ra-2 Rationales und irrationales ErkennenRobert Reininger    
 
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS
Grundzüge einer neuen Wertlehre
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"Nur dort liegt eine vollständige Wertung vor, wo diese Doppelheit des  grundlegenden Erlebnisses  (der  Wertgrundlage)  und der  Wertsetzung  besteht."

"Wir fassen  Lust  als Sammelbegriff für unendlich verschiedene, sehr differenzierte seelische Stellungnahmen auf, die stets, wenn auch nicht auf der Oberfläche, ein Willenselement enthalten."

"Die Abstraktion eines  allgemeinen  Lustgefühls aus den komplexeren emotionalen Prozessen, deren Kern ein Trieb ist, führt ganz in die Irre und erklärt gar nichts."

"Man kann sogar sagen, daß das Individuum, das in einer gebildeten Umgebung aufwächst, die meisten seiner Wertungen nicht selber original erlebt, sondern von anderen übernimmt. So sind z. B. die religiösen Wertungen für die meisten Menschen einfach übernommene Wertungen, ebenso die moralischen Wertungen."

E i n l e i t u n g

Das Wertproblem wird in der neueren Wissenschaft in zweifacher, prinzipiell geschiedener Weise behandelt. Entweder man sucht die Werte, die die äußere Erfahrung darbietet, psychologisch zu erklären oder man sucht nach den Werten als aprioristischen, aller Erfahrung vorausgehenden Wesenheiten. Im ersteren Fall erscheinen die Werte als relativ, im zweiten Fall als absolut. Es ergeben sich so zwei verschiedene Wertsphären, die ohne Bindeglieder nebeneinander bestehen. Wir gehen für unsere Untersuchung von den relativen Werten aus, stützen uns zugleich auf die äußere (historische) Erfahrung und auf die psychologische Analyse. Von hier aus versuchen wir dann auch die Forderung nach absoluten Werten zu verstehen und den auch vom psychologischen Standpunkt nicht wegzuleugnenden Behauptungen einer Absolutheit der Werte dem von diesem Standpunkt aus gerecht zu werden.

Im einzelnen weicht die hier vertretende Werttheorie wesentlich auch von vielen der bisher aufgestellten relativistischen Wertlehren ab. Der psychologische Vorgang der Wertung wird von uns anders analysiert und nicht als einfacher Vorgang, sondern als ein in zwei deutlich kennbare Prozesse zerfallender erwiesen. Des weiteren weichen wir von früheren Untersuchungen sehr erheblich in der Analyse sowohl des  Wertsubjekts  wie des  Wertgegenstandes  ab, indem wir nachweisen, wie stark beide Begriffe  fiktiven  Ausgestaltungen unterworfen sind. Auch die Prinzipien für  Richtigkeit oder Falschheit  der Werte ebenso die für eine  Rangordnung der Werte  untersuchen wir und zeigen dabei wie stark auch hier mit Fiktionen verschiedener Art gearbeitet wird. Auf diese Weise gelangen wir zwar nicht zu einem System von Werten, das den Anspruch absoluter Gültigkeit erhebt, wohl aber hoffen wir, Verständnis zu erzielen für den lebendig bewegten Wechsel der Wertungen, die uns Geschichte und Leben darbieten und die Prinzipien zu durchschauen, nach denen diese Wertungen zustande kommen.


Kapitel I.
Psychologie der Wertung

1. Bei der Analyse des Wertphänomens müssen wir zunächst  das wertende Subjekt  unterscheiden, für das etwas von Wert ist und das  Objekt,  das  gewertet wird.  Wir bezeichnen jenes kurz als das "Wertsubjekt" und dieses als den "Wertgegenstand". Die großen Schwierigkeiten, die in diesen beiden Begriffen liegen, werden in besonderen Kapiteln behandelt.

Zwischen Wertsubjekt und Wertgegenstand spielt sich der  Prozeß der Wertung  ab. Diese ist ein psychologischer Vorgang, wodurch jenes eben zum "Wertsubjekt", dieses zum "Wertgegenstand" wird.

Soweit stimmen fast alle psychologischen Werttheorien überein. Sie gehen erst auseinander bei der weiteren Besprechung des Wertungsprozesses. Und zwar können wir drei Hauptformen der psychologischen Werttheorie unterscheiden: erstens diejenigen, die die Wertung als  Gefühl  ansprechen, zweitens diejenigen, die das Werten mit dem  Begehren  zusammenbringen und drittens diejenigen, die im Werten einen  seelischen Prozeß eigener Art  sehen wollen.

Als Typs für die  Gefühlstheorie  des Wertes gilt uns KREIBIG, der den Wert definiert als "die Bedeutung, welche ein Eimpfindungs- oder Denkinhalt vermöge des mit ihm unmittelbar oder assoziativ verbundenen aktuellen oder dispositionellen Gefühls für ein Subjekt hat." (1) - Ähnlich, wenn auch enger, faßt MEINONG das Werten als ein "Lustgefühl an der Existenz des Gegenstandes". Das Wertgefühl beruth auf einem Urteil über die Existenz des Gewerteten. (2) Außer diesen stehen noch zahlreiche ältere und neuere Denker, die hier nicht alle genannt werden können, auf verwandtem Boden.

Die Zurückführung des Wertes auf das  Begehren  hat am konsequentesten von EHRENFELS unternommen. Nach ihm ist der Wert eines Dinges seine "Begehrbarkeit". (3) Auch diese Anschauung ist sehr verbreitet, wenn schon statt "Begehren" oft "Streben" oder "Wille" gesagt wird.

Als Vertreter derjenigen Anschauung, die im Werten einen  spezifischen Vorgang eigener Art  sehen will, nenne ich HERMANN SCHWARZ. Nach ihm ist Werten gleich "Gefallen" und dieses ein Element des Willens. Indessen verspüren wir Güter wie Lust, Ehre, Wahrheit als spezifische Werte und hierfür wird ein besonderer Prozeß des Werthaltens festgestellt. Dieses ist keine Lust mit Intensitätsunterschieden, sondern kennt nur Sättigungsunterschiede. (4)

Ohne uns auf eine dieser Lehren im einzelnen einzulassen, können wir feststellen, daß keine derselben dem ganzen Phänomen der Wertung gerecht wird, daß jede vielmehr nur einzelne, wenn auch an sich richtig beobachtete Seiten hervorhebt. Sie begehen fast alle den Fehler, daß sie den Prozeß der Wertung für einen  einfachen  seelischen Vorgang ansehen, während in Wirklichkeit kompliziertere Verhältnisse bestehen. Der Umstand, daß etwas mein Gefühl oder mein Begehren erregt, ist an sich keineswegs eine Wertung, sondern nur ein Teilphänomen dieser oder (wie wir sagen) die  Grundlage  derselben. Es muß zu dem grundlegenden Gefühl oder Begehren noch ein weiterer seelischer Akt hinzukommen, den wir als die  Wertsetzung  bezeichnen. Worin diese Wertsetzung besteht, werden wir später erörtern; vorläufig können wir sie als ein Bejahen, Anerkennen oder ähnlich bezeichnen. Jedenfalls kommt erst durch diese Doppelheit eine wirkliche Wertung zustande:  erstens muß das Subjekt zum Gegenstand in eine Beziehung, die meist emotional, d. h. gefühlsmäßig oder willensmäßig ist, eintreten, zweitens muß aber diese Beziehung als solche bejaht, anerkannt, d. h. als Wert gesetzt werden.  Nur dort liegt eine vollständige Wertung vor, wo diese Doppelheit des  grundlegenden Erlebnisses  (der  Wertgrundlage  und der  Wertsetzung  besteht. Allerdings verschmelzen beide für die oberflächliche Selbstbeobachtung meist in eins, wodurch sich erklärt, daß die Doppelheit des Prozesses oft übersehen wurde. (5) Genauere Analyse jedoch muß sie stets erkennen lassen. Damit aber gewinnen wir die Möglichkeit, die verschiedenen, oben gekennzeichneten Theorien zu einer Synthese zu führen, da wir finden werden, daß die Wertgrundlage meist ein Gefühl oder ein Begehren ist, daß aber dazu noch ein sekundärer Prozeß kommen muß, eben die Wertsetzung.

2. Es sei zunächst die Notwendigkeit der Scheidung von Wertgrundlage und Wertsetzung durch einige Beispiele belegt.

Wäre nämlich der Prozeß der Wertung ohne weiteres identisch mit Lustgefühl, so müßte jedes irgendwie erregte Lustgefühl als Wert anzusprechen sein. Das ist jedoch nicht der Fall. Ich habe täglich eine Menge Lustgefühle, die ich nicht im geringsten als "Werte" gelten lasse. Ich erlebe auch einem Spaziergang durch mich streifenden Blütenduft oder herübergewehte musikalische Klänge zahlreiche flüchtige Lustgefüle, die ich jedoch keineswegs als "Werte" anspreche. Ich kann sogar eine solche herüberklingende Melodie angenehm empfinden und sie trotzdem als "ganz gemeinen Gassenhauer" negativ bewerten, was offenbar keine Identität von Lustgefühl und Wert darstellt. Es muß also zum Lustgefühl noch eine besondere Stellungnahme meinerseits hinzukommen. Das Lustgefühl kann eine Wertgrundlage sein, ist aber noch nicht das Werten selber.

Ähnlich ist es mit dem Begehren, dem Wollen, die ebenfalls Wertgrundlage sein können, ohne jedoch in jedem fall einen Wert zu konstituieren. Sehr oft erregen Dinge mein Begehren, obwohl ich mir vollkommen bewußt bin, daß die begehrten Dinge wertlo, ja ausgesprochene "Unwerte" sind. Damit das Begehrte als "Wert" erscheint, muß noch eine besondere innere Stellungnahme hinzutreten, die wir eben als "Wertsetzung" bezeichnen.

Es bedeutet also nicht jede Lust oder jedes Begehren einen Wert; wohl aber können sie Grundlage eines solchen werden, sobald eine Wertsetzung hinzutritt.

Indessen gibt es auch Wertsetzungen, denen kein Lustgefühl oder Begehren voraufgegangen ist. Ich kann eine BACHsche Fuge als Wert anerkennen, ohne daß sie in meiner momentanen Stimmung mir Lust erregte oder daß sie mein Begehren, sie zu hören, erweckte. Allerdings besteht auch in diesem Fall, wie ich später zeigen werde, eine Beziehung zu solchen emotionalen Erlebnissen: indessen gilt es uns hier nur zu zeigen, daß die Wertsetzung auch für sich, als ein von unmittelbar erlebter Lust oder ebensolchem Begehren unabhängiger Vorgang besteht.

Kommen also auch diejenigen Erscheinungen, die eine Wertgrundlage bilden können und die Wertsetzungen  getrennt  vor, so geben sie doch erst dort, wo sie  gemeinsam  auftreten, eine vollständige, erlebte Wertung in unserem Sinne ab. Ein  vollgültiges Werterlebnis liegt nur dort vor, wo beides, die Wertgrundlage wie die Wertsetzung, nachzuweisen sind. 

Der hier als Wertsetzung beschriebene Prozeß kann isoliert, d. h. ohne erlebte Grundlage niemals eine wirkliche Wertung konstituieren. Er stellt nur eine unvollständige, oder wie wir auch sagen können, eine  übernommene  Wertung vor, die im Gegensatz zur  erlebten  Wertung steht, d. h. einer solchen, bei der eine wirkliche Wertgrundlage vorhanden ist. Bei einer übernommenen Wertung (wenn ich z. B. das Urteil, die Fuge von BACH sei ein künstlerischer Wert, nachrede, ohne das erleben zu können), handelt es sich nicht um wirkliche Werte. Wir werden später auf diesen Gegensatz zwischen erlebten und übernommenen Werten noch zurückkommen, betonen jedoch schon hier, daß überall, wo etwas als Wert gesetzt wird, ein Subjekt hinzugedacht werden muß, dem der Wert ein wirkliches Erlebnis ist.

3. Was nun dieses Erlebnis, die  Wertgrundlage  anlangt, so gaben wir zu, daß sowohl Gefühle, als auch Begehrungen eine solche bilden können. Wir möchten jedoch den Kreis noch weiter ziehen und ganz allgemein sagen, daß  die Wertgrundlage stets ein emotionales Erlebnis im weitesten Sinne  ist, ein Beziehungsbewußtsein des Wertsubjekts zum Wertgegenstand, oder - wie ich kurz mit einem von mir an anderem Orte ausführlich erörterten Begriff sagen werde: eine "Stellungnahme". (6)  Zu den Stellungnahmen rechne ich alle Gefühle und Begehrungen, darüber hinaus jedoch noch weitere unten zu besprechende seelische Tatbestände. 

Die Psychlogie dieser Begriffe, zumindest die Terminologie ist bekanntlich sehr schwankend. Wir können an dieser Stelle nicht eine prinzipielle Erörterung derselben beginnen, müssen uns vielmehr auf ungefähre Absteckungen beschränken. Der Begriff des  Gefühls  wird oft auf das sehr abstrakte Begriffspaar "Lust-Unlust" eingeschränkt, die als leere, schattenhafte Begleiterscheinungen anderer seelischer Prozesse bestimmt werden. Die so gefaßten schemenhaften Begriffe "Lust" und "Unlust" greifen die Gegner der psychologischen Werttheorien gern auf, um diese ad absurdum zu führen, was z. B. MÜNSTERBERG (7) getan hat. Wir geben nun gern zu, daß mit einem Lustbegriff, der derselbe sein soll, ob er beim Genuß eines Glases Münchner Bieres oder beim Anhören einer Symphonie oder in religiöser Ergriffenheit erlebt wird, wenig anzufangen ist. (8) Aber an so vage Schemen halten wir uns nicht, vielmehr fassen wir "Lust"  als Sammelbegriff für unendlich verschiedene, sehr differenzierte seelische Stellungnahmen, die stets, wenn auch nicht auf der Oberfläche, ein Willenselement enthalten.  (9)

Damit schlagen wir eine Brücke zu den "Begehrungen" und vereinen so die beiden ersten oben zu unterscheidenden Werttheorien. Wir sagen, daß in allen Gefühlen ein Willenselement steckt, daß  Lust das Bewußtwerden eines erfüllten Triebes, Unlust das Bewußtwerden eines gehemmten oder unbefriedigten Triebes  ist. Die spezifische Färbung der Lust wird eben durch den Willensgehalt desselben bedingt. Es kann natürlich nur an einigen Beispielen erläutert werden, wie das zu denken ist. Wir müssen uns klar sein, daß jedes Organ das Bedürfnis hat, erregt zu werden, daß also in jedem Organ ein "Reiztrieb" steckt. Wird das Organ adäquat erregt, so wird dieser Reiztrieb befriedigt und das Bewußtsein dieser adäquaten Betätigung ist die Lust. Unlust ist das Bewußtsein inadäquater Betätigung (d. h. einer solchen, der kein Trieb entgegenkam). Das sind die einfachen  Funktionsgefühle.  Bei den "Affekten" handelt es sich um spezifischere Triebe. Auch deren Befriedigung bringt ein Lustgefühl mit sich. So läßt sich (unter Anlehnung an SCHOPENHAUERs bekannte Theorie) sagen, daß ein weiblicher Körper unser Schönheitsgefühl erregt, wenn er (obgleich nur latent) unser Begehren erweckt, nicht etwa, daß wir ihn deshalb begehren, weil er schön ist. Die landläufige Gefühlstheorie verschiebt dieses Verhältnis. So ist es mit allen Gefühlen und Begehrungen. Das Gefühl ist nicht die  Ursache  des Willens, sondern ist eine Begleiterscheinung, ein Teilphänomen des Willens. So ist z. B. die Lust an Speisen ein Begleitgefühl des Hungers, nicht etwa dessen Ursache. Sind wir übersättigt, so vermag auch die sonst lockendste Speise uns keine Lustgefühle zu erregen, was das Sprichwort formuliert, daß Hunger der beste Koch sei. Allgemeiner ausgedrückt heißt das, daß das Gefühl ein Bewußtwerden der Befriedigung oder Hemmung eines Triebes ist. Die Abstraktion eines  allgemeinen  Lustgefühls aus den komplexeren emotionalen Prozessen, deren Kern ein Trieb ist, führt ganz in die Irre und erklärt gar nichts. Es ist so, als wollte man behaupten, ein gesättigtes Rot, ein gesättigtes Blau, ein gesättigtes Gelb seien, was ihre "Gesättigtheit" anlange, einander gleich. Die "Gesättigtheit" an sich gibt es so wenig als realen isolierbaren Faktor, wie eine "Lust ansich". Lust und Unlust sind stets nur Seiten oder Färbungen komplexerer seelischer Stellungnahmen, deren Wesen "willenshaft" ist. Wir lehnen also die Definition der Gefühle als "Eigenschaften der Empfindungen" oder als "Zustandsbewußtsein" ab und  fassen die Gefüle als Bewußtseinszeichen dafür, ob ein Trieb befriedigt wird oder nicht.  Unter diesem Gesichtspunkt schwindet die prinzipielle Kluft zwischen Gefühlen und Begehrungen, wobei letztere sich von den Gefühlen nur durch Hinzutreten von Tätigkeitsbewußtsein, also letzten Endes  motorischen  Einstellungen unterscheiden.

Vielleicht könnte man, wie einige Forscher es versucht haben, die Wertgrundlage auch außerhalb des Bewußtseins in einem  Bedürfnis  suchen. Das ist nur eine geringe Verschiebung, die mit unserer Anschauung zu vereinen ist. Denn wirklich zur Wertgrundlage wird das Bedürfnis doch erst dort, wo es bewußt wird, d. h. als Begehren erscheint. Zuzugeben ist, daß dieses Begehren (was später an Beispielen genauer erläutert wird) von anderen Subjekten unterlegt werden kann. So kann man sagen, einer Pflanze sei ein Regen nach Trockenheit von Wert. Indessen liegt in diesem Falle ein "eingefühltes" Bewußtsein der Wertung, die letzten Endes doch unsere eigene ist, zugrunde. Davon genauer im zweiten Kapitel.

Indessen ist der Begriff der "Stellungnahmen", die die Grundlage der Wertsetzung sein können, nicht erschöpft mit den Lust-Unlustgefühlen und den Begehrungen. Es gehören noch eine ganze Reihe anderer seelischer Erlebnisse dazu, die von der Mehrzahl der Psychologen wenig behandelt werden und von jenen Forschern, die sie nicht übersehen, zum Teil auch als "Gefühle", zum als "Charaktere" oder anders bezeichnet werden. Ich denke an alle jene Stellungnahmen, durch die wir einen Vorstellungsinhalt als "neu", als "fremd", als "groß", als "erhaben", als "wirklich", als "unreal", als "denselben" usw. charakterisieren. Die Psychologie aller dieser seelischen Attituden ist noch sehr wenig erforscht. Als Tatsache können wir jedoch schon heute feststellen, daß alle diese Charakterisierungen Stellungnahmen des Ich zu einem intellektuellen Inhalt sind und daß sie (das ist die Hauptsache für uns) in die Grundlagen der Wertungen eingehen können. Daß etwas "neu" oder "alt" ist, kann oft ganz verschiedene Bewertungen bedingen, je nachdem die "Neuheit" oder das "Alter" erwünscht sind. Denn auch diese Stellungnahmen verquicken sich mit Begehrungen. Ebenso können "Wirklichkeit" wie "Unwirklichkeit" als Grundlage der Wertsetzung dienen. Daß etwas "wirklich" oder "unwirklich" ist, ist niemals in der Empfindung oder der Vorstellung gegeben, ist vielmehr eine Charakterisierung derselben durch das Ich, eine "Stellungnahme". In all diesen Fällen käme unser Begriff der Stellungnahme etwa auf eine psychologische Erklärung des erkenntnistheoretischen Begriffs der "Kategorie" hinaus. (10)

Zu diesen Stellungnahmen gehören auch jene Zustände wie die  Aufmerksamkeit das  Interesse  und verwandte Phänomene, die die intellektualistische Psychologie ganz falsch als assoziative Erscheinungen deutet. In Wirklichkeit sind sie "Stellungnahmen", d. h. Reaktionen des Ich. Gerade sie sind geeignet, die äußerst komplizierte Natur der Stellungnahmen zu illustrieren; denn sie enthalten meist nebeneinander Gefühle, Begehrungen und sonstige Stellungnahmen wie die der Neuheit, der Fremdheit, der Überraschung usw.

Wir können uns hier nicht weiter auf diese Dinge einlassen.  Hier muß die Feststellung genügen, daß die subjektiven Reaktionen des Ich auf die gegebenen Inhalte, also die Stellungnahmen, stets sehr komplizierter Natur sind, und daß die fundamentale Sonderung in Gefühle, Wollungen usw. irreführen ist. Die Stellungnahmen enthalten stets sowohl Gefühle wie Willenselemente und darüber hinaus noch weitere reaktive Phänomene, die alle zusammen in ein Ganzes verschmelzen. und eben diese Stellungnahmen sind die Grundlage der Wertung. (11)

Es sie dabei noch einem Einwand begegnet, der die Sachlage hinstellen könnte, als sei der "Wert" als etwas Objektives das Primäre, die Stellungnahme, also z. B. das Gefühl oder das Wollen, das Sekundäre. Das ist ganz falsch. Wir begehren niemals etwas, weil es ein "Wert ansich" wäre, sondern erst dadurch, daß wir etwas begehren,  wird  es uns zum Wert. Ebenso erregt niemals etwas unsere Lust, weil es "schön ansich" wäre, sondern wir nennen etwas schön, weil es so beschaffen ist, daß es unser Lustgefühl erregt, d. h. unseren Apperzeptionsmöglichkeiten adäquat ist. Auch darauf kommen wir später zurück, heben jedoch schon hier hervor, daß im Wertungsphänomen das Subjektive das Prius vor dem Objektiven hat.

4. Indessen ist, wie bereits gesagt, die Stellungnahme stets nur die Grundlage der Wertung, nicht die Wertung selber. Zu dieser gehört noch ein weiteres Phänomen:  die  Wertsetzung.

Was ist nun die Wertsetzun? Vielleicht ist man geneigt, in ihr ein  Urteil  zu sehen. Freilich kommt es dabei auf die Definition dieses sehr verschieden gefaßten Begriffes an. Für uns ist ein Urteil nur die Formulierung einer Stellungnahme in einem Satz. Nun kann die Wertsetzung gewiß in einem Satz formuliert werden, indessen ist diese Formulierung weder nötig noch in allen Fällen nachweisbar. Es gibt Wertsetzungen, die sich rein gefühlsmäßig oder rein begehrungsmäßig vollziehen, ohne urteilsmäßige Formulierung.

Damit aber sind wir bereits an die richtige Erklärung herangekommen:  auch die Wertsetzung nämlich ist eine Stellungnahme,  die ebenfalls ja nachdem mehr gefühls- oder willensmäßig sein kann, jedenfalls aber immer  eine Stellungnahme zu einer Stellungnahme  ist. Es ist damit offenbar, daß wir in der Wertsetzung ein Urteil sehen können, wenn man das, wie manche Forscher tun, als Willensakt auffaßt. Für uns ist das Urteil nur die Formulierung einer Stellungnahme und eben diese Stellungnahme, nicht die Formulierung, ist das Wesen der Wertsetzung.

Also eine Stellungnahme zu einer Stellungnahme? Dieses Ergebnis scheint sehr paradox, ist es jedoch durchaus nicht, sondern in der Selbstbeobachtung leicht festzustellen. Ich nenne diesen Tatbestand auch "sekundäre Stellungnahme". Es ist nämlich gar nicht zu bestreiten, daß das Ich nicht nur zu Empfindungen und Vorstellungen Stellung nimmt, sondern auch zu Gefühlen und Begehrungen, die selbst Stellungnahmen zu jenen Inhalten sind. Einige Beispiele solcher sekundärer Stellungnahmen mögen das dartun. Eine solche sekundäre Stellungnahme ist z. B. das "Genießen". Im Genießen nehme ich nicht Stellung zur objektiven Gegebenheit, sondern zum Lustgefühl, das die Empfindung auslöst. Es tritt eine Art Verdoppelung des Ich ein.

Besonders deutlich zeigt sich das beim sogenannten "sentimentalen Typus", der alle seine Gefühle nochmals "genießt". Dieser nimmt nicht zu den Gegenständen Stellung, sondern stets zu den subjektiven Gefühlen, die ihm jene auslösen, sod aß ein solcher Mensch sogar seine eigen Unlust, seinen Schmerz, seine Trauer sekundär als Lust erleben kann. Gewiß ist dieser Fall eine Art Pervertierung des natürlichen Laufs der Dinge, indessen (wie pathologische Fälle oft) sehr geeignet zur Illustration normaler Tatbestände, in diesem Fall also der sekundären Stellungnahme.

Eine solche sekundäre Stellungnahme ist die Wertsetzung. Wir erleben die primären Gefühle, Begehrungen zunächst einfach als Tatsachen. Ein Gegenstand erweckt unsere Lust oder unser Begehren, das sind einfache Erlebnisse, noch keine Wertungen. Zu solchen werden sie erst, wenn wir zu diesen Stellungnahmen wieder Stellung nehmen, d. h. wenn wir z. B. die Lust als  gewollte anerkennen  oder das Begehren als ein "richtiges" oder "schönes" Begehren  bejahen.  Die Wertsetzung ist sozusagen eine Stellungnahme zweiter Instanz.

Es tritt gleichsam eine Spaltung des Ich ein. Das primäre Ich erlebt Lust oder Begehren, d. h. die Wertgrundlage. Das sekundäre Ich, die höhere Instanz, bejaht oder verwirft jene primäre Stellungnahme, d. h. sie setzt sie als Wert oder nicht. Ein Bild gefällt uns, erregt unsere Lust: das ist die primäre Stellungnahme. Zum ästhetischen Wert wird jedoch die Lust (und damit auch das sie erregende Bild) erst, indem ich jener Lust meine Aufmerksamkeit zuwende, sie bejahe, kurz wiederum Stellung nehme. Der negative Fall offenbart die Doppelheit des Prozesses am deutlichsten. Jenes Bild erregte vielleicht nur meine sinnliche Lust, schmeichelte niederen Instinkten und wird darum in sekundärer Stellungnahme als "Kitsch" verworfen. Die ästhetische Wertung wird also erst vollzogen durch Hinzutreten dieser sekundären Stellungnahme.

Wir schieben für unsere Untersuchung alle jene Probleme, die durch die "Spaltung des Ich" gesetzt werden, zurück und behandeln sie im folgenden Kapitel. Hier gilt es uns nur als Feststellung,  daß die sekundäre Stellungnahme, die Wertsetzung, sich als Prozeß ebenfalls als ein emotionaler Vorgang darstellt.  Wie wir ihn auch bezeichnen, als ein Bejahen oder Verneinen, als ein Anerkennen oder Verwerfen, stets tritt deutlich der emotionale Charakter, der Willensakt oder die Gefühlsbetonung heraus. Gewiß sind die sekundären Stellungnahmen oft abstrakter als die primären, das hängt jedoch mit dem oft abstrakteren Charakter des sekundären Subjekts zusammen und wird daher später erörtert.

Ganz falsch wäre es jedenfalls, die Wertsetzung als einen  intellektuellen  Prozeß anzusehen. Gewiß kann sie sich auf intellektuelle Gründe stützen; solange sie jedoch ein bloßes Wissen bleibt, nicht zu einer emotionalen Stellungnahme wird, ist sie tot. Hinter jeder Wertsetzung muß ein lebendiges Gefühl oder ein Wollen stehen, sonst fehlt ihr jede Überzeugungskraft. Es gehört zum Wesen des Alexandrinertums, des Historismus jener trockenen, von NIETZSCHE entlarvten Art, daß sie die Kraft des Wertens verloren haben. Der Intellektualist erlernt gewisse Werte als trockene Tatsachen, ohne sie in sein Leben als zeugende Kräfte einführen zu können. Die Werte hören damit auf, Werte zu sein.

Für unsere Zwecke genügt an dieser Stelle die allgemeine Feststellung, daß die Wertsetzung eine sekundäre Stellungnahme zu einer primären ist. Die Wertung in ihrer Gesamtheit ist also eine emotionale Reaktion des Ich plus einer sekundären Stellungnahme zu dieser.

Im einzelnen wechselt der psychologische Charakter der sekundären Stellungnahme. Man kann sie, wenn man will, als ein Erlebnis  sui generis  [eigener Art - wp] beschreiben. Indessen muß man bedenken, daß sie nicht mehr besondere Art hat, als andere Stellungnahmen auch, deren qualitative Besonderheit wir oben erörterten. Im übrigen verquickt sie sich mit den verschiedensten anderen Stellungnahmen, sie kann die verschiedensten Gefühls- und Affektfärbungen annehmen und entzieht sich somit einer ganz einheitlichen Charakterisierung.

5. Man unterscheidet bei aller Wertung eine  positive  und eine  negative,  wie man bei allen Stellungnahmen Positivität und Negativität findet. Maßgebend dafür, ob die Wertung positiv oder negativ ist, pflegt allein die  sekundäre  Stellungnahme zu sein. Ein Lustgefühl, das mir in zweiter Instanz als Unwert erscheint, ist damit ein Unwert, selbst wenn die Wertgrundlage, als solche genommen, positiven Charakter hat. Ebenso wird ein sinnliches Begehren, so positiv es als solche erscheinen mag, doch zum negativen Wert, wenn die zweite Instanz es verwirft.

Immerhin jedoch ist die Sache nicht ganz so einfach. Hat die zweite Instanz nicht das gleiche "Vorzeichen" wie die erste Stellungnahme, so haben wir einen  Wert konflikt. Hier ist die Wertung kein einheitlicher Prozeß, sondern höchstens als Problem, als Aufgabe erscheint eine wirklich erlebte Wertung gefordert, wenn mich in einer ungünstigen Stimmung eine BACHsche Fuge langweilt, ich diese Langeweile jedoch als einen "Wertirrtum" verwerfe, so besteht die wahre, d. h. die einheitliche Wertung als Aufgabe. Wirkliche Wertung als echtes Erlebnis liegt deshalb nur dort vor, wo  Werteinheit  besteht, d. h. dort, wo die sekundäre Instanz die primäre Stellungnahme anerkennt. Wird also eine Wertsetzung von außen her irgendwie übernommen, so wird sie erst dann "erfüllt", wenn ihr die primäre Stellungnahme des Ich entspricht.

Wir kehren damit zu dem oben bereits erwähnten  Gegensatz zwischen erlebter und übernommener  Wertung zurück. Nur jene erkannten wir als vollständige an, da nur in ihr der Wert als solcher erlebt wird. Bei der übernommenen Bewertung fehlt das primäre Erlebnis, nur die sekundäre Stellungnahme, die Wert setzung  allein tritt aufgrund fremder Einflüsse ein, während die primäre Stellungnahme, die Wertgrundlage entweder nur gefordert oder fingiert wird. Zu einem wirklichen Werterlebnis kommt es in einem solchen Fall erst, wenn das Individuum sich mit seiner primären Stellungnahme der übernommenen Wertsetzung  anpaßt. 

Derartiger übernommener Wertsetzungen gibt es unendlich viele. Man kann sogar sagen, daß das Individuum, das in einer gebildeten Umgebung aufwächst, die meisten seiner Wertungen nicht selber original erlebt, sondern von anderen übernimmt. So sind z. B. die religiösen Wertungen für die meisten Menschen einfach übernommene Wertungen, ebenso die moralischen Wertungen. Es besteht hier die scheinbar paradoxe Tatsache, daß die Wertsetzung der Wertgrundlage vorausgeht, insofern als zunächst fremde Wertsetzungen einfach als unerlebte Tatsachen übernommen werden, denen sich dann die primären Stellungnahmen allmählich anpassen.

Ein Beispiel mag das illustrieren. Das Kind übernimmt die moralische Wertsetzung, daß es eine unedle Handlung sei, ein Tier zu quälen, von anderen, ohne zunächst die Wertgrundlage selber zu erleben, die zu dieser Wertsetzung geführt hat. Diese Wertgrundlage ist eine auf Einfühlung beruhende Stellungnahme, das Bewußtsein davon, daß das gequälte Tier leidet. Diejenigen, die jene Wertsetzung erlebt haben, fühlten den fremden Schmerz als einen eigenen mit und setzten daraufhin die Tierquälerei als moralischen Unwert. Derartige moralische Wertsetzungen werden nun auf das Kind übertragen, bereits zu einer Zeit, wo dieses aus Mangel an Einfühlungsfähigkeit und Phantasie-Ausbildung noch gar nicht fähig ist, selbständig jene Wertgrundlage zu erleben. Sein Gefühlsleben paßt sich jedoch allmählich den übernommenen Wertsetzungen an und so wird die übernommene Wertsetzung nachträglich zu einer erlebten.

Die Fähigkeit zum originalen Selbsterleben von Werten ist viel geringer, als gemeinhin angenommen wird. Wirkliche Originalität des Werterleben ist wohl so selten, wie geniale Schöpferkraft, ja ein wesentlicher Bestandteil dieser. Denn "Schaffen ist Schätzen", um mit NIETZSCHE zu reden. Die großen Neuschöpfer in Religion, in Moral, in Kunst, kurz auf allen Wertgebieten, sind Menschen gewesen, die den konventionellen und oft erstarrten Wertsetzungen gegenüber ein eigenes Wertleben und darauf gegründete neue Wertsetzungen durchgeführt haben.

Der Unterschied zwischen erlebten und übernommenen Wertungen sei auch für die Kunst noch kurz erörtert. Neuere Philosophen haben die "Autonomie", das heißt die "Erlebtheit" der Kunstwerte zu erweisen gesucht und in der Tat haben die echten Kunstgenießenden die Fähigkeit, fremde Kunstwerke ohne die Beeinflussung durch Dritte Personen autonom nachzuerleben. (12) Indessen selbst die besten Kunstgenießenden haben zuweilen solchen Werten gegenüber, die sich später als echt und dauernd erwiesen haben, versagt. Unmittelbare Werterlebnisfähigkeit setzt wohl eine Art prästabilisierter Harmonie zwischen dem Schöpfer und dem Genießenden voraus, die auch bei größter Schwingungsweite des wertenden Subjekts unmöglich sich gegenüber allen fremden Individualitäten bewähren kann. So tritt dann die Übernahme fremder Wertsetzungen mit nachfolgender Anpassung des eigenen Erlebens helfend ein. Es war für die weitaus meisten Europäer ein adäquates Werterleben der ostasiatischen Kunst gegenüber ausgeschlossen. Was sie zunächst dafür aufbringen konnten, war lediglich Kuriositätswertung. Dann kamen einzelne sehr wertempfindliche Individuen, wie z. B. die Brüder GONCOURT, die eine eigene ästhetische Stellungnahme diesen Bildern gegenüber fanden, wenn diese auch in ihrer Anähnlichung an die impressionistische Wertung nicht ganz adäquat war. Erst allmählich, durch gründliches Studium der im Lande selber üblichen Wertsetzung und durch Anpassung des eigenen Erlebens an dieses, haben neuerdings anfangs einzelne, dann mehr Europäer die Wertsetzung nachzuerleben gelernt, die dem Kunstwollen der ostasiatischen Künstler adäquat ist, das nicht "impressionistisch" ist, sondern ein sehr bewußtes Stilgefühl eigener Art. - So ist es in der Kunst vielfach. Ein einigermaßen originales Werterleben haben die meisten Menschen nur der Kunst gegenüber, die ihrer Zeit entsprungen ist, häufiger noch derjenigen gegenüber, die schon ein wenig zurückliegt. Die ganz neuen Kunstwerte ebenso, wie die meisten der entferteren Vergangenheit müssen erst durch Anpassung an übernommene Wertsetzungen allmählich in den Kreis der Erlebnisfähigkeit einbezogen werden.

Man wird es ehrlicherweise aussprechen müssen, daß die meisten der Werte, welche Kunst-, Literatur- und Musikwissenschaft aufstellen, für die Mehrzahl der Menschen nicht erlebte, sondern übernommene Wertsetzungen sind. Allen diesen Wertsetzungen liegt die Fiktion zugrunde, daß in der Tat alle Menschen fähig wären, jene Werte wirklich zu erleben. Gewiß können Anpassung und Erziehung ein solches Erleben vielfach erzielen; trotzdem ist jene Wertsetzung oft eine leere Forderung, wenn nicht häufig Selbsttäuschung oder Heuchelei.

Die Form, in der sich übernommene Wertsetzungen geltend machen, ist die des  Sollens.  Im Sollen ordnet sich eine fremde, autoritative Wersetzung dem eigenen Erleben über. Derjenige, der beim ersten Betrachten der DÜRERschen Apokalypse die krause Linienführung als bizar und unperspektivisch empfindet, aber doch weiß, daß er diese von Kennern hochgeschätzten Blätter als "schön" und "bedeutend" empfinden müßte, gehorcht einem solchen Sollen. Besonders innerhalb sozialer Komplexe, im Staat z. B. erhalten die zu übernehmenden Werte oft  Zwangs charakter. So zwingt der Staat die Bürger oft zur Übernahme ganz bestimmter religiöser und ethischer Wertungen, selbst wenn diese dem Einzelmenschen gegen sein Gewissen gehen. Davon wird später die Rede sein.

6. Fassen wir nochmals kurz zusammen, was uns die Analyse des Wertprozesses ergab.

Die Wertung, soweit sie ein wirkliches Erleben ist, setzt sich aus zwei trennbaren, wenn auch meist in eins verschmelzenden Vorgängen zusammen: der erlebten Wertgrundlage und der Wertsetzung.

Die Wertgrundlage ist eine emotionale Stellungnahme einem Gegenstand gegenüber, in der bald das Gefühl, bald der Wille, d.h. eine Tätigkeitseinstellung des Subjekts, stärker hervortreten.

Die Wertsetzung ist ein von der Wertgrundlage trennbarer  sekundärer  Akt und zwar ebenfalls eine emotionale Stellungnahme zu jener grundlegenden Stellungnahme. Das wertgrundlegende Gefühl oder der wertgrundlegende Wille werden ihrerseits durch sekundäre Gefühle oder Wollungen anerkannt oder verworfen und eben in diesem sekundären Akt beruht das Wesen der Wertsetzung. Die Wertsetzung ist also eine Stellungnahme zu einer Stellungnahme. So widerspruchsvoll diese Spaltung des Prozesses zunächst erscheint, so wird sie doch weitere Klärung finden, wenn wir den Begriff des Wertsubjektes analysieren, in dem eben die Möglichkeit dieser Spaltung vorbedingt ist.

Über das Verhältnis von Wertgrundlage und Wertsetzung zueinander konnten wir noch feststellen, daß nicht immer die Wertgrundlage der Wertsetzung vorausgeht. Das ist nur bei  erlebten  Werten der Fall. Oft finden wir Wertsetzungen, die aus Konvention oder Tradition stammen, deren Grundlage nicht erlebt ist und die wir als  übernommene  Wertungen charakterisieren. In solchen Fällen tritt oft eine Anpassung des Erlebens an die Wertung nachträglich ein, so daß auch die übernommenen Wertsetzungen nicht ohne weiteres als Lüge oder Selbsttäuschung anzusehen sind, sondern sehr wohl echte Werte werden können.

LITERATUR: Richard Müller-Freienfels, "Grundzüge einer neuen Wertlehre" in Annalen der Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1919
    Anmerkungen
    1) KREIBIG, Psychologische Grundlegung eines Systems der Werttheorie, 1902, Seite 3f
    2) ALEXIUS MEINONG, Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, 1894 - Über Annahmen", 1902
    3) von EHRENFELS, System der Werttheorie I, 1897. Ferner z. B. THEODOR LIPPS, Vom Fühlen, Denken, Wollen, 1908
    4) H. SCHWARZ, Glück und Sittlichkeit, Seite 6; Psychologie des Willens, 1901, Seite 34
    5) Ich berühre mich in dieser Trennung vielfach mit der scharfsinnigen Dissertation von WALTER STRICH, "Das Wertproblem in der Philosophie der Gegenwart", Berlin 1909, wenn ich auch in den psychologischen Grundlagen und in der Fassung im einzelnen stark von ihm abweiche.
    6) Vgl. hierzu MÜLLER-FREIENFELS, Das Denken und die Phantasie, 1916, Seite 22
    7) MÜNSTERBERG, Philosophie der Werte, 1908, Seite 22 und 63f
    8) Diesen paradoxen Begriff verteidigt alles Ernstes TITCHENER im "Lehrbuch der Psychologie", Bd. I, Seite 257
    9) Für unsere genauere Darlegung der hier angedeuteten Lehren über das Wesen der Gefühle verweise ich auf meine Abhandlung "Zur Analyse und Begriffsbestimmung der Gefühle", Zeitschrift für Psychologie 68 und "Zur Psychologie und Biologie der Gefühle", Naturwissenschaftliche Wochenschrift, 1917.
    10) Vgl. dazu mein Buch: "Das Denken und die Phantasie", 1916
    11) Unser Begriff der "Stellungnahme" deckt sich in vielem mit dem Begriff des "Aktes", den zahlreiche neue Psychologen eingeführt haben. Während jedoch der "Akt" als rein intellektualistischer Vorgang gefaßt ist, charakterisiert sich die "Stellungnahme" als emotionale, willensmäßig, mit starkem motorischen Einschlag.
    12) Ich verweise für diese Fragen auf die "Philosophie der Kunst" von B. CHRISTIANSEN, 1907