p-4von Hartmannvon HeydebreckLipps     
 
GEORG GRODDECK
Das Buch vom Es
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"Ich bin der Ansicht, daß der Mensch vom Unbekannten gelebt wird. In ihm ist ein Es, irgendein Wunderbares, das alles, was er tut und was mit ihm geschieht, regelt. Der Satz  ich lebe  ist nur bedingt richtig, er drückt ein kleines Teilphänomen von dieser Grundwahrheit aus:  Der Mensch wird vom Es gelebt." 

"Mit dem Erwachsensein ist es so eine Sache; man ist es selten, nur auf der Oberfläche, spielt es nur, wie das Kind auch Großsein spielt. Sobald wir tief leben, sind wir Kind. Für das Es gibt es kein Alter, und das Es ist unser eigentliches Leben. Sehen Sie sich doch den Menschen in den Augenblicken tiefsten Leidens, tiefster Freude an: das Gesicht wird kindlich, die Bewegungen werden es, die Stimme bekommt die Biegsamkeit wieder, das Herz klopft wie in der Kindheit, die Augen glänzen oder trüben sich."

1.

LIEBE FREUNDIN, SIE WÜNSCHEN, DASS ICH IHNEN SCHREIBE, NICHTS PERSÖNLICHES, keinen Klatsch, keine Redensarten, sondern ernst, belehrend, womöglich wissenschaftlich. Das ist schlimm.

Was habe ich Armer mit Wissenschaft zu tun? Das bißchen, was man als praktischer Arzt nötig hat, kann ich Ihnen doch nicht vorführen, sonst sehen Sie, wie löchrig das Hemd ist, das unsereiner unter dem Staatsgewand der Approbation als Arzt trägt. Aber vielleicht ist Ihnen mit der Erzählung gedient, warum ich Arzt wurde und wie ich zu der Abneigung gegen das Wissen gekommen bin.

Ich besinne mich nicht, daß ich als Knabe eine besondere Neigung für das Arztsein gehabt habe, vor allem weiß ich bestimmt, daß ich nie, auch später nicht, mit diesem Beruf menschenfreundliche Gefühle verbunden hätte; und wenn ich mich, was wohl geschehen ist, mit solchen edlen Worten zierte, so verzeihe mir ein mildes Gericht mein Lügen. Arzt wurde ich, weil mein Vater es war. Er hatte all meinen Brüdern verboten, diese Laufbahn einzuschlagen, vermutlich weil er sich und andern gern einreden wollte, seine finanziellen Schwierigkeiten seien durch die schlechte Bezahlung des Arztes bedingt, was durchaus nicht der Fall war, da er bei alt und jung als ein guter Arzt gerühmt und dementsprechend entlohnt wurde. Aber er liebte es, wie sein Sohn auch und wie wohl ein jeder, nach außen zu blicken, wenn er wußte, daß in ihm selber etwas nicht stimmte. Eines Tages fragte er mich, - warum, weiß ich nicht - ob ich nicht Arzt werden wolle, und weil ich in dieser Frage eine Auszeichnung meinen Brüdern gegenüber sah, sagte ich ja. Damit war mein Schicksal entschieden, sowohl für meine Berufswahl, als auch für die Art, wie ich diesen Beruf ausgeübt habe. Denn von da an habe ich meinen Vater bewußt nachgeahmt, so stark, daß eine alte Freundin von ihm, als sie mich viele Jahre später kennen lernte, in die Worte ausbrach: "Ganz der Vater, nur keine Spur von seinem Genie."

Bei jener Gelegenheit erzählte mir mein Vater etwas, was mich später, als die Zweifel an meinen ärztlichen Fähigkeiten kamen, an meiner Arbeit festhielt. Vielleicht kannte ich die Geschichte schon vorher, aber ich weiß, daß sie mir in der gehobenen Stimmung des JOSEPH, der besser war als seine Brüder, einen tiefen Eindruck machte. Er habe mich, erzählte er mir, als dreijährigen Jungen mit meiner etwas älteren Schwester, meiner ständigen Spielkameradin, beim Puppenspielen beobachtet. LINA verlangte, daß der Puppe noch ein Kleid angezogen werden soll, und ich gab es nach langem Kampf mit den Worten zu: "Gut, aber du wirst sehen, sie erstickt." Daraus habe er den Schluß gezogen, daß ich eine ärztliche Begabung hätte. Und ich selber habe diesen so wenig begründeten Schluß auch gezogen.

Ich erwähne dieses kleine Ereignis, weil es mir Gelegenheit gibt, von einem Zug meines Wesens zu sprechen, von einer seltsamen Ängstlichkeit geringfügigen Dingen gegenüber, die mich plötzlich und scheinbar unmotiviert befällt. Angst ist, wie Sie wissen, die Folge eines verdrängten Wunsches; es muß in jenem Augenblick, als ich den Gedanken äußerte, die Puppe werde ersticken, der Wunsch in mir lebendig gewesen sein, irgendein Wesen, dessen Stelle die Puppe vertrat, zu töten. Wer dieses Wesen war, weiß ich nicht, vermute nur, daß es eben diese meine Schwester war; ihrer Kränklichkeit halber wurde ihr von meiner Mutter manches zugeteilt, was ich als Jüngster für mich beanspruchte. Da haben Sie nun, was das Wesentliche des Arztes ist: ein Hang zur Grausamkeit, der gerade so weit verdrängt ist, daß er nützlich wird, und dessen Zuchtmeister die Angst ist, weh zu tun. Es lohnte sich, diesem feingefügten Widerspiel von Grausamkeit und Angst im Menschen nachzugehen, weil es gar wichtig im Leben ist. Aber für den Zweck eines Briefes genügt es wohl festzustellen, daß das Verhältnis zu meiner Schwester viel mit der Entwicklung und Bändigung meiner Lust am Wehtun zu tun hat. Unser Lieblingsspiel war Mutter und Kind zu spielen, wobei es darauf ankam, daß das Kind unartig war und Schläge bekam. Daß alles milde verlief, war durch die Kränklichkeit meiner Schwester bedingt und spiegelt sich in der Art wider, wie ich meinen Beruf ausgeübt habe. Neben der Scheu voor dem blutigen chirurgischen Handwerk habe ich die Abneigung gegen das Giftmischen der Apotheke und bin so zur Massage und zur physischen Behandlung gekommen; beide sind nicht weniger grausam, aber sie lassen sich besser der individuellen menschlichen Lust am Leiden anpassen. Aus den täglich wechselnden Anforderungen heraus, die LINAs Herzleiden an mein unbewußtes Taktgefühl stellten, wuchs dann die Neigung, mich mit chronisch Kranken zu beschäftigen, während mich die akute Erkrankung ungeduldig macht.

Das ist so ungefähr, was ich vorläufig über die Wahl meines Berufes mitteilen kann. Wenn Sie es nur ein wenig in Ihrem Herzen bewegen, wird Ihnen schon allerlei über meine Stellung zur Wissenschaft einfallen. Denn wer von Kindheit an auf den einzelnen Kranken eingestellt ist, wird schwerlich systematisch rubrizieren lernen. Aber auch da ist wohl das Wichtigste die Nachahmung. Mein Vater war ein Ketzer unter den Ärzten, war sich selbst Autorität, ging eigene Wege und Irrwege und von Respekt vor der Wissenschaft war weder in Worten noch in Taten viel bei ihm zu spüren. Ich besinne mich noch, wie er über die Hoffnungen spottete, die sich an die Entdeckung des Tuberkel- und Cholerabazillus knüpften, und mit welchem Hochgenuß er erzählte, daß er gegen alle physiologischen Lehrsätze ein Wickelkind ein Jahr lang nur mit Bouillon gefüttert habe. Das erste medizinische Buch, das er mir in die Hände gab, - ich war damals noch Gymnasiast - war die Erfahrungsheillehre RADEMACHERs, und da darin die Kampfstellen wider die Wissenschaft dick angestrichen und reichlich mit Randbemerkungen versehen waren, so ist es wohl kein Wunder, wenn ich schon vor Beginn meines Studiums geneigt war zu zweifeln.

Diese Lust am Zweifel war noch anders bedingt. Als ich sechs Jahre alt war, verlor ich zeitweise die ausschließliche Freundschaft meiner Schwester. Sie wendete ihre Neigung einer Schulkameradin zu, die den Namen ALMA trug, und was besonders schmerzlich war, sie übertrug unsere kleinen sadistischen Spiele auf diese neue Freundin und schloß mich von der Teilnahme daran aus. Es gelang mir ein einzigesmal, die beiden Mädchen beim Geschichtenerzählen, was sie besonders liebten, zu belauschen. ALMA phantasierte von einer bösen Mutter, die ihr unartiges Kind zur Strafe in eine Abtrittsgrube steckte, - man muß sich dabei einen ländlichen primitiven Abtritt vorstellen. Noch heute geht es mir nach, daß ich diese Geschichte nicht zu Ende gehört habe. Die Freundschaft der beiden Mädchen ging vorüber und meine Schwester kehrte zu mir zurück. Aber jene Zeit der Einsamkeit hat genügt, um mir eine tiefe Abneigung gegen den Namen ALMA einzuflößen.

Und nun darf ich Sie wohl daran erinnern, daß die Universität sich Alma Mater nennt. Das hat mich stark gegen die Wissenschaft eingenommen, noch mehr, weil das Wort  Alma Mater  auch für das Gymnasium angewendet wurde, in dem ich meine humanistische Bildung erhielt und in dem ich viel gelitten habe, von dem ich viel erzählen müßte, wenn es darauf ankäme, Ihnen meine menschliche Entwicklung begreiflich zu machen. Aber darauf kommt es ja nicht an, sondern nur auf die Tatsache, daß ich all den Haß und das Leid meiner Schulzeit auf die Wissenschaft übertrug, weil es bequemer ist, Trübungen der Seele aus dem äußeren Geschehen herzuleiten, statt sie in den Tiefen des Unbewußten zu suchen.

Später, erst sehr spät, ist mir klar geworden, daß das Wort "Alma Mater",  nährende Mutter,  an die ersten und schwersten Konflikte meines Lebens erinnert. Meine Mutter hat nur das älteste ihrer Kinder genährt; sie bekam damals schwere Brustentzündungen, durch die die Milchdrüsen verödeten. Meine Geburt muß wohl ein paar Tage früher stattgefunden haben, als berechnet war. Jedenfalls war die Amme, die für mich bestimmt war, noch nicht im Haus und ich bin drei Tage kümmerlich von einer Frau gestillt worden, die zweimal am Tag kam, um mir die Brust zu geben. Es hat mir nichts geschadet, sagte man mir, aber wer kann die Gefühle eines Säuglings beurteilen? Hungern müssen ist kein freundlicher Willkommensgruß für einen Neugeborenen. Ich habe hie und da Leute kennengelernt, denen es ähnlich ergangen ist, und wenn ich auch nicht beweisen kann, daß sie Schaden an ihrer Seele gelitten haben, so ist es mir doch wahrscheinlich. Und im Vergleich zu ihnen glaube ich noch gut weggekommen zu sein.

Da ist zum Beispiel eine Frau, - ich kenne sie viele, viele Jahre, - deren Mutter sich von ihrem neugeborenen Kind abwandte, sie nährte es nicht, obwohl sie es bei den andern Kindern tat, und überließ es dem Kindermädchen und der Flasche. Das Kind aber hungerte lieber, als daß es am Gummipfropfen sog, es kränkelte dem Tod entgegen, bis ein Arzt die Mutter aus ihrer Antipathie aufrüttelte. Da wurde aus der fühllosen Mutter eine besorgte. Eine Amme kam ins Haus und die Mutter ließ keine Stunde vergehen, ohne nach dem kleinen Mädchen zu sehen. Das Kind gedieht nun und ist zu einer kräftigen Frau herangewachsen. Sie wurde der Verzug der Mutter, die bis zu ihrem Tod werbend hinter der Tochter herlief. Aber in der Tochter blieb der Haß. Ihr Leben ist eine stahlharte Kette der Feindschaft, deren einzelne Glieder aus Rache geschmiedet sind. Sie hat die Mutter gequält, solange sie lebte, sie ist vom Sterbebett der Mutter fortgereist, sie verfolgt, ohne daß sie es weiß, jeden, der an die Mutter erinnert, und sie wird bis an ihr Lebensende den Neid behalten, den ihr der Hunger eingeflößt hatte. Sie ist kinderlos. Menschen, die ihre Mutter hassen, sind kinderlos, und das ist so wahr, daß man bei unfruchtbaren Ehen ohne weiteres annehmen kann, einer von beiden Teilen ist Feind seiner Mutter. Wer seine Mutter haßt, der fürchtet sich vor dem eigenen Kind; denn der Mensch lebt nach dem Satz: "Wie du mir, so ich dir." Dabei wird sie verzehrt von dem Wunsch, ein Kind zu gebären. Ihr Gang ist der einer Schwangeren, wenn sie einen Säugling sieht, schwellen ihre Brüste, und wenn ihre Freundinnen schwanger werden, bekommt sie einen dicken Bauch. Jahrelang ist sie, die vom Leben und Reichtum Verwöhnte, täglich als Hilfsschwester in eine Entbindungsanstalt gegangen, hat die Kinder gereinigt, Windeln gewaschen und Wöchnerinnen versorgt und in wahnsinniger Begierde die Neugeborenen, verstohlen wie eine Verbrecherin, an ihre milchlosen Brüste gelegt. Aber sie hat zweimal Männer geheiratet, von denen sie vorher wußte, daß sie zeugungsunfähig waren. Sie lebt vom Haß, der Angst, dem Neid und der lüsternen Qual des Hungerns nach Unerreichbarem.

Da ist eine andere, die hungerte auch in den ersten Tagen nach der Geburt. Sie hat sich nie entschließen können, sich den Haß gegen die Mutter einzugestehen, aber das Gefühl, die früh verstorbene Mutter gemordet zu haben, quält si unablässig, so irrsinnig ihr dieser Gedanke auch scheint. Denn die Mutter starb während dieser Operation, von der das Mädchen vorher nichts wußte. Seit vielen Jahren sitzt sie einsam und krank in ihrem Zimmer, nährt sich vom Haß gegen alle Menschen, sieht niemanden, neidet und haßt.

Was mich selbst betrifft, so ist schließlich die Amme gekommen und sie ist drei Jahre bei uns im Haus geblieben. Haben Sie sich schon einmal mit den Erlebnissen eines kleinen Kindes beschäftigt, das von einer Amme genährt wird? Die Sache ist etwas kompliziert, wenigstens wenn das Kind von der Mutter geliebt wird. Da ist eine Mutter, in deren Leib hat man neun Monate gesessen, sorglos, warm und in allen Freuden. Sollte man sie nicht lieben? Und dann ist da ein zweites Wesen, an dessen Brust man täglich liegt, deren Milch man trinkt, deren warme frische Haut man fühlt und deren Geruch man einatmet. Sollte man sie nicht lieben? Zu wem aber soll man halten? Der Säugling, der von der Amme gestillt wird, ist in den Zweifel hineingestellt und wird den Zweifel nie verlieren. Seine Glaubensfähigkeit ist im Fundament erschüttert und das Wählen zwischen zwei Möglichkeiten ist für ihn schwerer als für andere. Und was kann einem solchen Menschen, dessen Gefühlsleben man von Beginn an halbiert hat, den man um die volle Kraft der Leidenschaft betrügt, das Wort "Alma Mater" anderes sein als ein Hohn und eine Lüge? Das Wissen aber wird ihm von vornherein unfruchtbar erscheinen. Er weiß, die eine dort, die dich nicht nährt, ist deine Mutter und sie beansprucht dich als ihr Eigentum, die andere aber nährt dich und doch bist du nicht ihr Kind. Man steht vor dem Problem, das sich durch Wissen nicht lösen läßt, vor dem man fliehen muß, gegen dessen aufdringliche Frage man am besten in das Reich der Phantasie flüchtet. Und wer in diesem Reich heimisch ist, erkennt irgendwann einmal, daß alle Wissenschaft nichts anderes ist als eine Abart der Phantasie, ein Spezialfach sozusagen, mit allen Vorzügen und mit allen Gefahren der Spezialität ausgestattet.

Es gibt auch Menschen, die sich im Reich der Phantasie nicht heimisch fühlen, und von einem solchen will ich Ihnen kurz berichten. Er sollte nicht geboren werden, wurde aber doch geboren, trotz Vater und Mutter. Da versiegte die Milch der Frau und eine Amme kam ins Haus. Das Söhnchen wuchs inmitten seiner glücklicheren Geschwister, die an der Mutterbrust lagen, heran, aber er blieb zwischen ihnen ein Fremdling, sowie er auch den Eltern fremd blieb. Und ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen, hat er allmählich die Bande zwischen den Eltern gesprengt. Sie sind unter dem Druck halbbewußter Schuld, die fremden Augen aus der seltsamen Behandlung des Sohnes, vor einander geflohen und wissen nicht mehr voneinander. Der Sohn aber wurde ein Zweifler, sein Leben wurde halb. Und weil er nicht wagte, phantastisch zu sein, - denn er sollte ein ehrbarer Mensch werden, und seine Träume waren die des ausgestoßenen Abenteurers, - begann er zu trinken, ein Schicksal, das manchem begegnet, der in den ersten Lebenswochen Liebe entbehren mußte. Aber wie alles, ist auch die Trunksucht bei ihm nur halb. Nur zeitweise, für einige Wochen oder Monate, kommt es über ihn, daß er trinken muß. Und weil ich ein wenig seinen Irrgängen nachgespürt habe, weiß ich, daß immer diese kindische Ammensache auftaucht, ehe er zum Glas greift. Das gibt mir die Gewißheit, daß er genesen wird. Und nun etwas Seltsames: dieser Mann wählte ein Mädchen zum Weib, das ebenso tief im Haß gegen die Eltern steckt wie er, das ebenso wie er kindernärrisch ist und doch das Kinderkriegen wie den Tod fürchtet. Und weil das seiner zerrissenen Seele noch keine Sicherheit gab, ob ihm nicht doch ein Kind geboren werden könnte, das ihn straft, erwarb er sich eine Ansteckung und gab sie seinem Weib weiter. Es steckt iim Menschenleben viel unbekannte Tragik!

Mein Brief ist zu Ende. Aber darf ich die Geschichte meiner Amme weiter erzählen? Ich besinne mich nicht mehr, wie sie aussah, weiß nichts mehr als ihren Namen: BERTA, die Glänzende. Aber ich habe eine deutliche Erinnerung an den Tag, an dem sie wegging. Sie schenkte mir zum Abschied einen kupfernen Dreier und ich weiß genau, daß ich, statt wie sie wollte, Zuckerzeug dafür zu kaufen, micht auf die steinerne Treppe der Küche setzte und das Dreierstück auf den Stufen rieb, damit es glänzte. Seitdem hat mich die Zahl  drei  verfolgt. Wörter wie Dreieinigkeit, Dreibund, Dreieck haben etwas Anrüchiges für mich und nicht nur die Wörter, auch die Begriffe, die damit verbunden sind, ja ganze Ideenkomplexe, die ein eigensinniges Knabengehirn darum herum gebaut hat. So ist der heilige Geist als Dritter schon in früher Kindheit von mir abgelehnt worden, die Lehre von den Dreieckskonstruktionen ist mir in der Schule eine Plage gewesen und die einst vielgepriesene Dreibundspolitik wurde von mir von vornherein getadelt. Ja, die Drei ist eine Art Schicksalszahl für mich geworden. Wenn ich mein Gefühlsleben rückschauend betrachte, so sehe ich, daß ich, so oft mein Herz sprach, als Dritter in ein bestehendes Neigungsverhältnis zweier Menschen eingedrungen bin, daß ich stets den einen, dem meine Leidenschaft galt, vom andern getrennt habe, und daß meine Neigung erkaltete, sobald mir das gelungen war. Ja, ich kann verfolgen, wie ich, um diese schwindende Neigung am Leben zu erhalten, von neuem einen Dritten zugezogen habe, um ihn wieder zu verdrängen. So sind in einer und gewiß keiner unwichtigen Richtung die Affekte des Doppelverhältnisses zu Mutter und Amme und der Kampf des Abschieds ohne Absicht, ja, ohne Wissen von mir wiederholt worden; eine nachdenkliche Sache, die zumindest zeigt, daß in der Seele eines dreijährigen Kindes seltsam verworrene und doch einheitlich gerichtete Dinge vor sich gehen.

Ich habe meine Amme später - etwa mit acht Jahren - noch einmal für wenige Minuten wiedergesehen. Sie war mir fremd und ich hatte ein schweres Gefühl des Bedrücktseins in ihrer Gegenwart.

Vom Wort  Dreier  muß ich noch zwei kleine Geschichten erzählen, die Bedeutung haben. Als mein älterer Bruder anfing, Latein zu lernen, fragte ihn mein Water beim Mittagessen, was die Träne heiße. Er wußte es nicht; aus irgendeinem Grund hatte ich mir das Wort  lacrima  vom Abend vorher, als WOLF laut seine Vokabeln memorierte, gemerkt und beantwortete nun statt seiner die Frage. Ich bekam zum Lohn ein Fünfgroschenstück. Nach Tisch aber boten mir meine beiden Brüder an, dieses Fünfgroschenstück gegen einen blankgeputzten Dreier einzutauschen, was ich mit Freuden tat. Neben dem Wunsch, die überlegenen Knaben ins Unrecht zu setzen, müssen dumpfe Gefühlserinnerungen mitgesprochen haben. - Wenn Sie es wünschen, erzähle ich Ihnen später einmal, was das Wort "lacrima" und "Träne" für mich bedeutete.

Das zweite Ereignis bringt mich in heitere Stimmung, so oft ich daran denke. Ein Menschenalter später habe ich für meine Kinder ein kleines Stück geschrieben, in dem eine vertrocknete, dürre, alte Jungfer vorkommt, ein gelehrtes Wesen, das griechischen Unterricht gibt und weidlich verlacht wird. Und diesem Kind meiner Phantasie, brüstelos und kahl wie sie war, gab ich den Namen "Dreier". So hat die Flucht vor dem ersten unerinnerbaren Abschiedsschmerz aus dem leben- und liebestrotzenden Mädchen, das mich stillte und an dem ich hing, das Abbild dessen gemacht, was mir die Wissenschaft ist.

Es ist wohl ernst genug, was ich Ihnen schrieb, ernst für mich. Aber ob es das ist, was Sie für unseren Briefwechsel wünschen, wissen die Götter. Sei es, wie es sei, ich bin wie immer ihr ganz getreuer

PATRIK TROLL



2.

LIEBE FREUNDIN, SIE SIND NICHT ZUFRIEDEN; ES IST ZU viel Persönliches in meinem Brief; und Sie wollen mich objektiv haben. Ich glaubte, ich sei es gewesen.

Lassen Sie uns sehen: ich schrieb über Berufswahl, Abneigungen und innerem Zwiespalt, der von Kindheit an besteht. Allerdings sprach ich von mir selber, aber diese Erlebnisse sind typisch. Übertragen Sie sie auf andere Menschen, so wissen Sie über vieles Bescheid. Vor allem das Eine wird Ihnen klar, daß unser Leben auch von Kräften regiert wird, die nicht offen zutage liegen, die erst mühsam aufgesucht werden müssen. Ich wollte an einem Beispiel, an meinem Beispiel zeigen, daß sehr vieles in uns vorgeht, was außerhalb unseres gewohnten Denkens liegt. Aber vielleicht sage ich Ihnen besser gleich, was ich mit meinen Briefen beabsichtige. Sie können dann entscheiden, ob der Gegenstand ernst genug ist. Wenn ich einmal in Klatsch oder in Redensarten versinke, sagen Sie es; dann ist uns beiden geholfen.

Ich bin der Ansicht, daß der Mensch vom Unbekannten gelebt wird. In ihm ist ein Es, irgendein Wunderbares, das alles, was er tut und was mit ihm geschieht, regelt. Der Satz "ich lebe" ist nur bedingt richtig, er drückt ein kleines Teilphänomen von dieser Grundwahrheit aus: "Der Mensch wird vom Es gelebt". Mit diesem Es werden sich meine Briefe beschäftigen. Sind Sie damit einverstanden?

Und noch eins. Wir kennen von diesem Es nur das, was innerhalb unseres Bewußtseins liegt. Weitaus das meiste ist unbetretbares Gebiet. Aber wir können die Grenzen unseres Bewußtseins durch Forschung und Arbeit erweitern und wir können tief in das Unbewußte eindringen, wenn wir uns entschließen, nicht mehr wissen zu wollen, sondern zu phantasieren. Wohlan, mein schöner Doktor FAUST, der Mantel ist zum Flug bereit. Ins Unbewußte ...

Ist es nicht merkwürdig, daß wir von unseren drei ersten Lebensjahren nichts mehr wissen? Hie und da kramt einer noch eine schwache Erinnerung an ein Gesicht, eine Tür, eine Tapete oder sonst irgendetwas aus, was er in seiner frühesten Kindheit gesehen haben will. Aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der sich an seinen ersten Schritt erinnert hätte oder an die Art, wie er sprechen, essen, sehen, hören gelernt hat. Und das alles sind doch Erlebnisse. Ich könnte mir vorstellen, daß ein Kind, wenn es zum ersten Mal durch die Zimmer rutscht, tiefere Eindrücke bekommt als ein Erwachsener durch eine Reise nach Italien. Ich könnte mir vorstellen, daß ein Kind, das zum ersten Mal erkennt, der Mensch dort mit dem gütigen Lächeln ist die Mutter, tiefer davon ergriffen wird, als ein Mann, der seine Geliebte heimführt. Warum vergessen wir das alles?

Darauf läßt sich vieles sagen; aber eine Erwägung muß erst erledigt werden, ehe man an die Antwort gehen kann. Die Frage ist falsch gestellt. Wir vergessen jene drei ersten Jahre nicht, die Erinnerung daran scheidet nur aus unserem Bewußtsein aus, im Unbewußten lebt sie fort, bleibt sie so lebendig, daß alles, was wir tun, aus diesem unbewußten Erfahrungsschatz gespeist wird: wir gehen, wie wir es damals lernten, wir essen, wir sprechen, wir empfinden in der Art, wie wir es damals taten. Es gibt also Dinge, die vom Bewußtsein verworfen werden, obwohl sie lebensnotwendig sind, die, weil sie notwendig sind, in Regionen unseres Wesens aufbewahrt werden, wenn man das Unbewußte genannt hat. Warum aber vergißt das Bewußtsein seine Erlebnisse, ohne die der Mensch nicht bestehen kann?

Darf ich die Frage offen lassen? Ich werde sie noch oft stellen müssen. Aber jetzt liegt mir mehr daran, von Ihnen als Frau zu erfahren, warum die Mütter so wenig von ihren eigenen Kindern wissen, warum auch sie das Wesentliche dieser drei Jahre vergessen. Vielleicht tun die Mütter auch nur so, als ob sie es vergäßen. Oder vielleicht kommt auch ihnen das Wesentliche nicht zu Bewußtsein.

Sie werden schelten, daß ich mich wieder über die Mütter lustig mache. Aber wie soll ich mir anders helfen? In mir lebt die Sehnsucht. Wenn ich trübe bin, ruft mein Herz nach der Mutter und findet sie nicht. Soll ich mit Gott und der Welt grollen? Da ist es besser, über sich selbst zu lachen, über dieses Kindsein, aus dem man nie herauskommt. Denn mit dem Erwachsensein ist es so eine Sache; man ist es selten, nur auf der Oberfläche, spielt es nur, wie das Kind auch Großsein spielt. Sobald wir tief leben, sind wir Kind. Für das Es gibt es kein Alter, und das Es ist unser eigentliches Leben. Sehen Sie sich doch den Menschen in den Augenblicken tiefsten Leidens, tiefster Freude an: das Gesicht wird kindlich, die Bewegungen werden es, die Stimme bekommt die Biegsamkeit wieder, das Herz klopft wie in der Kindheit, die Augen glänzen oder trüben sich. Gewiß, wir suchen das alles zu verstecken, aber es ist doch deutlich da und wir bemerken es nur nicht ohne weiteres, weil wir die kleinen Zeichen, die so laut reden, an uns selbst nicht wahrnehmen wollen und sie deshalb auch bei anderen übersehen. Man weint nicht mehr, wenn man erwachsen ist? Doch bloß, weil es nicht Sitte ist, weil irgendein dummer Teufel es aus der Mode brachte. Mir hat es immer Spaß gemacht, daß ARES wie zehntausend Männer schrie, als er verwundet wurde. Und daß ACHILL Tränen über PATROKLOS vergießt, setzt ihn nur in den Augen des Gernegroß herab. Wir getrauen uns nicht einmal, aufrichtig zu lachen. Aber das hindert doch nicht, daß wir, wenn wir etwas nicht können, wie Schuljungen aussehen, daß wir denselben Ausdruck der Angst haben, den wir als Knaben hatten, daß uns kleine Gewohnheiten des Gehens, Liegens, Sprechens unablässig begleiten und jedem, der es sehen will, sagen: Siehe da, ein Kind. Beobachten Sie jemanden, der allein zu sein glaubt, sofort kommt das Kind zum Vorschein, manchmal in sehr komischer Form, man gähnt, man kratzt sich ungeniert am Kopf und Hintern, man popelt gar in seiner Nase und - ja es muß gesagt sein - man pupt. Die feinste Dame pupt. Oder beobachten Sie Menschen, die ganz versenkt in irgendeine Tätigkeit, in irgendein Denken versunken sind, schauen Sie sich Liebende oder Kranke oder Greise an; sie alle sind hie und da Kinder.

Wenn man es sich ein wenig zurecht legt, kommt einem das Leben wie ein Maskenfest vor, zu dem man sich verkleidet, vielleicht zehn-, zwölf-, hundertmal verkleidet, aber man geht doch hin als das, was man ist, bleibt unter der Verkleidung inmitten der Masken, was man ist, und geht wieder davon genau so, wie man hinging. Das Leben beginnt mit dem Kindsein und geht auf tausend Wegen durch das Mannesalter hin nach dem einen Ziel, wieder Kind zu werden, und nur der einzige Unterschied ist zwischen den Menschen, ob sie kindisch werden oder kindlich.

Dasselbe Phänomen, daß in uns etwas ist, was nach eigenem Belieben in allen möglichen Altersstufen auftritt, können Sie auch bei Kindern sehen. Das Greisenhafte im Säuglingsantlitz ist bekannt und oft besprochen. Aber gehen Sie über die Straße und sehen Sie sich die kleinen drei-, vierjährigen Mädchen an, - bei ihnen ist es deutlicher als bei den Knaben, wofür sich wohl ein Grund angeben ließe; - sie sehen mitunter aus, als ob sie ihre eigenen Mütter wären. Und zwar alle, nicht nur hie und da eine, die frühe vom Leben angefaßt ist, nein, eine jede und ein jeder hat diesen seltsam alten Ausdruck zu Zeiten. Da ist eine, die hat den zänkischen Mund der verbitterten Frau, dort eine, deren Lippen die Neigung zum Klatsch verraten, dort wieder sehen Sie die alte Jungfer und dort die Kokette. Und dann, wie oft sieht man die Mutter schon im kleinsten Kind. Es ist nicht Nachahmung allein, es ist das Es, das waltet. Das wird zuweilen Herr über das Alter, verfügt darüber, wie wir heute dieses oder morgen jenes Kleid anziehen.

VIelleicht ist auch Neid, der mich über die Mutter spotten läßt. Neid, daß ich nicht selbst Weib bin und Mutter werden kann.

Lachen Sie nur nicht, es ist wirklich wahr, und nicht nur mir geht es so, sondern allen Männern, selbst denen, die sich gar männlich vorkommen. Die Sprache beweist es schon, der männlichste Mann scheut sich nicht zu sagen, daß er mit dem oder jenem Gedanken schwanger geht, er spricht von seinem Geisteskind und nennt die mühevoll beendete Tat eine schwere Geburt.

Und das sind nicht nur Wortklänge. Sie schwören ja auf die Wissenschaft. Nun, daß der Mensch aus Mann und Weib entsteht, ist doch wohl eine wissenschaftlich begründete Tatsache, wenn man sie auch nicht im Denken und Reden berücksichtigt, wie das so oft bei einfachen Wahrheiten vorkommt. Also ist im Wesen, das sich Mann nennt, ein Weib vorhanden, im Weib ein Mann und an der Idee des Mannes, ein Kind zu bekommen, ist das einzig seltsame, daß sie hartnäckig geleugnet wird. Aber das Leugnen tut dem Geschehen keinen Abbruch.

Diese Mischung von Mann und Weib ist manchmal verhängnisvoll. Es gibt Menschen, deren Es im Zweifel stecken bleibt, die alles von zwei Seiten sehen, die Sklaven eines doppelten Kindheitsausdrucks sind. Als solche Zweifler nannte ich Ihnen die Ammenkinder. Und tatsächlich alle vier, von denen ich Ihnen berichtete, besitzen ein Es, das zu Zeiten nicht weiß, ist es Mann oder Weib. Von mir wissen Sie längst aus eigenen Erinnerungen, daß mir der Bauch unter irgendeinem Eindruck anschwillt und daß er plötzlich zusammensinkt, wenn ich Ihnen davon erzähle. Sie wissen auch, daß ich es meine Schwangerschaft nenne. Aber Sie wissen nicht - oder erzählte ich es Ihnen schon? - gleichgültig; hier erzähle ich es nochmal. Vor beinahe zwanzig Jahren wuchs mir ein Kropf am Hals. Ich wußte damals noch nicht, was ich jetzt weiß oder zu wissen glaube. Genug, ich lief zehn Jahre lang mit einem dicken Hals durch die Welt und hatte mich damit abgefunden, dieses Ding vor meiner Kehle mit ins Grab zu nehmen. Dann kam die Zeit, wo ich das Es kennen lernte, und ich sah ein, - auf welchem Weg ist nicht nennenswert, - daß jener Kropf ein phantasiertes Kind ist. Sie haben sich selbst gewundert, wie ich jenes monströse Ding los werden konnte, ohne Operation, ohne Behandlung, ohne Jod und Thyreoidin. Ich bin der Ansicht, daß der Kropf verschwand, weil mein Es einsehen lernte und mein Bewußtsein einsehen lehrte, daß ich wirklich wie jeder Mensch ein doppeltes Geschlechtswesen und -leben habe, daß es unnötig ist, das handgreiflich durch eine Geschwulst zu beweisen. Weiter, jene Frau, die ohne Not im Wöchnerinnenheim die Wonne fremder Entbindungen genoß, hat Zeiten, in denen ihre Brüste ganz verkümmern; dann wacht in ihr das Mannsein auf und treibt sie unwiderstehlich dazu, im Liebesspiel den Mann unter sich zu legen und auf ihm zu reiten. Das Es der dritten, jener Einsamen ließ zwischen ihren Schenkeln ein Gewächs entstehen, das wie ein Schwänzchen aussah, und - seltsam zu denken - sie pinselte es mit Jod, wie sie glaubte, um es zu beseitigen, in Wahrheit um dem Kopf des Gebildes den roten Schein der Eichel zu geben. Dem letzten Ammenkind, das ich erwähnte, geht es wie mir, ihm schwillt der Bauch in einer phantastischen Schwangerschaft. Und dann hat er Gallenkolliken, Entbindungen, wenn Sie wollen, vor allem aber hat er mit dem Blinddarm zu tun - wie alle, die gern kastriert werden, Weib werden wollen; denn das Weib entsteht - so glaubt das kindische Es, - aus dem Mann durch Abschneiden der Geschlechtsteile. Drei Anfälle von Blinddarmentzündung kenne ich bei ihm. Bei allen dreien ließ sich der Wunsch, Weib zu sein, nachweisen. Oder habe ich ihm den Wunsch nur eingeredet, Weib zu sein? Das ist schwer zu sagen.

Ich muß Ihnen noch von einem fünften Ammenkind erzählen, einem mit Talent reich begabten Mann, der aber als Wesen mit zwei Müttern in allem halb ist und der Halbheit mit Pantopon Herr zu werden versucht. Aus Aberglauben, behauptet die Mutter, hat sie ihn nicht genährt; zwei Söhne waren ihr gestorben, diesen dritten hat sie nicht an die Brüste gelegt. Er aber weiß nicht, ob er Mann oder Weib ist, sein Es weiß es nicht. In früher Kindheit wurde das Weib in ihm lebendig, da lag er lange krank an einer Herzbeutelentzündung, einer phantasierten Herzschwangerschaft. Und später hat sich das wiederholt als Brustfellentzündung und als unwiderstehlicher homosexueller Zwang.

Lachen Sie ruhig über mein abenteuerliches Märchenerzählen. Ich bin gewöhnt, verlacht zu werden, und habe es gern, mich ab und zu von neuem dagegen abzuhärten.

Darf ich Ihnen noch eine kleine Geschichte erzählen? Ich habe sie von einem Mann, der längst begraben ist, vom Krieg verschlungen. Er ist fröhlich in den Tod hineingesprungen, denn er gehörte zum Typus der Helden. Er erzählte davon, wie der Hund seiner Schwester, ein Pudel, eines Tages, er mochte damals siebzehn Lebensjahre zählen, sich an seinem Bein gerieben, onaniert habe. Er habe interessiert zugesehen, als dann aber der Samen über sein Bein geflossen sei, habe ihn plötzlich die Idee gepackt, daß er nun junge Hunde gebären werde, und diese Idee sei ihm Wochen und Monate lang nachgeganen.

Wenn Sie Lust hätten, könnten wir uns jetzt ein wenig ins Märchenland begeben, von den Königinnen sprechen, denen statt der echten Söhne neugeborene Hunde in die Wiege gelegt werden, und könnten daran allerlei Betrachtungen über die seltsame Rolle knüpfen, die der Hund im verschwiegenen Leben des Menschen spielt, Betrachtungen, die ein helles Licht auf den pharisäischen Abscheu des Menschen vor perversem Empfinden und Handeln werfen. Aber vielleicht wäre das ein wenig zu intim. Bleiben wir lieber bei der Schwangerschaft des Mannes. Sie ist recht häufig.

Das Auffällig bei einer Schwangeren ist der dicke Bauch. was sagen Sie dazu,, daß ich vorher behauptete, auch beim Mann sei der dicke Bauch als Schwangerschaftserscheinung zu deuten? Selbstverständlich hat er nicht wirklich ein Kind im Leib. Aber sein Es schafft sich diesen dicken Bauch an, durch Essen, Trinken, durch Blähungen oder sonstwie, weil er schwanger zu sein wünscht und infolgedessen schwanger zu sein glaubt. Es gibt symbolische Schwangerschaften und symbolische Geburten, sie entstehen im Unbewußten und dauern mehr oder weniger lange, sie verschwinden aber unbedingt, wenn die unbewußten Vorgänge in ihrer symbolischen Bedeutung aufgedeckt werden. Das ist nicht ganz einfach, aber hie und da gelingt es, namentlich bei Auftreibungen des Bauches durch Luft oder bei irgendwelchen symbolischen Entbindungsschmerzen in Leib, Kreuz oder Kopf. Ja, so sonderbar ist das Es, daß es sich gar nicht um die anatomisch-physiologische Wissenschaft kümmert, sondern selbstherrlich die alte Sage von ATHENEs Geburt aus dem Haupt des Zeus wiederholt. Und ich bin Phantast genug anzunehmen, daß dieser Mythos - ähnlich wie andere - dem Walten des Unbewußten entsprungen ist. Der Ausdruck, mit Gedanken schwanger gehen, muß wohl tief drin im Menschen sitzen, ihm besonders wichtig sein, daß er ihn zur Sage umgestaltet hat.

Selbstverständlich kommen solche symbolischen Schwangerschaften und Geburtswehen auch bei gebärfähigen Frauen vor, vielleicht sind sie bei ihnen noch häufiger; sie entstehen aber ebensogut bei alten Frauen, scheinen sogar währen und nach dem Klimakterium eine große Rolle in den verschiedensten Krankheitsformen zu spielen; ja auch Kinder geben sich mit solchen Phantasiefortpflanzungen ab, selbst solche, von denen ihre Mütter annehmen, sie glaubten an den Storch.

Soll ich Sie noch ein wenig mehr durch abenteuerliche Behauptungen ärgern? Soll ich Ihnen sagen, daß auch die Nebenerscheinungen der Gravidität, die Übelkeit, die Zahnschmerzen - ab und zu - symbolische Wurzeln haben? Daß Blutungen aller Art, vor allem natürlich unzeitgemäße Gebärmutterblutungen, aber auch Blutungen aus Nase, After oder Lungen in einem engen Zusammenhang mit Geburtsvorstellungen stehen? Oder daß die Plage der kleinen Mastdarmwürmer, die manchen Menschen sein ganzes Leben hindurch verfolgt, häufig in der Assoziation Wurm und Kind ihren Ursprung hat und verschwindet, sobald den Würmchen der Nährboden des unbewußten symbolischen Wunsches entzogen ist?

Ich kenne eine Frau, - sie gehört auch zu den kinderliebenden, kinderlosen, denn sie haßt ihre Mutter - die verlor für fünf Monate ihre Periode, ihr Leib schwoll an und ihre Brüste, und sie hielt sich für schwanger. Eines Tages sprach ich lange mit ihr über den Zusammenhang der Würmer mit Schwangerschaftsideen bei einem gemeinsamen Bekannten. Am selben Tag gebar sie einen Spulwurm und in der Nacht bekam sie ihr Unwohlsein und der Bauch flachte ab.

Damit wäre ich schon auf die Gelegenheitsursachen solcher Gedankenschwangerschaften gekommen. Sie gehören - man kann wohl sagen alle - in das Gebiet der Assoziation, von der ich eben als Beispiel "Wurm" und "Kind" nannte. Meist sind diese Assoziationen sehr weitläufig, vielgestaltig und, weil sei aus der Kindheit stammen, sind sie nur mühsam in das Bewußtsein zu bringen. Aber es gibt auch einfache schlagende Assoziationen, die sofort einem jeden einleuchten. Einer meiner Bekannten erzählte mir, daß er in der Nacht vor der Entbindung seiner Frau dieses nach seiner Ansicht qualvolle Erlebnis auf eine eigentümliche Art aus sich zu nehmen suchte. Er träumte nämlich, daß er selbst das Kind bekäme, träumte es in allen Einzelheiten, wie er sie bei früheren Geburten kennen gelernt hatte, wachte im Moment, als das Kind zur Welt kam, auf und hatte, wenn auch nicht ein Kindchen, so doch etwas Lebenswarmes aus sich herausbefördert, wie er es seit seiner frühen Knabenzeit nicht mehr getan hatte.

Nun, das war ein Traum; aber wenn Sie sich bei ihren Freunden und Freundinnen umhören, werden Sie zu Ihrer Überraschung entdecken, wie gewöhnlich es ist, daß Ehemänner oder Großmütter oder Kinder die Entbindung ihrer Verwandten gleichzeitig am eigenen Leib mit durchmachen.

So deutliche Beziehungen sind jedoch nicht nötig. Es genügt oft der Anblick eines kleinen Kindes, einer Wiege, einer Milchflasche. Es genügt auch, bestimmte Dinge zu essen. Sie werden ja selbst genug Menschen kennen gelernt haben, die einen aufgetriebenen Leib nach Kohl bekommen oder nach Erbsen, Bohnen, nach Möhren oder Gurken. Mitunter stellen sich dann auch Geburtswehen in Gestalt von Bauchschmerzen ein, ja die Geburt selbst in Form von Erbrechen oder Durchfall kommt zustande. Die Verbindungen, die das Es, für unseren hochgeschätzten Verstand töricht genug, im Unbewußten macht, sind geradezu lächerlich. So findet es zum Beispiel im Kohlkopf Ähnlichkeiten mit dem Kindskopf, Erbsen und Bohnen liegen in ihren Hülsen wie das Kind in der Wiege oder im Mutterleib, Erbsensuppe und Erbsenbrei erinnern es an Windeln, und nun gar Möhren und Gurken: Was denken Sie von denen? Sie kommen nicht darauf, wenn ich Ihnen nicht helfe.

Wenn Kinder mit einem Hund spielen, ihn beobachten und in allen seinen Tätigkeiten mit lebhaftem Interesse verfolgen, sehen sie zuweilen, daß dort, wo der Apparat für seine kleinen Geschäfte angebracht ist, ein spitzes rotes Ding zum Vorschein kommt, das wie eine Möhre aussieht. Sie zeigen dieses seltsame Phänomen der Mutter oder wer gerade in der Nähe ist, und erfahren durch Worte oder den verlegenen Blick des Erwachsenen, daß man von so etwas nicht spricht, es überhaupt nicht bemerkt. Das Unbewußte hält dann den Eindruck fest, mehr oder minder deutlich, und weil es Möhre und des Hundes rote Spitze einmal identifiziert hat, bleibt es hartnäckig bei der Idee, auch die Möhren seien verbotene Dinge, und es antwortet auf das Angebot, sie zu essen, mit Abneigung, Ekel oder mit symbolischer Schwangerschaft. Denn auch darin ist das kindliche Unbewußte seltsam dumm im Vergleich zu unserem hochgelobten Verstand, daß es glaubt die Keime zum Kind kämen durch den Mund, durch Essen in den Bauch, in dem sie dann wachsen; etwa wie Kinder auch glauben, daß aus einem verschluckten Kirschkern ein Kirschbaum im Leib wächst. daß aber das rote Ding des Hundes etwas mit dem Kinderkriegen zu tun hat, das wissen sie in ihrer dunklen Kinderunschuld ebenso gut oder ebenso verworren, wie daß der Keim zum Brüderchen oder Schwesterchen, ehe er in die Mutter hineingeriet, irgendwie und irgendwo in diesem merkwürdigen Anhängsel des Mannes oder Knaben sitzen muß, das so aussieht wie ein an falscher Stelle angebrachtes Schwänzchen, an dem eine Säckchen mit zwei Eiern oder Nüssen hängt und von dem man auch nur mit Vorsicht spricht, das man nur beim Pipimachen anfassen darf und mit dem zu spielen nur der Mutter erlaubt ist.

PATRIK TROLL
LITERATUR - Georg Groddeck, Das Buch vom Es, Leipzig / Wien / Zürich 1923