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Über das sogenannte Erkenntnisproblem [ 5 / 5 ]
Zweiter Teil: Das Problem der Vernunftkritik VII. Der Satz des Grundes (Erkenntnistheorie und Dogmatismus) 46. Das Ergebnis des ersten Teils legt uns zwei Fragen nahe. Erstens die Frage, welches der Umstand ist, der immer von neuem in der Geschichte der Philosophie zur erkenntnistheoretischen Fragestellung Anlaß gegeben hat und noch gibt. Und zweitens die Frage, welche Konsequenzen sich für die Philosophie aus unserer Ablehnung der Erkenntnistheorie ergeben. Die Antwort auf die zweite Frage scheint sich von selbst aufzudrängen. Bedeutet die Ablehnung der Erkenntnistheorie nicht die Proklamierung des offenbaren Dogmatismus? Es ist in der Tat höchst charakteristisch, daß von derjenigen Seite, von der gegenwärtig am lebhaftesten an der traditionellen erkenntnistheoretischen Behandlung der Philosophie gerüttelt wird, bereits ganz unbedenklich die Rückkehr zur dogmatischen Spekulation als einzig konsequentes Verfahren gefordert wird. (1) Diese so naheliegende und scheinbar unabwendbare Konsequenz führt uns sogleich zur Beantwortung der ersten der eben aufgeworfenen Fragen. Die durch die gesamte Geschichte des menschlichen Denkens bestätigte Erfahrungstatsache der Trüglichkeit aller dogmatischen Spekulation ist es, was immer wieder die Berechtigung eines allgemeinen Mißtrauens gegen die Baulust einer ohne Selbstkritik philosophierenden Vernunft zur Evidenz bringt und die Erkenntnistheorie als ein unentbehrliches wissenschaftliches Erfordernis erscheinen läßt. Und diese Forderung erscheint so natürlich, daß sie den Widerspruch, den sie in sich birgt, übersehen läßt. Was bleibt uns also, wenn wir diesen Widerspruch einmal erkannt haen, übrig, als in die Arme des Dogmatismus zurückzukehren, so wenig dieser auch zu größeren Hoffnungen berechtigt als sein Widerpart, die Erkenntnistheorie? 47. Revidieren wir noch einmal die Disjunktion [logischer Ausschluß - wp], auf die sich diese Alternative gründet. Was ist es, ganz allgemein gesagt, was den Dogmatismus unannehmbar macht? Offenbar die keiner Diskussion unterliegende Möglichkeit des Irrtums. Und wie will uns die Erkenntnistheorie gegen den Irrtum schützen? Offenbar indem sie keine Erkenntnis zuläßt, ohne sie zu begründen. Und so beruft sich von jeher die Erkenntnistheorie gegen den Dogmatismus auf den Satz des Grundes und das aus ihm fließende Postulat der Begründung aller Urteile. Der Dogmatiker aber beruft sich hiergegen auf die unwiderlegliche Behauptung, daß die Forderung, alle Erkenntnis zu begründen, auf einen Regreß führt, dessen Unvollendbarkeit die Möglichkeit aller Begründung aufheben muß. Worauf beruth also der Widerspruch beider Maximen? Auf nichts anderem, als auf der von beiden Seiten stillschweigend gemachten Annahme der Identität von Erkenntnis und Urteil einer Annahme, deren Irrigkeit wir wiederholt dargetan haben. Diese Annahme führt zu einer Verkennung der eigentlichen Bedeutung des Satzes vom Grunde, indem sie den Geltungsbereich dieses Satzes über die Urteile hinaus auf die Erkenntnis überhaupt ausdehnt. Das Urteil ist eine mittelbare Erkenntnis, setzt also eine andere Erkenntnis als seinen Grund voraus: das liegt im Begriff des Urteils. Identifiziert man jedoch Erkenntnis und Urteil, so bleibt nur übrig, den letzten Grund aller Urteile im Gegenstand zu suchen und man erhält anstelle der Aufgabe der Zurückführung der Urteile auf die unmittelbare Erkenntnis das Problem des Verhältnisses der Erkenntnis zum Gegenstand. Berichtigen wir diese Mißdeutung des Satzes vom Grunde, so gewinnen wir die Möglichkeit eines Verfahrens, das uns gestattet, kein Urteil ohne Begründung anzunehmen, ohne uns doch in den unmöglichen Regreß der Begründung zu verwickeln. Denn mit der Zurückführung der Urteile auf die ihnen zugrunde liegende unmittelbare Erkenntnis ist dem Postulat der Begründung Genüge geleistet; unser Verfahren wird also von den dogmatischen Bedenken ebensowenig getroffen, wie von den erkenntnistheoretischen. (2) Am übersichtlichsten läßt sich der logische Zusammenhang dieser verschiedenen methodischen Maximen durch das folgende Schema darstellen. ![]() Die Unterscheidung von Reflexion und Vernunft befreit uns somit von dem Fehler der Erkenntnistheorie, ohne uns in den anderen des Dogmatismus zurückfallen zu lassen. (Erkenntnistheorie und Vernunftkritik) 49. Fassen wir nunmehr die so gestellte Aufgabe der Begründung der Verstandeswahrheit näher ins Auge, so muß sogleich auffallen, daß es gerade diese Aufgabe ist, deren Bearbeitung von jeher das Thema aller menschlichen Wissenschaft gebildet hat. Wissenschaft, sei es mathematische oder empirische oder sonst eine, ist ja nichts anderes, als systematische Begründung von Urteilen, d. h. Zurückführung der einem Wissensgebiet angehörigen Urteile, d. h. Zurückführung der einem Wissensgebiet angehörigen urteile auf Grundurteile und, vermittels dieser, auf unmittelbare Erkenntnis. Eine Begründung dieser unmittelbaren Erkenntnis selbst aber kann, wie wir dargetan haben, kein Thema irgendeiner Wissenschaft bilden. Was bleibt also für die Philosophie übrig? Soviel steht nach unseren bisherigen Betrachtung von vornherein fest: einen höheren Grad von Gewißheit, von "Voraussetzungslosigkeit" als irgendeine Einzelwissenschaft kann auch Philosophie nicht beanspruchen und wenn sie sich nicht bescheidet, innerhalb des allgemeinen Bereiches der Verstandeswahrheit ebenfalls nur den Rang einer Einzelwissenschaft einzunehmen, so wird sie auf den Titel einer Wissenschaft verzichten müssen. Wo läßt sich aber innerhalb des Bereiches der Einzelwissenschaften ein Sondergebiet ausfindig machen, das die Philosophie für sich in Anspruch nehmen könnte? Die Geschichte der Philosophie kann uns diese Frage beantworten. Die ältere Philosophie wenigstens, die noch nicht von der Anmaßung der Erkenntnistheorie erfüllt war, alle Wissenschaft zu meistern, hatte jederzeit ein gesondertes Teilgebiet unter den Wissenschaften für sich in Anspruch genommen. Dieses Gebiet, das von jeher den Namen Metaphysik geführt hat, existiert auch heute noch und bedarf der wissenschaftlichen Bearbeitung, so wenig auch hinsichtlich der begrifflichen Formulierung und Abgrenzung seines Inhalts Einigkeit bestehen mag. Der Name zwar ist heute allgemeiner Mißachtung verfallen, aus dem alleinigen Grund jedoch, daß man mit ihm den Begriff einer dogmatischen Wissenschaft zu verbinden sich angewöhnt hat und dabei die Vollständigkeit der Alternative zwischen dogmatischer und erkenntnistheoretischer Spekulation nicht in Zweifel zog. Indessen, der Name "Metahpysik" bezeichnet ursprünglich gar nicht eine methodische Maxime, sondern den Inhalt einer Wissenschaft; und ehe nicht eine bessere Bezeichnung für diesen Inhalt vorgeschlagen wird, wird man gut tun, sich des alten Namens zu bedienen. Dieser Inhalt nun ist zu verschiedenen Zeiten verschieden beschrieben worden. Die präziseste Definition, die historisch vorliegt, ist ohne Zweifel die von KANT herrührende: Metaphysik ist das System der synthetischen Urteile a priori aus reinen Begriffen. Das Merkmal "synthetisch" unterscheidet die Metaphysik von der formalen Logik (dem System der analytischen Urteile), das Merkmal "a priori" von der Erfahrungswissenschaft, und das Merkmal "aus reinen Begriffen" von der Mathematik (dem System der synthetischen Urteile aus der Konstruktion der Begriffe). Diese Kantische Definition bedarf hier umsoweniger einer ausdrücklichen Rechtfertigung, als gerade die Erkenntnistheorie, solange sie nicht selbst ihre wissenschaftliche Selbständigkeit preisgeben will, sich ihrem Inhalt nach weder der formalen Logik, noch der Erfahrungswissenschaft, noch auch der Mathematik unterordnen lassen kann, mithin sich notwendig der durch Ausschließung dieser Wissenschaften definierten Disziplin beizählen muß, sie mag den Namen "Metaphysik" billigen oder nicht. 50. Wenden wir das Postulat der Begründung der Urteile auf den so bestimmten Inhalt der Metaphysik an, so erhalten wir die Aufgabe: den Grund der den Inhalt dieser Wissenschaft bildenden Urteile aufzuweisen. Es ist dies das von HUME gestellte Problem, das von KANT in die Formel gebracht worden ist: Wie sind synthetische Urteile aus reinen Begriffen möglich? Dieses Problem hat denn auch mehr oder weniger deutlich im Mittelpunkt des Interesses aller neueren Spekulation gestanden, und es ist nur durch Mißverständnis mit der Aufgabe einer Begründung der objektiven Gültigkeit der Erkenntnis, dem sogenannten "Erkenntnisproblem", verwechselt worden. Die eigentümliche Bedeutung dieser Kantischen Fragestellung und die Schwierigkeit ihrer Auflösung ist leicht deutlich zu machen. Das Problem forderrt, recht verstanden, die zurückführung der metaphysischen Urteile auf eine unmittelbare Erkenntnis. Als unmittelbare Erkenntnis gilt im Allgemeinen die Anschauung. Die anschauliche Erkenntnis hat den Vorzug unmittelbarer Klarheit und Evidenz und diese unmittelbare Klarheit und Evidenz sichert den mathematischen und empirischen Wissenschaften alle die Vorteile, die ihnen jederzeit der Metaphysik gegenüber zugestanden worden sind. Denn die Metaphysik kann sich für die Begründung ihrer Urteile auf keine Anschauung berufen. Andererseits sollen die Urteile der Metaphysik synthetische sein, d. h. sie sollen eine Verbindung von Begriffen enthalten, können also ihren Grund nicht in bloßen Begriffen haben. Denn Urteile, die ihren Grund in bloßen Begriffen haben, sind analytische und aus analytischen Urteilen lassen sich synthetische nicht ableiten. (4) Die eigentümliche Schwierigkeit, mit deren Auflösung die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft steht und fällt, liegt also in der Aufgabe, eine Erkenntnis aufzuweisen, die nicht anschaulich und doch unmittelbar ist. - Eine solche Erkenntnis würde zum Unterschied von der unmittelbaren Erkenntnis der Reflexion eine unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft heißen können. Da sie den letzten Grund alles metaphysischen Wissens enthalten muß, bedarf sie selbst keiner weiteren Begründung; vielmehr würde mit ihrer faktischen Aufweisung das Geschäft der Begründung aller metaphysischen Erkenntnis abgeschlossen sein. Die Begründung metaphysischer Urteile hat von KANT den Namen "Kritik der reinen Vernunft" erhalten. Wir wollen diesen Namen der kürzeren Bezeichnung wegen beibehalten, obgleich er unserer Unterscheidung von Vernunft und Reflexion keine Rechnung trägt. ![]()
1) LUDWIG BUSSE, Philosophie und Erkenntnistheorie, 1. Abteilung, Leipzig, 1894 2) Sieht man nicht sowohl auf die methodische Forderung, als auf die Ausführung der Erkenntnistheorie, prüft man sie also an ihren Leistungen, so ist klar, daß alle Erkenntnistheorie die Annahme der Identität von Erkenntnis und Urteil mit dem Dogmatismus teilt, die aus dieser Annahme entspringende Forderung eines unendlichen Regressus der Begründung aber unnmöglich erfüllen kann, so muß sie, wenn auch ohne Bewußtsein, jederzeit irgendwelche Urteile ohne Begründung voraussetzen, d. h. sie muß allemal auf, wenn auch versteckten, dogmatischen Annahmen, beruhen. 3) Diese Terminologie rechtfertigt sich durch den Sprachhgebrauch. Jedermann, der ein einigermaßen gebildetes Sprachgefühl besitzt, macht einen Unterschied im Gebrauch der Worte "Vernehmen" und "Verstehen"; er wendet das erste an, um den Akt eines unmittelbaren Auffassens von Gegenständen zu bezeichnen, einen Akt, den er bestimmt von jeder begrifflichen Verarbeitung des Aufgefaßten unterscheidet. Man spricht von "Verstandesbildung", um damit einen höheren oder geringeren Grad der Kunst dieser begrifflichen Verarbeitung zu bezeichnen; Vernunft hingegen schreibt man einem Wesen schlechthin zu oder spricht sie ihm schlechthin ab, ohne ein Mehr oder Weniger derselben anzunehmen. "Vernunft" hat jeder Mensch und unterscheidet sich eben dadurch vom "unvernünftigen Tier", "Verstand" dagegen "ist stets bei wenigen nur gewesen". Man sagt: jemand haben "den Verstand verloren", wenn man ihm das Vermögen des klaren Denkens absprechen will; niemals aber: jemand habe "die Vernunft verloren". (Die Richtigkeit der hier als Beispiele angeführten Sätze kommt für uns natürlich nicht in Frage, es handelt sich allein darum, den verschiedenen Sinn festzustellen, in dem die Worte "Verstand" und "Vernunft" tatsächlich gebraucht werden.) 4) Der Grund der metaphysischen Urteile liegt also weder in der Anschauung noch in den Begriffen. Es scheint daher kein anderes bestimmendes Prinzip dieser Art von Urteilen übrig zu bleiben, als die Willkürlichkeit der Begriffsverbindung. Auf dieser Schwierigkeit beruth eigentlich der philosophische Skeptizismus. Seine Konsequenz ist, daß es überhaupt keine metaphysische Wahrheit gibt, daß vielmehr, was sich als solche ausgibt, lediglich ein Produkt willkürlicher Satzung (Konvention) ist, - eine Konsequenz, die bekanntnlich schon von den griechischen Sophisten gezogen worden ist. - Die hier zugrunde liegende Schwierigkeit ist in der Tat dieselbe, die dem HUME-KANTischen Problem zugrunde liegt. Wir können dieses Problem geradezu so formulieren: Die Begriffsverbindung im Urteil ist willkürlich. Was aber Erkenntnis sein soll, kann nicht von unserer Willkür abhängen. Wie ist also durch willkürliche Begriffsverbindung Erkenntnis möglich? Das ist die Formulierung, die FRIES in seiner Vernunftkritik dem Problem gegeben hat. |