen, plaudern, träumen könnte, daß er aufhören würde, eine dumme Maschine zu sein und neben den anderen Menschen seinen Menschenrang einnehmen dürfte. Man muß den Arbeitern zurufen: Ihr seid vom Wirbelschlund eines furchtbaren  circulus vitiosus  erfaßt. Macht euch los oder ihr geht zugrunde. Je mehr ihr heute arbeitet, umso billiger werden eure Produkte, umso toller wird der Konsum, umso mehr müßt ihr morgen arbeiten, um euer nacktes Leben herauszuschlagen! Feiert! Geht müßig! Vermindert eure Arbeit auf die Hälfte, auf ein Viertel. Euer Erwerb wird derselbe sein, wenn jeder nur verbraucht, so viel er muß und nur arbeitet, soviel er soll.

Die Professoren der Nationalökonomie sind anderer Meinung. Ihnen graut vor dem Müßiggang der Menschen und sie sehen alles Heil in der äußersten Ausnutzung der Arbeitskraft. Ihre Lehre läßt sich in zwei Gebote zusammenfassen: Verbraucht möglichst viel, gleichviel ob der Verbrauch durch ein wirkliches Bedürfnis gerechtfertigt ist oder nicht, erzeugt möglichst viel, gleichgültig, ob das Erzeugnis nötig ist oder nicht. Diese weisen Männer machen keinen Unterschied zwischen dem Feuerwerk, das bestimmt ist, zum albernen Augenaufreißen müßiger Dummköpfe in einer Minute verpufft zu werden und der Werkzeugmaschine, welche jahrelang nützliche Betten und Schränke erzeugt. Jedes Feuerwerk kostet 50 000 Mark; es repräsentier außer dem Rohstoff die einjährige Arbeit von fünfzig Arbeitern, die fortwährend in Lebensgefahr waren. Diese Werkzeugmaschine kostet 10 000 Mark. Der Nationalökonom stellt gleichmütig seine Berechnung an und doziert: das Feuerwerk sei genau fünfmal soviel wert wie die Maschine; die Arbeiter seien in beiden Fällen gleich zweckmäßig verwendet worden; die Hervorbringung des Feuerwerks habe das Land in demselben Maß bereichert, wie die Hervorbringung von fünf Arbeitsmaschinen; und wenn es möglich wäre, eine Million Arbeiter mit der Erzeugung von Feuerwerkskörpern zu beschäftigen, jährlich um eine Milliarde dieser Güter hervorzubringen und abzusetzen, so könnte man dem Land zur Blüte dieser interessanten Industrie und den Arbeitern zu ihrem Fleiß und ihrer Leistungsfähigkeit Glück wünschen.

Formell ist dieser Gedankengang tadellos. Essentiell ist er ein scholastischer Sophismus schlimmster Art. Gewiß, wenn man für eine Rakete irgendwo soviel Geld bekommen kann wie für ein Huhn, so ist eine Rakete genausoviel wert wie ein Huhn und wer eine Rakete anfertigt, hat den Nationalreichtum um denselben Betrag vermehrt, wie wer ein Huhn großzieht. Und doch ist es eine Lüge. Nein, es ist der Menschheit nicht gleichgültig, ob Raketen oder Hühner erzeugt weren. Nein, der Alpenführer hat für sich nicht dieselbe Bedeutung wie der Heizer der Mähmaschine, obwohl sie den ersteren vielleicht höher entlohnt als den letzteren. Ich weiß wohl, daß man mit diesen Unterscheidungen dahin gelangt, allen Luxus-Industrien den Prozeß zu machen. Ich schwanke dann auch nicht, es auszusprechen, daß kein Mensch das Recht hat, für seine Launen Befriedigung zu fordern, solange noch wirkliche Bedürfnisse anderer unbefriedigt sind, einen Arbeiter zu der als Exempel gewählten Feuerwerkserzeugung anzustellen, solange andere hungern, weil dieser Arbeiter dem Ackerbau entzogen ist oder einen Fabrikstagelöhner zu vierzehnstündiger Sklavenarbeit zu verurteilen, damit der Samt billig genug hergestellt werde, daß er sich in diesen Stoff kleiden könne, der seinem Schönheitsgefühl angenehmer ist als glattes Zeug. Das große wirtschaftliche Interesse der Menschheit ist nicht, Güter zu erzeugen, für die ein Preis erzielt werden kann, sondern mit ihrer Arbeit zunächst ihre wirklichen organischen Bedürfnisse zu befriedigen. Wirkliche Bedürfnisse gibt es nur zwei: die Ernährung und die Fortpflanzung. Jene bezweckt die Erhaltung des Individuums, diese die Erhaltung der Gattung. Scheinbar könnte man sogar diese beiden Bedürfnisse aus der Reihe des unbedingt Notwendigen streichen. Aber nur scheinbar. Der Gattungserhaltungsdrang ist umso viel stärker als der individuelle Selbsterhaltungsdrang, um wieviel die Lebenskraft und Lebensfülle der Gattung mächtiger ist als die des Individuums. Man hat es noch nie erlebt, daß eine genügend große Menschenzahl, etwa ein ganzer Volksstamm, während einer genügend langen Zeit an der Befriedigung des Gattungserhaltungsbedürfnisses vollständig verhindert gewesen wäre. Würde sich ein solcher Fall ereignen, käme es zu einer allgemeinen nationalen Geschlechtsnot, man würde Leidenschaften und Handlungen sehen, gegen welche die gräßlichsten Szenen von Hungersnot zu Kinderstubenscherzen herabsinken würden. Die beiden großen organischen Bedürfnisse muß also der Mensch befriedigen, alles übrige hat untergeordnete Bedeutung. Ein Individuum, das satt ist, nicht friert, ein Obdach gegen Wind und Regen über sich und einen Genossen des entgegengesetzten Geschlechts um sich hat, kann nicht nur zufrieden, sondern absolut glücklich und wunschlos sein. Ein Individuum, das hungert, kann schlechterdings nicht glücklich und zufrieden sein und wenn es im vatikanischen Museum bei einem Orchesterkonzert in Goldbrokatkleidern lustwandelte. Das ist so klar, daß es platt ist. Es ist der Prosa-Auszug aus der Fabel vom Huhn, welches eine Perle findet und sich beklagt, daß sie kein Hirsekörnlein ist. Und doch geht dieser Truismus [Binsenwahrheit - wp] über den Gedankenkreis der offiziellen Nationalökonomie und es ist noch keinem Professor dieser hehren Wissenschaft eingefallen, seine Lehrsätze an der schlichten Weisheit des LAFONTAINEschen Fabelbuchs zu erproben. Auf die wirtschaftliche Entwicklung der Kulturmenschheit angewendet, bedeutet die Fabel vom Huhn und der Perle einfach: "Weniger Manchester Baumwollzeug und Sheffielder Messer und mehr Brot und Fleisch!"

Was die Theorie bisher zu tun unterlassen hat, das wird sich die Praxis bald genug angelegen sein lassen: nämlich die Verkehrtheit der heute für unanfechtbar angesehenen Lehrsätze der kapitalistischen Nationalökonomie nachzuweisen. Schon heute wird überall unvernünftig viel gearbeitet und weit über den Bedarf produziert. Fast jedes Kulturland sucht Waren auszuführen und muß Lebensmittel einführen. Die Märkte für die ersteren beginnen zu fehlen. Man kann ja ohne Übertreibung sagen, daß die Großindustrie der Hauptvölker Europas fast nur noch für Innerafrika zu arbeiten sucht. Das kann nur schlimmer, nicht besser werden. Die Länder, die noch nicht industriell entwickelt sind, werden es allmählich werden. Man wird die Arbeitsmethoden noch mehr verbessern, die Maschinen noch vermehren, noch vervollkommnen. Und dann? Dann wird jedes Land seinen eigenen Bedarf befriedigen und einen Überschuß hervorbringen, den es dem Nachbarn wird anhängen wollen, der aber dafür keine Verwendung haben wird. Der letzte nackte Neger vom oberen Kongo wird schon seine fünfzig Yards Baumwolle und seine Flinte haben, der letzte Papua bereits in Stiefeln und Papierhemden gehen. Der Europäer wird dahin gebracht sein, jede Woche einen neuen Anzug zu kaufen und sich beim Zeitungslesen sein Blatt von einer Maschine umwenden zu lassen. Das wird das goldene Zeitalter der Nationalökonomen sein, die für Produktion ohne Grenzen, Konsum ohne Maß und Industrieentwicklung ohne Ziel schwärmen. Und in diesem goldenen Zeitalter, wo ganze Länder mit Fabrikschlöten wie jetzt mit Bäumen übersät sein werden, werden sich die Völker mit chemischen Surrogaten statt mit Brot und Fleisch ernähren, achtzehn Stunden am Tag arbeiten und sterben, ohne zu wissen, daß sie gelebt haben. Vielleicht wird man aber nicht bis zum Anbruch dieses goldenen Zeitalters warten müssen, um in weiten Kreisen die Erkenntnis aufgehen zu sehen, daß der übertriebene, einseitige Industrialismus ein Massenselbstmord der Menschheit und alles, was die Nationalökonomie zu seinen Gunsten anführt, Lug und Betrug ist. Zu dieser Einsicht ist man schon gekommen, daß ein Land, welches Getreide ausführt, welches seinen Boden erschöpft und demselben die ihm entzogenen Stoffe nicht in irgendeiner Form wiedergibt, verarmt und wenn es jährlich ungezählte Tonnen Goldes einnähme. Man wird schließlich auch zur Einsicht kommen, daß auch die Ausfuhr von Arbeitskraft, von Muskel und Nerv, in Gestalt von Industriewaren, ein Volk auf die Dauer arm macht und wenn es noch so viel Geld für die letzteren bekommt. Der europäische Fabrikarbeiter ist schon heute der Sklave des Schwarzen von Mittelafrika; er stillt seinen Hunger mit Kartoffeln und Schnaps, verbringt ein Leben ohne lichten Augenblick im Maschinenraum und stirbt an Tuberkulose, damit ein Wilder noch behaglicher leben könne, als er es ohnehin schon tut. Die fieberhafte Arbeit, die nicht auf den Gewinn von Nahrungsmitteln, sondern auf die industrielle Überproduktion gerichtet ist, schafft zuletzt eine Nation geldreicher Hungerleider. Die Welt mag dann das Schauspiel eines Landes erleben, wo in jeder Hütte ein Piano der neuesten Konstruktion steht, die in immer funkelnagelneue Stoffe gekleidete Bevölkerung aber den die Rachitis in den Knochen, kein Blut in den Adern und Schwindsucht in der Lunge hat.


IV.

Das Gefühl der Unleidlichkeit der bestehenden Wirtschaftszustände ist ein allgemeines. Der enterbte Proletarier, dessen Denken durch den täglichen Hunger immer wieder in diesen Stoffkreis zurückgeführt wird, erkennt, daß er mit der Arbeit seiner Hände Reichtümer schafft und fordert seinen Anteil an denselben. Er begeht aber dabei das Unrecht, seine Forderung mit allerlei Theorien zu begründen, die vor der Kritik nicht bestehen. Es gibt nur ein einziges wahres und natürliches Argument, worauf er sich berufen könnte und das unwiderleglich wäre: das Argument, daß er die Kraft besitzt, sich der Güter, die er hervorbringt, zu bemächtigen, daß die Minderheit der Reichen unvermögend ist, diese Aneignung zu verhindert und daß er darum das Recht hat, zu behalten, was er schafft und zu nehmen, was er braucht. Auf diesem einzigen Argument beruth der ganze heutige Gesellschaftsbau. Dasselbe hat aus schwächeren Individuen und Völkern Sklaven der stärkeren, aus klugen und rücksichtslosen Menschen Millionäre, aus dem Kapital den unumschränkten Herrn der Welt gemacht. Die Minorität der Müßiggänger und Ausbeuter stützt sich täglich auf dieses Argument, um die Ansprüche der Arbeitenden und Ausgebeuteten zurückzuweisen. Nur der Proletarier, dessen Geist trotz allem Radikalismus in den kapitalistischen Rechts- und Moralanschauungen befangen ist, zögert, sich dieses unwiderleglichen, aus der natürliche Weltordnung gezogenen Arguments zu bediene und zieht es vor, den Beweis für die Berechtigung seiner Ansprüche rechts und links in allerlei Hirngespinsten zu suchen, unter denen der Kommunismus das weitest verbreitete und meist geglaubte ist. Er begibt sich damit törichterweise auf ein Gebiet, auf dem er unterliegen muß. Dem Kapitalismus ist es spielend leicht gemacht, das Unsinnige dieser Theorie nachzuweisen. In der Tat, der Kommunismus, wie ihn alle sozialistischen Schulen verstehen und predigen, ist die törichte Ausgeburt einer Phantasie, die sich ohne Rücksicht auf die Weltwirklichkeit und Menschennatur blauen Träumereien hingibt. Eigentliche Gütergemeinschaft hat nie in der Welt bestanden. Die in geschichtlichen Zeiten vorhanden gewesene, in Überbleibseln da und dort noch heute zur Beobachtung gelangende Verfassung des Eigentums, welche man bei oberflächlicher Betrachtung für Kommunismus halten könnte, hat durchaus die Vorstellung eines individuellen, aus der Masse des Vorhandenen ausgeschiedenen, streng begrenzten Besitzes zur Voraussetzung. Wenn innerhalb einer kleineren Anzahl von Individuen aus Gründen gemeinsamer Abstammung oder anderen Ursachen eine so vollkommene Zusammengehörigkeit und Solidarität besteht, daß eine Familie oder eine Gemeinde oder gar ein ganzer Stamm sich gleichsam nur als ein einziges zusammengesetztes Wesen höherer Ordnung empfindet, dann ist es denkbar, daß dieses Kollektiv-Individuum einen unteilbaren Kollektivbesitz hat, den der Einzelne nicht zum eigenen Vorteil und zum Nachteil der Übrigen an sich reißen darf. Daß ein solcher Kollektivbesitz, wie er im russischen Mir, in den kroatisch-slawonischen Hausgemeinschaften usw. noch mitten in unseren europäischen Eigentumsverhältnissen überlebt, mit Kommunismus, das heißt mit grundsätzlicher Weltgütergemeinschaft, nicht das Geringste gemein hat, ist leicht zu erproben. Es versuche nun ein Dritter, ein nicht in den Kreis der solidarisch Besitzenden Aufgenommener, sich eines Stückes des Gemeineigentums zu bemächtigen! Der Eindringling wird sofort den Stamm, die Gemeinde, den Mir usw. gegen sich in Waffen sehen. Die Gemeineigentümer haben so sehr das Gefühl von persönlichem Besitz, daß sie den Eingriff in ihre Kollektivrechte mit nicht geringerer Lebhaftigkeit empfinden, als es der individuelle Volleigentümer nur immer vermag, wenn ihm an den Beutel gegangen wird. Und selbst dieser Kollektivbesitz, der kein prinzipieller Kommunismus, sondern nur eine primitivere Form des persönlichen Eigentums ist, kann nur solange bestehen, als alle Beteiligten ihre Zusammengehörigkeit tief und unmittelbar empfinden und als ihre Beschäftigung eine durchaus gleichartige ist, so daß die Leistungen der Einzelnen leicht miteinander verglichen werden können und über den Wert dieser Leistungen und über die Höhe der Entlohnung, auf welche dieselben Anspruch gewähren, kein Zweifel aufkommen kann. Sowie aber eine Teilung der Arbeit eintritt und die Produktion eine mannigfache wird, sowie infolgedessen sich die Notwendigkeit ergibt, ein Wertverhältnis zwischen sehr verschiedenartigen, obwohl gleich brauchbaren Leistungen zu bestimmen und festzustellen, in welchem Maße jede der höchst ungleichen Arbeiten auf Lohn und Anspruch hat, hört die Möglichkeit des Fortbestandes eines kollektiven Besitzes auf und das Eigentum individualisiert sich im Handumdrehen.

Nicht im Kommunismus ist also die Lösung der wirtschaftlichen Probleme zu suchen; denn er ist nur bei den sehr niedrig stehenden Kollektiv-Organismen ein natürlicher Zustand, kann jedoch auf eine so hoch entwickelte Form animalischen Lebens, wie es die menschliche Gesellschaft ist, keine Anwendung finden. Nicht nur für den Menschen, sondern auch für weitaus die meisten Tiere ist individueller Besitz der natürliche Zustand. Die Quelle des Drangs nach solchem Besitz ist die Notwendigkeit der Befriedigung individueller Bedürfnisse. Jedes Tier nährt sich, viele bedürfen eines künstlich bereiteten Obdachs oder natürlichen Unterschlupfs. Seine Nahrung nun und sein Nest oder Lager, die es sich selbst verschafft oder bereitet hat, empfindet das Tier als sein Eigentum. Es fühlt, daß diese Dinge sein und keines andern sind und es gestattet nicht ohne Versuch der Abwehr, daß sie ihm von einem andern Individuum genommen werden. Eine Lebensweise, die Voraussicht und Sorge für die Zukunft nötig macht, führt zur Erweiterung des Eigentumsgefühls und zur Entwicklung des Drangs nach Erwerb eigenen Besitzes. Ein Raubtier, das bloß von frischem Fleisch lebt, grenzt aus der Gesamtmenge des Vorhandenen bloß soviel als sein Eigentum ab, wie für eine einzige Mahlzeit nötig ist. Ein Pflanzenfresser dagegen, der in einer Region lebt, wo es einen Winter gibt, während dessen nichts wächst, nimmt aus der gemeinsamen Vorratskammer der Natur weit mehr an sich, als zur Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse nötig ist, er rafft in der Regel sogar weit mehr zusammen, als er in der Folge verbrauchen kann, er verringer dadurch ohne organische Notwendigkeit die Nahrungsmenge der Übrigen, er wird zu Kapitalisten und rücksichtslosen Egoisten. So häufen Eichhörnchen, Hamster, Feldmaus usw. ansehnliche Mengen von Früchten und Pflanzensamen aller Art für den Winter auf, die sie im Frühling, wenn sie ihren Bedarf wieder in Feld und Wald decken können, meist nicht verbraucht haben. Sie legen also nicht bloß individuelles Eigentum an, sie erwerben nicht bloß individuelles Eigentum an, sie erwerben nicht bloß Vermögen, sie sind sogar reich in dem Sinne, daß sie mehr besitzen, als für ihre Bedürfnisse erforderlich ist. Der Mensch gehört in die Kategorie der Tiere, die auf Voraussicht angewiesen sind. Der Erwerb individuellen Eigentums, dessen Verteidigung gegen etwaige Versuche anderer, sich desselben zu bemächtigen, sind ihm also natürliche Lebensakte, Instinkte, die aus dem Grundtrieb der Selbsterhaltung abgeleitet sind, die nicht ausgerottet werden können und unter dem härtesten Zwang einer entgegenstehenden Gesetzgebung immer wieder mit Elementargewalt durchbrechen würden.

Allein wenn individuelles Eigentum natürlich und darum schlechterdings nicht zu unterdrücken ist, so gibt es dafür eine mißbräuchliche Erweiterung des Rechts auf persönlichen Besitz, gegen die sich die Vernunft allerdings auflehnt und die mit natürlichen Gründen nicht zu verteidigen ist und das ist die Vererbung. Wohl drängt der Trieb der Gattungserhaltung alle Lebewesen, für ihre Nachkommenschaft zu sorgen und ihr möglichst günstige Daseinbedingungen zu schaffen. Allein diese Fürsorge erstreckt sich nie weiter als bis zum Augenblick, wo die junge Brut genügend entwickelt ist, um ganz so für sich selbst sorgen zu können, wie es die Alten getan haben. Im Pflanzensamen ist nur soviel Stärkemehl, im Ei nur soviel Eiweiß angehäuft, als der Keim zur Ernährung in seinem frühesten Lebensstadium völliger Hilflosigkeit nötig hat. Das Säugetier gibt dem Jungen seine Milch nur solange, als dieses nicht selbst weiden oder jagen kann und der nesthockende Vogel hört auf, seinen Kleinen die Äsung zuzutragen, wenn sie ihren ersten selbständigen Ausflug unternommen haben. Nur der Mensch will seine Nachkommenschaft auf ungezählte Generationen hinaus mit Stärkemehl und Einweiß, mit Muttermilch und Äsung versehen; nur der Mensch will seine Kinder und deren Abkömmlinge bis in die fernste Zukunft im embryonalen Zustand erhalten, in welchem sich die Brut von den Zeugern ernähren läßt und nicht selbst für die Erhaltung ihres Daseins kämpft und sich müht. Der Ahn hat Vermögen erworben, er will es seiner Familie hinterlassen, um sie womöglich für immer der Arbeit eigenen Erwerbs zu entheben. Das ist eine Auflehnung gegen alle Naturgesetz. Es ist eine schwere Störung der Weltordnung, welche das ganze organische Leben beherrschaft und die bestimmt, daß jedes Lebewesen sich selbst seinen Platz am großen Tisch der Natur erzwingen oder untergehen muß. Von dieser Störung rühren alle Übelstände des wirtschaftlichen Lebens her und während sie über ungeheure Massen von Individuen den Fluch der Not und Verkümmerung verhängt, rächt sie sich doch auch gleichzeitig an ihren Urhebern. Es hilft nichts, daß die Reichen mit unbewußt verbrecherischem Egoismus ihre angehäuften Güter dem Gemeinwesen entziehen, um ihren Kindern und Kindeskindern für immer ein Wohlleben im Müßiggang zu sichern, ihre Absicht erreichen sie doch nie. Die Erfahrung lehrt, daß es ohne Erwerbstätigkeit keinen Reichtum auf viele Generationen hinaus gibt. Ererbtes Vermögen bleibt nie bei einer Familie und selbst ROTHSCHILDs Millionen können seine Nachkommen in der sechsten oder achten Geschlechtsfolge nicht vor Elend schützen, wenn sie nicht jene Eigenschaften besitzen, die es ihnen auch ohne Erbmillionen ermöglichen würden, sich einen guten Platz unter der Sonne zu erobern. Es waltet da ein unerbittliches Gesetz, welches die durch die unnatürliche Tatsache der Gütervererbung gesetzte Störung im Wirtschaftsleben der Gesellschaft auszugleichen strebt. Ein Individuum, das sich niemals in der Notwendigkeit befunden hat, seinen primitivsten organischen Instinkt, den der Erwerbung seiner Lebensmittel zu üben, verliert auch sehr bald die Fähigkeit, seinen Besitz zu erhalten und gegen die Gier der demselben nachstellenden Besitzlosen zu verteidigen. Nur wenn alle Nachkommen einer Familie absolut mittelmäßige Naturen sind, sich von allen öffentlichen und privaten Kämpfen fernhalten, in vollständiger Dunkelheit und sozusagen von aller Welt vergessen ein gleichmäßiges Pflanzendasein leben, können sie hoffen, den ererbten Besitz ungeschmälert zu erhalten. Sowie aber diese Familie ein einziges Individuum hervorbringt, das einigermaßen mit Phantasie begabt ist, in irgendeiner Richtung über die kahlste schematische Norm hinausragt, Leidenschaften oder Ehrgeiz hat, glänzen oder nur sich leben fühlen will, ist die Verminderung oder der Verlust des Erbvermögens unvermeidlich, weil der reger lebende Sprößling der reichen Familie durchaus unfähig ist, auch nur einen Pfennig von dem, was er zur Befriedigung irgendeiner Laune ausgegeben hat, wieder zu ersetzen. Es ist mit dem Vermögen wie mit einem Organismus. Dieser muß lebenstätig sein, wenn er bestehen soll; sowie die Lebensvorgänge in seinen Zellen aufhören, fällt er der Fäulnis anheim und wird von den mikro- und makroskopischen Wesen, die, auf Beute lauernd, die ganze Natur erfüllen, verschlungen. Ganz so kann man sagen, daß ein Vermögen, in welchem nicht ein reger wirtschaftlicher Lebensprozeß den Kreislauf und Stoffwechsel unterhält, gleichsam stirbt und von den gierigen Fäulnisorganismen: Schmarotzern, Betrügern, Schwindlern, Spekulanten, aufgefressen wird. Man kann die Leiche eines Vermögens, wie die eines Lebewesens künstlich vor dem Verfall und der Zerstörung bewahren; letztere durch antiseptische Mittel, erstere durch Ausnahmsgesetze, welche die Konservierungsflüssigkeit der Erbvermögen darstellen, nämlich durch ihre Errichtung zu Fideikommissen [Unteilbarkeit von Erbvermögen - wp]. Das Fideikommiss ist eine Erfindung, welche einen kuriosen Beweis dafür liefert, daß die reichen Egoisten stets eine dunkle Ahnung von der Unnatürlichkeit des Erbrechts hatten. Der Erblasser fühlt, daß er einen Frevel an der Menschheit begeht und daß die Natur sich an seinen Nachkommen für die Verachtung ihrer Gesetze rächen wird und er sucht einen letzten Damm gegen ihren Ansturm aufzuwerfen; er sieht voraus, daß seine Kinder nicht genug starke Arme haben werden, um ihr Erbvermögen selbst festzuhalten und er bemüht sich, dasselbe durch unlösbare Taue an ihren Leib festzubinden. Aber selbst das Fideikommiss, diese Karbolsäure toter Vermögen, verliert auf die Dauer seine anhaltende Kraft und schützt den Reichtum nicht vor der Zersetzung und die Familie nicht vor dem wirtschaftlichen Untergang.

Die Vererbung muß also abgeschafft werden; das ist das einzig natürliche und darum auch einzig mögliche Heilmittel aller wirtschaftlichen Gebreste [Gebrechen - wp] des Gesellschaftskörpers. Auf den ersten Anblick erscheint eine solche Maßregel äußerst radikal, kaum weniger als etwa die einfache Konfiskation alles individuellen Besitzes; wenn man aber genauer zusieht, so ist sie nur die logische Weiterentwicklung vorhandener Erscheinungen, die niemand beunruhigen. Gerade in den Ländern, wo man an der feudalen Organisation der Gesellschaft am zähesten festhält, besteht das Recht der Prismogenitur [Erstgeborenenrecht - wp]; das heißt die Enterbung, die ich als allgemeine Maßregel für alle Nachkommen ohne Ausnahme fordere, wird systematisch an allen Kindern bis auf das erstgeborene geübt; der konservative Peer von England verwirklicht also einen Gedanken, der manchen Lesern vielleicht eben noch äußerst revolutionär geschienen hat. Wenn man nun nichts Unrechtes und namentlich nichts Unmögliches darin sieht, daß die nachgeborenen Kinder eines englischen Edelmanns vom proportionellen Genuß des väterlichen Vermögens ausgeschlossen sind, weshalb sollte es unrecht oder unmöglich sein, alle Kinder aller Besitzenden ebenso zu behandeln? Es ist wahr, der Peer, der seine jüngeren Kinder enterbt, gibt ihnen doch ein anderes Gut, die Erziehung, die sie befähigt, eine Figur in der Welt zu machen. Aber wenn alles Erworbene nach dem Tod des Erwerbers an die Gesamtheit heimfällt, so kann der Staat der ganzen Jugend des Volkes die ihren Fähigkeiten entsprechende Erziehung und Bildung geben und der enterbte Sohn des Reichen hat dann mindestens dieselben Vorteile, deren sich heute der enterbte jüngere Sohn des Peers erfreut. Der Peer tut aber für seine Kinder, denen er kein Vermögen hinterläßt, noch etwas anderes: er benutzt seine Familien- und Standesverbindungen dazu, um sie mit Stellen in der Staats-. Gemeinde-, oder Privatverwaltung zu versorgen, die mehr oder weniger den Charakter von Pfründen haben. Was ist das anderes als die Organisation der Solidarität, die dem Einzelnen fast noch größere Sicherheiten des Daseins gewährt als ein unabhängiges Vermögen? Allerdings ist diese Solidarität eine enge, selbstsüchtige; es ist die einer Kaste und sie hat die Ausbeutung der Mehrheit zugunsten einiger Schmarotzer zum Zweck. Man denke sich nun die Bande einer solchen Solidarität um ein ganzes Gemeinwesen geschlungen und nicht auf Parasitismus, sondern auf nützliche Produktion gerichtet; man denke sich einen Staat, der seiner ganzen Jugend die Erziehung und - wenn die Eltern dazu unvermögend sind - den Unterhalt bis zum erwerbsfähigen Alter gewährt und ihr, wenn sie in dieses Alter tritt, die Werkzeuge selbständiger Arbeit bietet; ist in einem solchen solidarischen Gemeinwesen nicht jedes Individuum besser versorgt als heute der jüngere Sohn eines englischen Peers und ist dann die Einziehung des väterlichen Vermögens durch den Staat noch eine Ungerechtigkeit gegen die Kinder?

Die praktische Durchführung dieses Gedankens würde in der ersten zeit gewiß mancherlei Schwierigkeiten begegnen, das leugne ich keinen Augenblick lang. Die Eltern würden versuchen, durch Schenkung unter Lebenden das Heimfallsgesetz auszuspielen und es würde dem Staat nicht leicht werden, diesen Betrug zu verhüten, der dann doch einen Teil des väterlichen Vermögens auf die Kinder übergehen lassen würde. Aber das ist eine Fehlerquelle, die für das System von sehr geringer Bedeutung ist. Unter der Herrschaft des letzteren würde sich die menschliche Anschauungsweise rasch genug gründlich ändern; die Eltern würden erkennen, daß in einem reorganisierten Gemeinwesen Vermögenslosigkeit für ein Kind nicht Not und Elend bedeutet und der Drang, die Nachkommen als Rentner in die Welt eintreten zu lassen, würde bedeutend schwächer werden. Die Kontrolle des Besitzes und der Übertragung von Wertpapieren, in denen doch wohl der größte Teil des beweglichen Vermögens angelegt sein wird, ist nicht unmöglich, nicht einmal schwierig, Hausrat und einzelne Wertgegenstände, Kunstwerke usw. könnte man als Andenken an die Eltern ohnehin von der Konfiskation durch den Staat ausnehmen und für den unbeweglichen Besitz wäre die Möglichkeit einer Umgehung des Heimfallgesetzes ausgeschlossen. Das ist aber der wichtigste, ja der einzig wesentliche Punkt des Systems. Das ganze Land mit allen Gebäuden, Fabriken, Verkehrsanlagen usw., die darauf stehen, muß unveräußerliches Eigentum der Gesamtheit werden und nach einem Menschenalter immer wieder in seiner Gänze an sie zurückfallen. Wer sich darum bewirbt, soll vom Staat Grundbesitz oder Fabriken auf Lebenszeit erhalten und dafür eine jährliche Pacht zahlen, der einer angemessenen Verzinsung des leicht feststellbaren Kapitalwerts der Besitzung entspricht. Das ist wieder nicht etwa eine unerhörte revolutionäre Neuerung, sondern einfach die weitere Ausgestaltung von Verhältnissen, wie sie an vielen Orten, namentlich in England und Italien, schon bestehen. In diesen Ländern gibt es Großgrundbesitzer, die ihren Boden nicht selbst bearbeiten, sondern durch Pächter bewirtschaften lassen. Nichts verhindert die Gesellschaft, alle Bodenbearbeiter und Fabrikangestellten in das Verhältnis der englischen Farmer zu bringen und nur noch einen Großgrundbesitzer zuzulassen: den Staat. Bei dieser Organisation ist es dem Einzelnen möglich, persönliche Reichtümer zu erwerben, wenn diese auch schwerlich zu so ungeheurer Höhe anwachsen können wie die Vermögen der Ausbeuter und Schmarotzer in der heutigen Wirtschaftsordnung. Der Begabte, der Fleissige findet in einem üppigeren Leben den Lohn seiner größeren Tüchtigkeit, der Mittelmäßige oder Trägere muß sich mit einem knapperem Auskommen begnügen, der Arbeitsscheue allein findet sich zur Entbehrung, ja zum Untergang verurteilt. Der Ansammlung von sehr großem Grundbesitz in der Hand eines einzigen Pächters ist dadurch vorgebaut, daß der Unternehmer nur sehr schwer Arbeiter finden wird; denn, da derjenige, welcher arbeiten will, eigenes Land vom Staat erhalten kann, so hat er keine Ursache, sich an einen anderen zu verdingen und sich von einer Mittelsperson, einem Unternehmer abhängig zu machen. Die Entwicklung des Systems führt notwendig dazu, daß der Einzelne bald nur soviel Land verlangen wird, als er selbst - allenfalls mit Hilfe seiner Familie - bearbeiten kann. Auch die unnatürliche Entwicklung der Industrie auf Kosten der Nahrungsproduktion wird dadurch verhütet. Denn da der Einzelne ebenso leicht unabhängiger Farmer wie Fabrikarbeiter werden kann, so wendet er sich der Industrie nur dann zu, wenn sie ihm ein angenehmeres und reichlicheres Dasein gewährt als der Ackerbau und der Andrang einander unterbietender, sich mit dem geringsten Maß von Lebensgütern und Genüssen begnügender Arbeitssuchender zu den Fabrikräumen ist undenkbar. Wahre Schwierigkeiten könnten sich erst ergeben, wenn der Staat übervölkert und der Boden knapp wird. Dann wird es zur Unmöglichkeit, allen Bewerbungen um Ackerland oder Gewerbe-Anlagen zu entsprechen und ein Teil der heranwachsenden Jugend muß sich zur Auswanderung entschließen. Sehr intensive Bodenkultur kann jedoch, wie ich oben gezeigt habe, diese Notwendigkeit in eine sehr ferne Zukunft hinausverlegen.

Dieses System ist ohne Zweifel auch eine Art Kommunismus. Wer sich jedoch durch dieses Wort in Bockshorn jagen läßt, der sei daran erinnert, daß wir ohnehin in vollem Kommunismus leben, nur nicht in einem aktiven, sondern in einem passiven. Wir haben keine Gemeinschaft der Güter, aber eine Gemeinschaft der Schulden. Kein Reaktionär erschrickt darüber, daß jeder Staatsbürger durch die bloße Tatsache des Zugehörigkeit zum Staat Schuldner einer Summe ist, die sich in Frankreich zum Beispiel auf nahezu 600 Franken für den Kopf beläuft. Warum sollte es ihn erschrecken, wenn durch eine gründliche Umwälzung der Staatsbürger vom Schuldner zum Besitzer eines entsprechenden Vermögensanteils würde, wenn der Staat nicht bloß allgemeine Schulden, sondern auch allgemeines Vermögen hätte und seinen Angehörigen nicht immer nur Steuern abnehmen, sondern auch Güter mitteilen würde, wie er es ja einer kleineren Anzahl von Individuen auch heute schon tut? Denn der Staat besitzt ohnehin bereits Eigentum aller Art, Paläste, Wälder, Farmen, Schiffe und die Tatsache, daß das Vorhandensein nicht individuellen, allen Bürgern zugleich unteilbar gehörenden Besitzes praktischer Kommunismus ist, kommt den meisten Leuten nur darum nicht klar zu Bewußtsein, weil die noch immer bestehenden mittelalterlichen Staatseinrichtungen die Vorstellung begünstigen, daß das allgemeine Vermögen ein individuelle Vermögen sei, das Eigentum des Fürsten oder sonstigen Staatsoberhauptes. Die Staatsschuld, das Staatseigentum, die Steuern sind nicht die einzigen Formen, unter welchen der Kommunismus unter uns besteht. Gewisse Arten des Kredits sind ebenfalls nichts anderes als der blanke Kommunismus. Wenn ein Einzelner einem anderen Einzelnen aus seiner Tasche Geld leiht oder eine Anweisung auf sein persönliches Vermögen zur Verfügung stellt, die von Dritten wie Bargeld angesehen wird, so ist das ein Austausch individuellen Besitzes; allein wenn eine Bank, die ungedeckte Noten ausgibt - und bei vielen Banken erreicht der Betrag der unbedeckten Noten ein Drittel und mehr der ganzen Notenmenge - einem Individuum auf seine Unterschrift hin ein Darlehen in Noten gewährt, für die dasselbe sich alle Güter verschaffen kann, so ist dieses Geschäft ein Akt des vollen Kommunismus. Die Bank gibt nicht von ihr erworbene aufgesparte Arbeit, das heißt Geld, sondern eine Anweisung auf künftig zu leistende Arbeit und daß diese Anweisung vom Gemeinwesen respektiert wird, daß das Gemeinwesen gegen ungedeckte Noten Güter ausliefert, das ist eine dem Grundsatz der menschlichen Solidarität dargebrachte Huldigung, das ist eine Anerkennung der Tatsache, daß das Individuum Anspruch auf einen Anteil an den vorhandenen Gütern besitzt, auch wenn es für diesen Anteil noch nicht einen persönlich hervorgebrachten Gegenwert zum Austausch bieten kann.

Der Heimfall aller Güter an den Staat nach dem Tod ihrer Erwerber schafft ein nahezu unerschöpfliches gemeinsames Vermögen, ohne den individuellen Besitz aufzuheben. Jedes Individuum hat dann ein Eigen- und Gesamtvermögen, wie es einen Tauf- und Familiennamen hat. Das Staatsvermögen, mit dem es geboren wird, ist gleichsam sein Familien-, das eigene Vermögen, das es sich während seines Lebens erwirbt und dessen alleiniger, ungestörter Nutznießer es ist, sein Taufname und beide zusammen umschreiben seine wirtschaftliche, wie die Namen seine bürgerliche Persönlichkeit. Indem das Individuum für sich arbeitet, arbeitet es zugleich für die Gesamtheit, welcher eines Tages der ganze Überschuß seines Erwerbes über seinen Verbrauch zugute kommen wird. Das Gesamtvermögen bildet das ungeheure Sammelbecken, welches aus dem Überfluß der einen dem Mangel der anderen abhilft und nach jedem Menschenalter die immer wieder entstehenden Ungleichheiten in der Güterverteilung ausgleicht, welche die Vererbung im Gegenteil fixiert und mit jeder Generation schroffer macht.

Zu einer solchen Neuordnung der wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft muß es kommen, weil die Vernunft und die naturwissenschaftliche Weltanschauung sie gleichzeitig fordern. Ein einziges Grundprinzip muß die Gesellschaft beherrschen und dieses Grundprinzip kann nur entweder der Individualismus, das heißt der Egoismus, oder die Solidarität, das heißt der Altruismus sein. Gegenwärtig herrscht weder der Individualismus noch die Solidarität in voller Logik, sondern ein Gemisch von beiden, das unvernünftig und unlogisch ist. Der Besitz ist individualistisch organisiert und der Egoismus geht in der Vererbung bis zu seinen äußersten Grenzen, indem er nicht blos mit List und Gewalt an sich rafft, was er kann, sondern den Raub auch für ewige Zeiten festzuhalten, aus seinem Mitgenuß die Gemeinschaft der Menschen für immer auszuschließen sucht. Allein den Nichtbesitzenden gesteht der Besitzende nicht das Recht zu, sich auf das Prinzip zu berufen, dem der letztere seinen Reichtum verdankt. Das Vermögen wird im Namen des Individualismus erworben und festgehalten, verteidigt aber wird es im Namen der Solidarität. Der Reiche genießt den unverhältnißmäßig großen Antheil an den Gütern, den er an sich zu bringen verstanden hat, mit verhärtetem Egoismus; wenn aber der Arme ebenfalls egoistisch und individualistisch sein und die Hand nach dem Besitz des andern ausstrecken will, so wird er eingesperrt oder gehenkt. In Form von Wucher und Spekulation ist die rücksichtslose Verfolgung des selbstischen Interesses gestattet, in Form von Raub und Diebstahl ist sie verboten. Derselbe Grundsatz ist in der einen Anwendung ein Verdienst, in der andern ein Verbrechen. Dagegen empört sich der gesunde Menschenverstand. Ich habe nichts dagegen, daß man den Egoismus predigt, aber dann habe man den Mut, ihn in allen Fällen gutzuheißen. Ist es recht, daß der Reiche in Müßiggang schwelge, weil er es verstanden hat, das Land an sich zu reißen oder die Menschenarbeit auszubeuten, so muß es auch billig sein, daß der Arme ihn totschlage und sein Vermögen als gute Prise behandle, wenn er zu einem solchen Unternehmen den Mut oder die Stärke hat. Das ist logisch. Freilich geht bei dieser Logik die Gesellschaft zu Grunde und die Zivilisation zum Teufel und die Menschen werden zu Raubtieren, die einzeln in den Wäldern schweifen und einander zerreißen. Wer also einen solchen Zustand nicht für das ideale Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung hält, dem bleibt nichts übrig, als sich für den andern Grundsatz, die Solidarität zu entschließen. Da heißt es nicht mehr: Jeder für sich, sondern: Einer für Alle und Alle für Einen. Da erkennt es die Gesellschaft als ihre Pflicht, die noch nicht erwerbsfähige Jugend zu erhalten und zu bilden, das nicht mehr erwerbsfähige Alter zu versorgen, dem Gebrechen zu Hilfe zu kommen und die Entbehrung nur noch als Strafe willkürlichen Müßigganges zu dulden. Diese Pflicht zu erfüllen ist aber schlechterdings nur unter einer Bedingung möglich: wenn die Vererbung der Güter unterdrückt wird.

Große Katastrophen stehen auf wirtschaftlichem Gebiet bevor und es wird nicht mehr lange möglich sein, sie aufzuhalten. Solange die Menge gläubig war, konnte man sie für irdisches Elend mit unbestimmten Versprechungen himmlicher Glückseligkeit trösten. Heute, wo die Aufklärung immer allgemeiner wird, verringert sich die Zahl der Geduldigen immer mehr, die in einer Hostie den Ersatz für ein Mittagsmahl finden und die Anweisung eines Priesters auf einen Platz im Paradies dem unmittelbaren Besitz eines guten irdischen Ackers gleichachten. Die Besitzlosen zählen sich und die Reichen und sie finden, daß ihrer mehr und daß sie stärker sind. Sie prüfen die Quellen des Reichtums und sie finden, daß Spekulation, Ausbeutung und Erbschaft nicht mehr vernünftige Berechtigung haben als Raub und Diebstahl, welche das Gesetzbuch schwer ahndet. Bei der fortschreitenden Enterbung der Massen durch ihre Losreißung vom Grund und Boden und bei der wachsenden Anhäufung der Vermögen in wenigen Händen werden die wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten immer unleidlicher und an dem Tag, an welchem sich bei der Menge zum Hunger die Erkenntnis der ferneren Ursachen desselben gesellt, gibt es das Hindernis nicht, welches sie nicht beseitigen und niederwerfen wird, um zum Recht der Sättigung zu gelangen. Hunger ist eine der wenigen Elementargewalten, gegen welche auf die Dauer weder Drohung noch Überredung hilft. Das ist denn auch die Kraft, die voraussichtlich den Aberglauben und Selbstucht ruhenden Gesellschaftsbau, dem die Philosophie allein nicht beikommen kann, dem Boden gleichmachen wird.
LITERATUR Max Nordau, Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit, Leipzig 1889