K. HaslbrunnerH. KohnH. DohrnD. BraunschweigerG. Noth | |||
Die Lehre von der Aufmerksamkeit [ 3 / 7 ]
3. Die Bedingungen der Aufmerksamkeit Die Frage nach den Bedingungen der Aufmerksamkeit können wir aufgrund des bisher Gesagten folgendermaßen formulieren: Unter welchen Umständen findet ein besonders klares und deutliches Erfassen von Gegenständen statt und in welchen Fällen können wir besonders häufig das Auftreten solcher Bewußtseinsgrade konstatieren? In der Beantworung dieser Frage müssen wir unser Augenmerk zunächst auf das richten, was wir den Gegenstand der Aufmerksamkeit nennen. Bieten vielleicht verschiedene Gegenstände verschieden günstige Bedingungen für das Zustandekommen des Aufmerksamkeitserlebnisses? Wenn wir darüber ins Klare gekommen sind, werden wir uns erinnern, daß von dem, woran unsere aufmerksame Betrachtung haftet, vom Gegenstand unserer Aufmerksamkeit begrifflich jedenfalls das unterschieden werden kann, was unsere Aufmerksamkeit erweckt und was wir Motiv der Aufmerksamkeit nennen können. Daß das Motiv sachlich zuweilen mit dem Gegenstand zusammenfällt, daß also nicht selten der Gegenstand, den wir klar und deutlich erfassen, selbst unsere Betrachtung anregt, das bildet keinen Einwand gegen die begriffliche Trennung. Es muß zunächst jedenfalls als möglich betrachtet werden, daß auch da, wo Gegenstand und Motiv zusammenfallen, sich verschiedene Eigentümlichkeiten desselben Objekts konstatieren lassen, die einerseits die Beachtung anregen, andererseits ein klares und deutliches Erfassen ermöglichen. Wir fragen also: Welche Beschaffenheit können wir von einem wirksamen Aufmerksamkeitsmotiv aussagen, wenn es mit dem Gegenstand der Aufmerksamkeit eine Einheit bildet und welche charakteristischen Züge weist ein Motiv auf, das nicht auf sich selbst, sondern auf anderes unsere Beachtung lenkt? Im Anschluß daran muß ferner untersucht werden, was es mit dem sogenannten Willen zur Aufmerksamkeit für eine Bewandtnis hat, ob er zur Motivwirksamkeit noch hinzutreten muß, sie überhaupt erst möglich macht oder ob er - zuweilen wenigstens - diese Motivwirksamkeit ersetzt, indem er selbst als Erreger der Aufmerksamkeit funktioniert. Weiter ist zu berücksichtigen, daß ein Aufmerksamkeitserlebnis mit seinen Motiven und seinem Gegenstand nicht isoliert im Bewußtsein gegeben ist. Vor ihm und gleichzeitig mit ihm laufen andere Bewußtseinsvorgänge ab und es fragt sich, ob ihre Besonderheit und ihre Beziehung zum Aufmerksamkeitserlebnis nicht auch von Einfluß sind gegenüber dem Zustandekommen des letzteren. Endlich müssen wir auch einen Blick auf die physiologischen Verhältnisse werfen, die schon eine oberflächliche Betrachtung als Bedingungen der Aufmerksamkeit scheint erkennen zu lassen. Damit haben wir aber auch die Möglichkeit erschöpft, die hinsichtlich einer Modifikation des Aufmerksamkeitserlebnisses bestehen. Beginnen wir nun mit der Diskussion der einzelnen Punkte! der Aufmerksamkeit Bedingungen, welche die Beachtung erleichtern oder überhaupt erst möglich machen können? Die Antwort darauf kann uns nicht schwerfallen, wenn wir berücksichtigen, wie verschieden leicht Objekte von größerer oder geringerer Kompliziertheit durchdringender Beachtung zugänglich sind, wie viel klarer und deutlicher ein schon bekannter Gegenstand von uns erfaß werden kann als ein unbekannter und wie verschieden wir uns gegenüber "interessanten" und "langweiligen" Dingen verhalten. Aber wenn wir aufgrund dieser alltäglichen Beobachtungen genauer formulieren wollen, worauf jeweils die Erleichterung oder Erschwerung beruth, die der Gegenstand seinem klaren und deutlichen Erfassen angedeihen läßt, dann taucht so manches gar nicht leicht lösbare Problem vor uns auf. Der Umfang des Gegenstandes der Aufmerksamkeit scheint für die Beachtung von Bedeutung zu sein. Dieser Satz ist nur ein anderer Ausdruck für die erste der drei Tatsachen, die den Ausgangspunkt unserer gegenwärtigen Untersuchung bilden. Aber er führt uns geradewegs hinein in eines der umstrittensten psychologischen Arbeitsgebiete. Als Frage nach dem Umfang der Aufmerksamkeit ist das hier in Rede stehende Problem zuerst von der experimentellen Forschung in Angriff genommen worden. Daß nur eine begrenzte Zahl von Vorstellungen in unserem Bewußtsein gleichzeitig klar und deutlich gegeben sein können, diese Erkenntnis ist begreiflicherweise nicht eine Errungenschaft erst der letzten Jahrzehnte. Aber eine exakte Beantwortung der Frage, wie viele Bewußtseinsinhalte auf einmal von der Aufmerksamkeit umspannt werden können, hat wohl zuerst CATTEL versucht. (8) Er hat sich zu diesem Zweck der tachistoskopischen Methode bedient, von der Voraussetzung ausgehend, daß das, was im Zeitraum von wenigen Tausendstelsekunden erfaßt und bis zur Protokollabgabe festgehalten werden kann, zur Messung des Aufmerksamkeitsumfanges verwendbar sein müsse. (9) Da er findet, daß vier bis fünf unverbunden nebeneinander gestellte Objekte wie Linien oder auch Buchstaben unter solchen Umständen noch richtig erkannt und beschrieben werden können, während einer größeren Anzahl flüchtig exponierter Gegenstände gegenüber die Auffassung versagt, so nimmt man seither im Anschluß an die WUNDTsche Deutung dieses Befundes (10) vielfach an, daß der Umfang der Aufmerksamkeit vier bis fünf Einzelinhalte einschließen kann. Aber damit können wir uns kaum zufrieden geben. Denn vor allem ist sicherlich die Beschaffenheit der vier oder fünf "auf einen Blick" zu erfassenden Gegenstände nicht bedeutungslos. Wenn man statt einzelner Striche oder Buchstaben komplizierte Wörter wählen würde, so bliebe die Zahl der gleichzeitig der Aufmerksamkeit gegenwärtigen Objekte keineswegs die gleiche. Die genaue Zahlangabe ist also wertlos, solange nicht ein Maß gefunden wird für die maximale Kompliziertheit der Objekte, bei welcher die Zahlangabe gerade noch Gültigkeit besitzt. Außerdem ist uns wenig gedient mit der Bestimmung, wonach von unverbundenen Gesichtseindrücken nicht mehr als vier bis fünf gleichzeitig aufmerksam erfaßt werden könne. Der Begriff der Unverbundenheit ist viel zu unbestimmt, als daß er den Zweck einer genaueren Determination zu erfüllen vermöchte. Eine äußerliche, physische Verbindung bwz. das Gegenteil davon kann natürlich nicht in Betracht kommen. Eine psychische Synthese der Gesichtseindrücke aber ist unter allen Umständen dadurch gegeben, daß gleichartige Gegenstände in irgendeiner räumlichen Anordnung dargeboten werden. Freilich handelt es sich hierbei um eine weniger innige Verbindung, als wenn etwa die Buchstaben zu einem sinnvollen Wort geordnet sind oder die Linien sich zu einer Figur zusammenfügen. Aber eine scharfe Grenze läßt sich offenbar nicht ziehen zwischen derjenigen Verbundenheit der Gesichtseindrücke, bei welcher mehr als vier oder fünf Teilinhalte gleichzeitig erfaßt werden können und dem relativen Mangel an Einheit, welcher bei der gegenwärtig in Rede stehenden Begrenzung des Aufmerksamkeitsumfanges vorausgesetzt wird. Endlich erweckt auch die Identifizierung des "auf einen Blick Erfaßbaren" mit dem "gleichzeitig Beachtbaren" Bedenken. Es ist sehr wohl möglich, daß mehr Inhalte zugleich klar und deutlich vorhanden sein können, als man simultan zu klarem und deutlichem Bewußtsein zu erheben vermag. An dieses letzte Bedenken knüpft WIRTHs Versuch an, den Umfang der Aufmerksamkeit in der Weise zu bestimmen, daß die Summe des gleichzeitig in der Beachtung Festzuhaltenden, nicht die Anzahl der auf einmal in die Beachtung aufzunehmenden Inhalte als Maß verwendet wird. (11) WIRTH will übrigens die weitergehende Frage beantworten: Wieviel Bewußtseinsinhalte können gleichzeitig (nicht in maximaler Klarheit und Deutlichkeit sondern überhaupt) in irgendeinem Grad von Bewußtheit vorhanden sein? Aber wir werden sehen, daß seine Methode auch den Weg zu einer Verbesserung der zur Bestimmung des Aufmerksamkeitsumfanges verwendbaren Methoden einschlägt. Es ist klar, daß die Summe des gleichzeitig im Bewußtsein (oder in der Aufmerksamkeit) zu Umspannenden nicht konstatiert werden kann durch Benennung oder Beschreibung der einzelnen Inhalte. Denn einerseits vermögen wir sukzessiv mehr zu benennen, als simultan im Bewußtsein gegeben sein kann, wie jeder Dauerredner beweist. Andererseits kann manches im Gesamtbewußtsein eines Zeitpunktes vorhanden sein, was bis zur Protokollabgabe schon wieder vergessen ist oder aus irgendeinem anderen Grund keinen Ausdruck findet. Dieses letztere Argument hat übrigens auch Gültigkeit gegenüber dem Verfahren, das die Summe des auf einen Blick Erfaßbaren durch Protokollierung festzustellen versucht. WIRTH muß sich also nach einem anderen Kriterium umsehen, das jeweils erkennen läßt, wie weit der Umfang des gleichzeitig Beachtbaren reicht. Ein solches Kriterium findet er in der Merklichkeit von ganz kurzdauernden Veränderungen, die an irgendeiner Stelle des aufmerksam betrachteten Bezirks eintreten, ohne daß der Beobachter vorher weiß, wo diese Stelle liegt und in welchem Teil des beobachteten Feldes sie zu suchen ist. (12) WIRTH läßt deshalb zunächst verschieden große Komplexe, bestehend aus einfachen Figuren, die in gleichen Abständen voneinander angeordnet sind, beliebig oft in tachistokopischer Exposition betrachten, bis der Beobachter überzeugt ist, die Gesamtheit derselben und alle Einzelheiten erfaßt zu haben. Dann erfolgt eine weitere wenige Tausendstelsekunden dauernde Darbietung des Komplexes, wobei irgendeine der Figuren durch eine andere ersetzt ist. Es handelt sich nun darum, festzustellen, bei welcher Größe des Komplexes die Veränderung noch bemerkt werden kann. Eine weitere Verbesserung dieser Methode führt WIRTH ein, indem er statt mehrmaliger tachistoskopischer Exposition den Komplex zunächst eine Zeit lang dauernd darbietet und dann, ohne die Exposition zu unterbrechen, eine rasch vorübergehende Änderung an irgendeiner Stelle eintreten läßt. Den hierzu konstruierten Apparat nennt er "Spiegeltachistoskop". (13) Derselbe besteht auch einem rotierenden Spiegel und aus zwei Kartenhaltern, die in gleichem Abstand vor und hinter dem Spiegel angebracht sind. Die letzteren tragen die in der Mitte durchbohrten Karten, auf welche die zu exponierenden Komplex gezeichnet sind; und zwar enthält die vor der spiegelnden Fläche befindliche, mit der Zeichnung dem Spiegel zugewendete Karte den Komplex, der durch das Guckloch in der Karte längere Zeit im Spiegel betrachtet wird. Er erscheint dem Beobachter genau an der Stelle, wo die andere, zunächst durch den Spiegel verdeckte Karte sich tatsächlich befindet. Da nun der rotierende Spiegel mit einer Klappe versehen ist, die während einer Umdrehung geöffnet und rasch wieder geschlossen werden kann, so erscheint während des Vorbeigangs der Spiegelöffnung dem Beobachter statt des bis dahin gesehenen Spiegelbildes der einen die andere Karte mit ihrer Zeichnung. Diese momentane Auswechslung macht sich aber in nichts anderem geltend als in der Variation einer Figur des dauernd vorhandenen Komplexes, da im übrigen völlige Kongruenz des substituierten und des im Spiegel gesehenen Komplexes besteht. Wenn nun aber bei einer bestimmten Größe des Komplexes die rasch vorübergehende Substitution einer Figur durch eine andere gerade noch bemerkt werden kann, so haben wir natürlich noch lange nicht das Recht, anzunehmen, daß die betreffende Größe des Komplexes ein Maß für den Umfang der Aufmerksamkeit abgebe. Denn einerseits wird die Zahl der simultan betrachteten Figuren, von denen keine noch so flüchtig variiert werden kann, ohne daß die Variation merklich ist, möglicherweise eine verschiedene sein, je nachdem sich dieselben über einen mehr oder weniger großen Bezirk verteilen. Andererseits genügt wohl auch eine wenig aufmerksame Betrachtung, um eine auffällige Veränderung an irgendeiner Stelle des Gesichtsfeldes konstatieren lassen. Deshalb darf eine weitere Modifikation der WIRTHschen Versuchsanordnung sicherlich als eine Verbesserung der Methode zur Bestimmung des Aufmerksamkeitsumfangs bezeichnet werden. (14) Statt des Komplexes verschiedener durch Zwischenräume voneinander getrennter Figuren verwendet nämlich WIRTH neuerdings eine homogene gleichmäßig beleuchtete Fläche zur Messung des Umfangs, den eine Betrachtung von bestimmten Klarheitsgrad anzunehmen vermag. Der Umfang der Aufmerksamkeit kann bei dieser Versuchsanordnung bestimmt werden durch die Größe des Beobachtungsgebiets, innerhalb dessen momentane, ebenmerkliche Aufhellungen noch wahrgenommen werden, wenn sie an wechselnden dem Beobachter im Voraus nicht bekannten Punkten des Beobachtungsfeldes stattfinden. WIRTH selbst wählt eine etwas andere Fragestellung für seine Untersuchung über die "Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes bei verschiedenen Verteilungen der Aufmerksamkeit." Er will nicht feststellen, über welchen Bezirk die Aufmerksamkeit verteilt werden kann, ohne daß eine Erhöhung des Schwellenwertes punktueller Helligkeitsveränderungen eintritt. Sein Interesse gilt vielmehr vor allem der Frage, wie sich die Schwellenwerte verändern, je nachdem die Aufmerksamkeit konzentriert ist auf den Punkt, wo die Veränderung stattfindet oder sich über verschieden große Felder verteilt, innerhalb deren punktuelle Aufhellung zu erwarten ist oder endlich verschieden weit abgelenkt wird vom Ort der Helligkeitsveränderung. Man könnte nun meinen, daß aus den Ergebnissen dieser Untersuchung nebenbei eine Antwort auf die Frage nach der Größe des Aufmerksamkeitsumfangs resultieren müßte. Das wäre auch sicherlich der Fall, wenn die Veränderung des Schwellenwertes bei verschiedener Verteilung der Aufmerksamkeit in der Weise bestimmt würde, daß man die Größe des Beobachtungsfeldes allmählich anwachsen ließe. Das geschieht jedoch bei WIRTH nicht, vielmehr ist bei ihm die Variation des Verteilungsbezirkes eine sehr sprungweise. Sie geschieht im Verhältnis 1:2. Infolgedessen bleibt unsere Frage nach der Größe des Aufmerksamkeitsumfanges bei WIRTH eigentlich beantwortet. Trotzdem können wir den WIRTHschen Ausführungen in gewissem Sinne eine Antwort auf diese Frage entnehmen. Wir erfahren nämlich einerseits, daß die Schwellenwerte bei Verteilung der Aufmerksamkeit über ein verhältnismäßig kleines Gebiet fast dieselbe Größe besitzen, wie bei der Verteilung der Aufmerksamkeit über das ganze Sehfeld. (15) Wenn man also unter Aufmerksamkeit nur den höchsten Klarheitsgrad versteht, so ist der Umfang der Aufmerksamkeit (für optische Eindrüche) sehr klein. Erweitert man dagegen den Begriff der Aufmerksamkeit, so daß alle relativ hohen Klarheitsgrade dazu gerechnet werden, dann ist der Umfang der Aufmerksamkeit im Gebiet des Gesichtssinns sehr groß. WIRTHs Untersuchung (16)führt übrigens noch zu einem weiteren merkwürdigen Ergebnis. Es zeigt sich nämlich, daß die Schwellenwerte bei Verteilung der Aufmerksamkeit unter Umständen größer, also die Klarheitsgrade der Wahrnehmungen in diesem Fall kleiner sind, als bei Ablenkung der Aufmerksamkeit. Dieses Ergebnis scheint in direktem Widerspruch zu stehen zu dem, was SANTE de SANCTIS gefunden hat. Der genannte Forscher bestimmte nämlich die Leistung der Aufmerksamkeit in der Weise, daß er feststellte, wie weit ein Objekt von der Peripherie her nach dem Zentrum des Sehfeldes vordringen muß, um bemerkt zu werden, wenn die Aufmerksamkeit auf das Sehfeld gerichtet ist und wie die analogen Verhältnisse sich bei Ablenkung der Aufmerksamkeit gestalten. (17) Das Ergebnis dieser Untersuchung kann man sich annähernd durch zwei konzentrische Kreise (18) veranschaulichen, von denen der innere den Bezirk andeutet, innerhalb dessen das Beobachtungsobjekt bei abgelenkter Aufmerksamkeit wahrgenommen wird, während der äußere zeigt, wie viel eher der von der Peripherie des Sehfeldes dem Zentrum genäherte Gegenstand erkannt wird, wenn die Aufmerksamkeit dem Sehfeld zugewendet ist. Dieser Befund entspricht, wie wohl nicht weiter begründet zu werden braucht, durchaus unseren Erwartungen, wogegen WIRTHs Konstatierung einer Höherleistung bei abgelenkter statt bei verteilter Aufmerksamkeit eine Paradoxie enthält. Nun muß freilich berücksichtigt werden, daß die Ablenkung der Aufmerksamkeit bei SANTE de SANCTIS eine Ablenkung vom Sehfeld, bei WIRTH eine Ablenkung von bestimmten Regionen des Sehfeldes bedeutet. Es ist daher recht verständlich, wenn die erstere ungünstigere Bedingungen für die Schärfe der Wahrnehmung schafft, als die letztere. Wenn also bei WIRTH die Differenz der Leistungen bei abgelenkter und verteilter Aufmerksamkeit nur eine geringere wäre wie bei SANTE des SANCTIS, dann dürften wir uns darüber nicht wundern. Aber nach WIRTH leistet die abgelenkte Aufmerksamkeit nicht etwa bloß nahezu gerade so viel sondern mehr wie die zerstreute. Das ist natürlich nicht möglich. Man muß vielmehr zur Interpretation des WIRTHschen Befundes annehmen, daß die Aufmerksamkeit durch den Versuch, sie gleichmäßig über ein größeres Gebiet zu verteilen, stärkere Ablenkung erfährt, als wenn ein Punkt besonders beachtet wird, der abseits liegt von der Stelle, wo eine Veränderung wahrzunehmen ist. Im letzteren Fall bleibt also trotz der Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen Punkt noch ein ziemlich hoher Bewußtseinsgrad für die Wahrnehmung von Veränderungen innerhalb eines größeren Bezirkes verfügbar. Wenn man diesen Bewußtseinsgrad noch zur Aufmerksamkeit rechnen will, findet also hier eine Verteilung der Aufmerksamkeit statt, während der Versuch zur gleichmäßigen Zerstreuung demgegenüber eine Ablenkung der Aufmerksamkeit bedeutet. Nun dürfen wir vielleicht im Anschluß an solche Überlegungen versuchsweise den allgemeineren Satz formulieren, daß eine Verteilung der Aufmerksamkeit in verhältnismäßig großem Umfang am leichtesten zu erreichen sei, wenn dem natürlichen Fixationsbedürfnis unseres Bewußtseins dabei kein Abbruch geschieht. Von der Richtigkeit dieses Satzes kann man sich vielfach in gewissen Situationen des praktischen Lebens und bei der Ausführung wissenschaftlicher Experimente überzeugen. Man darf hier freilich nicht an die Ausführung komplizierter Bewegungen denken, die beim Versuch, alle Komponenten gleichmäßig zu beachten, ganz sicher mißlingen. Das erklärt sich vielmehr größtenteils aus der Beeinträchtigung des Ablaufs automatischer und reflektorischer Handlungen durch die Aufmerksamkeit, wovon später noch die Rede sein wird. Aber wenn man beispielsweise beim Radfahren mehreren gleichzeitig auftauchenden Hindernissen dadurch am besten entgeht, daß man eines fest ins Auge faßt und durch die anderen nebenbei seine Maßnahmen bestimmen läßt, so darf das wohl als Beweis für die Richtigkeit des oben aufgestellten Satzes betrachtet werden. Derselbe Satz wird uns übrigens in anderem Zusammenhang und neuer Beleuchtung nochmals entgegentreten, wenn wir uns nun der Diskussion dessen zuwenden, was unter dem Begriff "Umfang des Gegenstands der Aufmerksamkeit" zu verstehen ist. Eine exakte Maßbestimmung dieses Umfangs zu geben ist uns nicht gelungen. Wir wissen bisher nur, daß er eine gewisse Grenze nicht überschreiten darf, wenn nicht anstelle klarer und deutlicher Auffassung unklare, verworrene Perzeption treten sollen. Aber was heißt das nun: Der Umfang des Gegenstandes der Aufmerksamkeit darf eine gewisse Grenze nicht überschreiten? Sind etwa größere Gegenstände schwerer zu beobachten, als kleinere? Man weiß ja, daß sich gerade kleinere Gegenstände besonders leicht unserer Beobachtung entziehen und daß bis zu einer gewissen Grenze gerade das Große auffallend und leicht zu betrachten ist. Freilich gibt es auch eine unübersehbare Größe. Aber ihre Unübersehbarkeit hat wohl kaum etwas mit der Enge der Aufmerksamkeit zu tun. Sie ist vielmehr bedingt durch Besonderheiten im Bau der Sinnesorgane und durch die physikalischen Verhältnisse, die der Wahrnehmung zugrunde liegen. Wo diese Momente nicht in Frage kommen, da ist Größe des Gegenstandes nur günstig für die Beachtung. Wenn also der Umfang, den ein Gegenstand der Aufmerksamkeit nicht überschreiten darf, mit der (räumlichen oder intensiven) Größe nichts zu tun hat, so kommt vielleicht die Zahl der Teile in Betracht, aus denen der Gegenstand zusammengesetzt ist und die nicht zu zahlreich sein dürfen, wenn das klare und deutliche Erfassen des Gegenstandes nicht beeinträchtigt werden soll. Aber auch dieser Gedanke muß zumindes näher bestimmt werden, wenn er nich zu den merkwürdigsten Annahmen führen soll. Denn daß beispielsweise die Zahl der Atome und Moleküle, aus denen sich ein Körper aufbaut, die Leichtigkeit oder Schwierigkeit der Auffassung kaum zu beeinflußen vermag, leuchtet wohl ohne weiteres ein. Höchstens die Zahl der für die Wahrnehmung selbständig hervortretenden, der ohne weitere Hilfsmittel sinnlich unterscheidbaren Bestandteile könnte ernstlich als ein Faktor in Frage komen, von dem die Klarheit und Deutlichkeit unserer Beobachtung des Gegenstandes abhängt. Wir vermögen ja zweifellos eine einfache geometrische Figur leichter zu überblicken, als ein kompliziertes Ornament. Aber daß sich die Kompliziertheit eines Objekts nicht bloß mit der Zahl, sondern insbesondere mit der Anordnung der Teile verändert, ist eine bekannte Tatsache. Psychologische Versuche haben deshalb auch ergeben, daß von zwei Totaleindrücken, die aus gleich vielen unterscheidbaren, übrigens aber gleichartigen Elementareindrücken sich zusammensetzen, derjenige leichter und besser aufzufassen ist, bei welchem die (selbständigen) Elemente eine regelmäßigere Anordnung aufweisen. So wird. z. B. eine größere Anzahl leuchtender Punkte (bzw. kleiner Kreisflächen) auf dunklem Grund bei kurzer Expositionszeit leichter und richtiger aufgefaßt und numerisch beurteilt, wenn dieselben nicht einen regellosen Haufen, sondern ein Parallelogramm oder eine ähnlich regelmäßige Figur darstellen. (19) Dabei sind die verschiedenen Figuren als Bedingungen für möglichst klares, deutliches und vollständiges Erfassen der Anzahl der Elemente wiederum nicht gleichwertig. Kurz, auch die Zahl der selbständigen, sinnlich ohne weiteres unterscheidbaren Bestandteile entspricht nicht dem, was als Umfang des Gegenstandes mit zunehmender Größe ein stetig wachsendes Hindernis aufmerksamer Beobachtung bildet. Dieser Gedanke wird noch einleuchtender, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß es beispielsweise für das Erfassen von Form und Größe eines aus punktierten Linien konstruierten Vierecks belanglos ist, ob sich die einzelne Seite aus einem x oder aus zwei x - Punkten zusammensetzt. Form und Größe eines aus sehr vielen selbständigen, sinnlich ohne weiteres unterscheidbaren Bestandteilen bestehenden Objekts kann also ebenso leicht erfaßt werden, wie das bei einem Objekt möglich ist, das sich aus sehr wenigen derartigen Bestandteilen aufbaut. Ja ein einfaches Objekt wie eine farbige Kreisscheibe kann unter Umständen, wenn etwa nicht nur Größe und Farbenton, sondern auch Besonderheiten der Kontur usw. beachtet werden sollen, ungünstigere Bedingungen für aufmerksames Erfassen darbieten, als ein aus zahlriechen selbständig hervortretenden Teilen bestehender Gegenstand, der nur unter einem Gesichtspunkt betrachtet wird. Wir wollen diese subtilen Erörterungen nicht gaz zu weit ausdehnen. Das bisher Gesagte wird genügen, um die Behauptung zu rechtfertigen, daß die zusammenhanglose Vielheit der zu beachtenden Momente (mag es sich dabei um selbständige Teil oder um abstrakte Seiten eines Gegenstandes handeln) aufmerksames Erfassen stört oder unmöglich macht, während alles, was die Einheitsbeziehung auseinanderliegender Teile und Gesichtspunkte erleichtert und ermöglicht, zur geistigen Bewältigung der Gegenstände mittels der Aufmerksamkeit beiträgt. Was einheitlicher Betrachtung zugänglich ist, bietet also günstigere Bedingungen für klares und deutliches Erfassen wie das, was eine Mehrheit von Apperzeptionsakten verlangt. (20) In welchen Fällen einheitliche Betrachtung stattfindet, läßt sich aber schlechterdings nur aufgrund eines Urteils der inneren Wahrnehmung feststellen. Wir müssen es erleben, wie ganz anders sich die Auffassung disparater Sinneseindrücke und die Beobachtung mehrerer zu demselben Sinnesgebiet gehörender, koexistierender, beispielsweise optischer Reize gestaltet, besonders wenn die letzteren einander räumlich nahegerückt und wenn die ihnen entsprechenden Empfindungen Grundlagen einer Gesamtvorstellung sind. Nur die unmittelbare Erfahrung kann uns auch über die Vielheit von Ansätzen belehren, die wir machen müssen, wenn wir die Aufmerksamkeit gleichmäßig über ein größeres Beobachtungsgebiet verteilen wollen, während gewissermaßen ein einziger Griff genügt, um neben einem ausgezeichneten, im Zentrum unserer Beachtung stehenden Objekt eine Anzahl anderer mit etwas geringerer Präzision zu erfassen. Diese Tatsache, auf die wir oben schon hinzuweisen Gelegenheit hatten, wird ja auch in dem bekannten ästhetischen Prinzip der Einheit und Abstufung des Interesses berücksichtigt, wonach der ästhetisch wertvolle einheitliche Gesamteindruck, einer schönen Gruppierung von Gegenständen inbesondere dadurch erzielt wird, daß einem unsere Aufmerksamkeit in erster Linie fesselnden Teil des Ganzen alles Übrige untergeordnet wird. Dabei wird, wie man sieht, dem natürlichen Bedürfnis des Subjekts nach Abstufung des Beachtens vonseiten des Objekts entgegengekommen, indem beispielsweise in einem Gemälde Vordergrund und Hintergrund dem Wichtigeren und dem weniger Wichtigen ein verschiedenes Relief geben oder indem eine von allen anderen abweichende Erscheinung einer Anzahl von Durchschnittstypen gegenübertritt. Mit der Bedeutung, die der Einheitlichkeit des Betrachtens für das Gelingen des klaren und deutlichen Erfassens zukommt, hängt nun offenbar auch das zusammen, was man das "Einheitsbedürfnis" des menschlichen Geistes genannt hat. Dieses Einheitsbedürfnis kommt in den Synthesen zum Ausdruck, durch welche die Vielheit der Erkenntnisgegenstände unserer Auffassung zugänglich gemacht oder vielmehr in eine kleinere Anzahl unserer Auffassung zugänglicher Erkenntnisobjekte umgewandelt wird. Eine packende Darstellung der wichtigsten zur Vereinheitlichung unserer Welt führenden Synthesenbildungen findet man in dem über eine bloße Analyse der künstlerischen Produktion weit hinausgreifenden Buch von G. SÉAILLES, "Le génie dans l'art". (21) Der Verfasser zeigt, wie bereits die einheitliche Sinnesempfindung eine Synthese darstellt gegenüber der Vielheit von Reizstößen, durch die sie hervorgerufen wird, wie dann die Bildung räumlich und zeitlich geordneter Vorstellungen, die Ausprägung des Sach- oder Dingbewußtseins, wodurch die unendliche Fülle wechselnder, höchstens da und dort einander gleicher Vorstellungsinhalte sich in eine Anzahl beharrender Dinge mit gesetzmäßig sich verändernden Eigenschaften und Zuständen verwandelt, wie ferner die Begriffsbildung und die abschließende wissenschaftliche und künstlerische Bearbeitung der idealisierten Welt eine wunderbare Vereinheitlichung im Interesse unserer Erkenntnis bedeutet. Dieser Synthesenbildung gegenüber ergibt sich nun die doppelte pädagogisch wichtige Aufgabe, einerseits die Fähigkeit zu solcher Synthesenbildung im Zögling soweit als möglich zu entwickeln und zu steigern, andererseits die Synthesenbildung selbst zu erleichtern und zu regulieren. Wie beide Aufgaben Hand in Hand gehen, läßt sich vielleicht am besten im Hinblick auf den ersten Unterricht im Rechnen zeigen. Die Zahl ist bekanntlich eines der wichtigsten Mittel der einheitlichen Zusammenfassung von Mannigfaltigkeiten. Der gesamte Arithmetikunterricht bezweckt also eine Steigerung synthetischer Fähigkeiten, eine Steigerung der Fähigkeit zur Vereinheitlichung der Welt. Aber wenn es gilt, dem Kind das Zahlbewußtsein zu verschaffen, kann man zunächst nicht eine Fähigkeit zur Bildung der Zahlauffassung steigern. Eine solche Steigerung ergibt sich später durch die Übung. Aber um die Zahlauffassung üben zu können, muß man sie erst haben. Also gilt es zunächst eine Synthesenbildung sozusagen von außen her zu bewirken, der Fähigkeit des Kindes zur Lösung einer Aufgabe durch Erleichterung der Aufgabe entgegenzukommen. Dazu dient bekanntlich unter anderem die Rechenmaschine. Die experimentelle Didaktik hat nun vor kurzem die Frage aufgeworfen, wie die hier in Betracht kommenden Hilfsmittel am zweckmäßigsten auszuwählen und zu verwenden seien. In der Beantwortung dieser Frage hat man gefunden, daß eine Anzahl von fünf bis acht Kugeln der russischen Rechenmaschine leichter und besser aufgefaßt werden kann, wenn sich die Kugeln nicht berühren, sondern kleine Abstände zwischen sich lassen. (22) Noch zweckmäßiger erweist sich die Anorndung der die Zahl "fundierenden" Gegenstände, der Punkte oder Kugeln, in Quadraten und anderen regelmäßigen Figuren für die Bildung der Zahlauffassung. Man kann auch ganz allgemein die Frage aufwerfen, welche Mittel zur "Vereinheitlichung" der Welt und des Lehrstoffs dem Erzieher überhaupt zur Verfügung stehen. Dabei wird man zunächst alles ins Auge zu fassen haben, was sich willkürlich zur Erleichterung der Bildung von Anschauungseinheiten verändern läßt und beim Unterricht tatsächlich verändert wird. Ferner ist unter dem gleichen Gesichtspunkt das zu betrachten, was zur Erleichterung der Bildung von logischen Einheiten geschehen kann. Beim Anschauungsunterricht pflegt das, was in der Auffassung vereinigt werden soll, vor allem in Raum und Zeit zusammengerückt und vom nicht Dazugehörigen durch räumliche und zeitliche Intervalle getrennt zu werden. Ferner kann das Erfassen der Einheit in der Mannigfaltigkeit dadurch erleichtert werden, daß man die zusammengehörige Vielheit irgendwie in konstrastierender Umgebung darbietet, daß man die gleiche Anordnung wiederholt betrachten läßt, womöglich in stets wechselnder Umgebung und daß man der apperzeptiven Synthese durch zweckmäßige Verteilung von Haupt- und Nebensachen entgegenkommt, durch Rhythmisierung und durch das, was bei Koexistenz der Gegenstände dem Rhythmus sukzessiver Darbietung entspricht, insbesondere durch symmetrische oder sonstwie regelmäßige Gruppierung um einen Mittelpunkt. Dabei handelt es sich stets um die Erleichterung einer Auffassung, die neben der Einheit (des "fundierten" Gegenstandes, z. B. der Zahl, der Melodie, der Landschaft) auch die Vielheit (der "fundierenden" Gegenstände, der gezählten Gegenstände, der Töne, der Sträucher, Bäume und sonstigen Landschaftsbestandteile) mit ergreift. Es gibt aber auch eine Form der Einheitsauffassung, die in der Einheit oder neben der Einheit die Vielheit untergehen läßt. Man denke nur an unsere Ideal- und Typenvorstellungen, die nicht als Einheiten höherer Ordnung eine Fülle von Individualvorstellungen in sich unterscheiden lassen, sondern an komplexer Beschaffenheit den Individualvorstellungen höchstens gleichkommen. Die Bildung solcher Einheiten aus der Vielheit der Eindrücke kann durch das Übersehen von Verschiedenheiten oder durch das Hervortreten von Übereinstimmungen herbeigeführt werden. Dabei ist der erstere Weg der natürliche, der aber, wenn wir ihn vermeiden könnten, kaum empfohlen werden dürfte, da diejenigen Typenvorstellungen, die durch Nichtbemerken der individuellen Verschiedenheiten entstehen, auch das Übereinstimmende nur unklar und unbestimmt erfassen. Es bleibt uns jedoch keine Wahl: Die Entwicklung unseres geistigen Lebens beginnt mit der Bildung solcher unbestimmten Typenvorstellungen. Dagegen besteht für die pädagogische Beeinflussung dieser Entwicklung die Möglichkeit und die Aufgabe, den Schaden zu reparieren und den Zöglich auf den zur Gewinnung scharf umrissener Typenvorstellungen geeigneteren Weg hinüberzuführen. Das hierbei zur Verfügung stehende Mittel der Hervorhebung des Übereinstimmenden kann in verschiedener Weise angewendet werden. Vor allem ist es zweckmäßig, die zur Bildung der Allgemeinvorstellungen dargebotenen Eindrücke so zu wählen, daß das Übereinstimmende möglichst gleich, (nicht bloß ähnlich,) das Verschiedene möglichst vielfach variiert sei. Gleiche Melodien, z. B. in möglichst vielen Höhenlagen gespielt, lassen leichter, klarer und deutlicher die von den Verschiedenehiten der einzelnen Darbietungen abstrahierende Vorstellung einer und derselben "idealen" Melodie entstehen als ähnliche Melodien, deren jede öfters in gleicher Höhenlage gespielt wird. Häufig empfiehlt es sich auch, das Übereinstimmende losgelöst vom Verschiedenen darzustellen, Ähnlichkeiten zu vergrößern oder irgendwie zu unterstreichen. So wird beispielsweise der Typus des Baues einer Klasse von Organismuen besser erfaßt werden, wenn man Schemata dessen entwirft, worin jede Art die Grundzüge der Gattung erkennen läßt (etwa des Skeletts bei den Wirbeltieren). So wird ferner durch Karikaturen der Blick für das Charakteristische geschärft und häufig tritt erst durch die Nachzeichnung von Umrißlinien das Übereinstimmende gewisser Formen hervor, das sich in komplizierten Gesamtbildern zunächst der Beachtung entzieht. Aus den Typenvorstellungen entwickeln sich die Begriffe, die man als unanschauliche knappe Zeichen für jene betrachten kann. Wie die Stenographie zur Kurrentschrift [ehemalige deutsche Schreibschrift - wp], so ähnlich verhalten sich die Begriffe zu den Vorstellungen. Wörter als Träger der Begriffe sind zwar sehr nützlich für die Bestimmtheit und Fixierbarkeit unseres Denkens, aber sie gehören nicht zum Wesen desselben. Das Bewußtsein der Wortbedeutungen, also die eigentliche begriffliche Auffassung stellt nach den Ergebnissen neuerer psychologischer Untersuchungen einen eigenartigen Bestandteil der psychischen Wirklichkeit dar, der sich in Gefühle und Empfindungen ebensowenig auflösen läßt, wie etwa das Ähnlichkeitsbewußtsein, das Zeitbewußtsein, die Substanzauffassung usw. (23) Durch unsere Begriffe gelangen wir zu einer noch viel weitergehenden Vereinheitlichung der Welt, als durch unsere Vorstellungen. Synthesen, wie wir sie in den Begriffen des Weltalls, der Menschheit, der Geschichte, des Naturlaufs usw. vollziehen, sind für das anschauliche Erfassen von Gegenständen unmöglich. Kann nun auch diese logische Synthesenbildung pädagogisch beeinfluß und erleichtert werden und wodurch? Wir brauchen nur an die verschiedene Wirkung eines klar disponierten und eines ungegliederten Vortrags zu denken, so ergibt sich die Antwort auf diese Frage ohne Schwierigkeit. Unsere Begriffe stehen bekanntlich im Verhältnis der Über- und Unterordnung: der allgemeinste Begriff schließt in sich zunächst wenige Begriffe von geringerer Allgemeinheit. Jeder von den letzteren umfaßt wieder eine kleine Anzahl speziellerer Begriffe usw. Je allgemeiner ein Begriff ist, desto mehr gleichartige, in mindestens einem Merkmal übereinstimmende Gegenstände bezeichnet er. Aber diese Vielheit kommt uns ebensowenig zu Bewußtsein, wie die Menge der Individualvorstellungen in der Typenvorstellung. Der sogenannte Umfang der Begriffe bildet also für gewöhnlich keine Belastung unseres Geistes. Auch wenn ein allgemeinerer Begriff seinem Umfang nach ausdrücklich erfaßt werden soll, kann das ohne Schwierigkeit geschehen, sofern nur die wenigen gerade um eine Stufe spezielleren Begriffe in ihm mitgedacht werden. Die logische Synthesenbildung im Sinne der Gewinnung immer höherer Allgemeinbegriffe wird also durch die Allmählichkeit des Auf- bzw. Absteigens in der "Begriffspyramide" erleichtert oder ermöglicht. Aber die Synthese, die beispielsweise im Begriff "Weltall" vorliegt, ist keine solche des Umfangs. Hier ist vielmehr eine unübersehbare Mannigfaltigkeit des Inhalts in eine Einheit zusammengefaßt. Aber die Möglichkeit auch dieser Zusammenfassung erklärt sich daraus, daß wir hier den Inhalt ebenso gut wie anderswo den Umfang in wenigen Begriffen von bedeutender Allgemeinheit umspannen können. In der Sprache der Logik läßt sich das auch folgendermaßen ausdrücken: Das Erfassen inhaltsreicher Begriffe wird durch die geringe Zahl der zur Charakterisierung genügenden Merkmale ermöglicht. Eine Ökonomie hinsichtlich der jeweils ausdrücklich mitgedachten Merkmale eines Begriffs zeigt sich ja besonders deutlich in der allgemein üblichen Art des Definieren, die bekanntlich darin besteht, daß die nächsthöhere Gattung (genus proximum) und das artbildende Merkmal (differentia specifica) angegeben werden. Ausdrücklich mitgedacht wird hierbei also bloß ein Merkmal, während die anderen im Bewußtsein des übergeordneten Begriffs sozusagen latent bleiben. Während in der Bildung von Allgemeinvorstellungen der Prozeß des Hervortretens übereinstimmender Züge eine besondere Rolle spielt, handelt es sich, wie man sieht, bei den Begriffen mehr um das Betonen des Unterscheidenden, des Auszeichnenden, des "Kriteriums". Die Gleichartigkeit der koordinierten Begriffe kommt durch ihre Subsumption unter denselben Oberbegriff, durch die häufige Benennung mit dem gleichen Gattungsnamen, ohne besondere Beachtung genügend zur Geltung und wenn es auch keine überflüssige padägogische Forderung ist, daß die Koordination da und dort im Unterricht behandelter Begriffe durch Betonung des gemeinsamen Oberbegriffs hervorgehoben werden soll, so darf es doch als die wichtigere didaktische Aufgabe bezeichnet werden, durch unterscheidende Charakteristik der Begriffe die Umrisse des Systems der Denkgegenstände recht scharf hervortreten zu lassen. Daß dadurch eine Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit des logischen Systems leichter erreicht wird als wenn unbestimmte vieldeutige Begriffe unklar durcheinanderschillern, dürfte wohl ohne weiteres einleuchten. Damit haben wir die wichtigsten Mittel kennengelernt, durch die der werdende Geist bei seinem Werk der Vereinheitlichung von Anschauungs- und Begriffswelt pädagogisch gefördert werden kann. Die Notwendigkeit einer solchen Vereinheitlichung für klares und deutliches Erfassen der Gegenstände. Wir gehen nun über zur Besprechung der zweiten Tatsache des Abhängigseins der Aufmerksamkeit von Bedingungen, die der Gegenstand klarem und deutlichem Erfassen entgegenbringt: Vertrautheit begünstigt die Beachtung. Daß dieser Satz richtig ist, wird zunächst niemand bestreiten. Es ist ja bekannt, daß der Fachmann mehr sieht, hört, kurz mehr beachtet, als der Laie. Daß dabei nicht eine Differenz im Haben von Empfindungen, sondern wirklich eine solche des aufmerksamen Erfassens in Betracht kommt, braucht wohl kaum erst bewiesen zu werden.
8) Philosophische Studien, Bd. III (1886), Seite 121f 9) Auf die CATTELLsche Interpretation des Aufmerksamkeitsumfangs als eines "Bewußtseinsumfangs" soll hier nicht weiter eingegangen werden. 10) WILHELM WUNDT, Grundzüge der Physiologischen Psychologie, 4. Auflage, Leipzig 1893, 2. Bd., Seite 288 11) W. WIRTH, Zur Theorie des Bewußtseinsumfangs und seiner Messung, Philosophische Studien Bd. XX, Leipzig 1902, Seite 487f 12) WIRTH, ebenda Seite 569f 13) W. WIRTH, Das Spiegeltachistoskop, PHilosophische Studien, Bd. XVIII, 1902, Seite 687f 14) WIRTH, Die Klarheitsgrade der Regionen des Sehfeldes bei verschiedenen Verteilungen der Aufmerksamkeit. Psychologische Studien, Bd. II, Leipzig 1906, Seite 30f 15) WIRTH, ebenda Seite 75 16) WIRTH, ebenda Seite 88 17) SANTE de SANCTIS, Lo studio dell' attenzione conativa. Atti della soc. romana di antropologia, Bd. IV, Heft 2 18) Tatsächlich sind es bei SANTE de SANCTIS nicht Kreise, sondern unregelmäßige Polygone. 19) G. A. NANU, Zur Psychologie der Zahlauffassung, Dissertation Würzburg 1904, Seite 35f 20) Vgl. hierzu die Ausführungen PFÄNDERs, "Einführung in die Psychologie", Seite 350f 21) G. SÉAILLES, "Le génie dans l'art", 3. Auflage, Paris 1902. Deutsch von M. BORST, Leipzig 1904 22) LAY, Führer durch den ersten Rechenunterricht, Wiesbaden 1898, Seite 64f 23) Man gebraucht dafür die Namen "Bewußtseinslage" (KARL MARBE) oder "Bewußtheit" (NARZISS ACH). Wir werden auf diese besonderen Erlebnisse als auf Tatsachen des "Beziehungsbewußtseins" noch zurückkommen. |