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FRITZ MAUTHNER
Wahnsinn
I -34

"Das philosophische Genie muß sich selbst über die Achsel sehen können beim Denken, muß sich ein Übergedächtnis, eine Übersprache anschaffen, es muß die Neubildung zu seinem Alltagsorgan machen. Das muß ein fester Kopf sein, der dies aushält."

Denken oder Sprechen ist für uns die Übung oder Fähigkeit, die Zeichen für Bewegungserinnerungen der Vorstellungen zu verbinden; und je nachdem man das Wort "Erinnerung" als einen einzelnen Akt oder als die ganze Anlage nehmen will, ist also Denken entweder die Summe der Erinnerungszeichen oder die Erinnerung selbst.

Wenn dem so ist, so müßte eine gesunde Erinnerung immer ein gesundes Denken zur Folge haben; Denken müßte - um gelehrter zu reden - eine Funktion des Gedächtnisses sein, Wahnsinn eine Gedächtniskrankheit.

Wir wollen die große Gruppe der Sprachkrankheiten, welche einerseits ohne Frage Gedächtniskrankheiten, anderseits wohl ebenso gewiß Gehirn- oder Denkkrankheiten sind, vielleicht in anderem Zusammenhang betrachten. Hier wollen wir nur diejenigen Zustände vornehmen, welche mit dem Wahnsinn das gemeinsam haben, daß das Gedächtnis aufhört, ohne daß eine Sprachkrankheit auffallen würde.

Die stärkste Form dieses Zustandes dürfte wohl der Tod sein, nach ihm die Ohnmacht. Es schwindet das Gehirngedächtnis, zugleich auch das unbewußte Gedächtnis der Nervenbahnen, es schwindet später sogar das - ich möchte es so nennen - chemische Gedächtnis. Der Körper zerfällt in seine einfacheren Elemente. Kurz ausgedrückt im Sinne meiner Lehre: Das Ich hört auf, weil das Ich nur das Gedächtnis war und das Gedächtnis vernichtet ist.

Man beachte übrigens, daß ich das Denken nur mit dem Gehirngedächtnisse gleichsetze; das Gedächtnis der übrigen Nervenbahnen ist das übrige Leben. Atmen, Verdauen, Blutkreislauf u.s.w. ist eben auch nur Gedächtnis, das Gedächtnis begrenzter Organe. Aber die vegetativen Gedächtnisse kommen nicht zum Bewußtsein, bringen es nicht zur Ich-Täuschung; die Gedächtnisse der Pflanze, des Kristalls noch weniger. Darum können Herz, Magen, Lunge, darum können Pflanzen und Kristalle nicht wahnsinnig werden. Nicht im menschlichen Sinne wahnsinnig; man müßte denn den Begriff metaphorisch erweitern, so daß Krankheiten und Monstrositäten als Wahnsinnsakte erschienen. Und noch eins beachte man. Die Frage hätte im Mittelalter etwa so gefaßt werden müssen: Wo war die Seele eines Ertrunkenen, der nur durch künstliche Atmung wieder zum Leben erweckt worden ist, in der Zwischenzeit? Moderne Menschen hätten fragen müssen: Ist der Körper in der Zwischenzeit lebendig oder tot? Ich kann darauf antworten: Tod ist ein rein negativer Begriff. Der Ertrunkene hat jedes Gedächtnis verloren gehabt. Die künstliche Atmung hat das Gedächtnis der großen Nervengruppe wieder geweckt, von welcher die Atmung ressortiert. Dann hat der Eintritt von Sauerstoff in die Lunge das Gedächtnis der anderen Blutkreislaufnerven angeregt und so weiter, bis auch das Gehirngedächtnis wieder erwachte und der Ertrunkene die ersten Worte sprach.

Der Schlaf ist dem Tode insofern gleich, als das bewußte Gedächtnis bei beiden fehlt. Aus dem Schlaf aber wacht man wieder auf, weil das unbewußte Gedächtnis, (Atmung, Verdauung, Blutkreislauf u.s.w.) weiter bestanden hat. Im Schlaf also schwindet zugleich Sprachvermögen und Gedächtnis. Spricht jemand im Schlaf, so spricht er entweder aus dem Traum, oder er träumt, daß er spreche.

Im Traum ist das Gedächtnis nicht völlig aufgehoben, aber auch das Denken nicht. Wie die Sprache nichts enthält als abgekürzte Zeichen all der Vorstellungen, welche einmal durch unsere Sinne in unser Nervensystem eingezogen sind und da Geleise hinterlassen haben, so kann auch der Traum - die Sprache des Schlafes - nichts anderes vorstellen als Erinnerungen. Und es tritt die alte Frage heran: wodurch unterscheidet sich der Traum vom Wachen, die Sprache des Schlafes von der wachen Sprache?

Weit schärfer als alle früheren Psychologen hätte STRICKER dies beantworten können, wenn er seine Lehre von den Sinnestäuschungen bis zu Ende verfolgt und sie mit seiner eigenen Lehre, daß alle Sprachvorstellungen Bewegungsvorstellungen seien, verknüpft hätte.

STRICKER zeigt, daß wir eine Wahrnehmung nur dann für real halten (das soll heißen: nach außen projizieren), wenn Vorgänge von einem peripheren Nervenende aus in unser Bewußtsein dringen, das heißt also, wenn an einem Nervenende eine wirkliche Veränderung vor sich geht.

Entsteht nun in uns ein Erinnerungsbild, so erfolgt die Anregung immer innerlich, im Gehirn selbst, und wir unterscheiden so das Erinnerungsbild von der Wirklichkeit. Träume sind immer Erinnerungsbilder, können also eigentlich nie mit der Wirklichkeit verwechselt werden.

Nun kommt aber im Traum (und in verwandten Halluzinationen) dazu, daß wir das Gedächtnis überhaupt und  auch  für die Reihenfolge der Assoziationen verloren haben. Wir wissen im wachen gesunden Zustande genau, wie unser Ich (das heißt unser Gedächtnis) dazu gekommen ist, jetzt diese oder diese Gestalt vor Augen oder in der Vorstellung zu haben. Überrascht uns eine rätselhafte Vorstellung, so werden wir um so wacher, strengen unser Gedächtnis an und kontrollieren es. Im Traum können wir gar nicht überrascht werden, weil das Gedächtnis auch für Assoziationen schläft und wir darum auch die tollste Assoziation nicht kontrollieren.

Es ist eine hübsche Vermutung STRICKERs, daß wir nun im Schlafe darum so lebhaft auf innere Gehirnreize hin vorstellen (träumen), weil der vom peripheren Ende her gar nicht erregte Nerv für diese leichteren Reize empfänglich ist.

Der Traum ist also eine Reihe von Vorstellungen, welche ohne Gedächtnis für die Assoziationen vor sich gehen (durch den Schlaf der Sinne oder vielleicht auch durch irgend welche daraus folgende chemische Vorgänge ist das Gehirn inneren Innervationen [Nervenimpulse - wp] besonders leicht zugänglich); und weil die Kontrolle fehlt, unterscheiden wir - während des Traumes seine Gestalten nicht von einer Wirklichkeitswelt.

Die äußeren Innervationen, die durch die peripheren Nervenenden, geben uns etwas der Wirklichkeitswelt irgendwie Entsprechendes. Gedächtnis ist unser Ich, Gedächtnis allein ermöglicht uns, unser Ich der übrigen Welt gegenüber zu stellen. Gedächtnis als Sprache hilft uns, die sogenannten Kenntnisse von der Außenwelt zu sammeln und mitzuteilen, Gedächtnis kontrolliert die Angaben der Sinne daraufhin, ob sie von der Wirklichkeitswelt kommen. Schwaches oder teilweise zerstörtes Gedächtnis läßt uns im Traum Trugbilder für wahr halten und geschwächtes oder teilweise zerstörtes Gedächtnis führt uns im Wahnsinn ähnliche Trugbilder vor und läßt uns dann, da wir wach sind, auch nach ihnen handeln.

So sind wir dazu gelangt, aus der Vergleichung mit verwandten Denkstörungen zu vermuten, daß alle Wahnsinnsformen (auch solche, die nicht geradezu Sprachstörungen sind) auf eine Gedächtniskrankheit, einen Gedächtnismangel, oder wie man besser für Krankheit sagen will, zurückzuführen seien.

Nun ist es für diese Überzeugung wichtig und bestärkend, daß ein so vorsichtiger Forscher wie STRICKER zu dem gleichen Ergebnis kommt, um so wichtiger, als STRICKER doch noch von Zeit zu Zeit recht mythologische Begriffe anwendet.

Er weiß, daß alle unsere Sätze aus der Erfahrung stammen. Trotzdem kennt er neben den Erfahrungsurteilen (denen  a posteriori)  noch besondere Urteile  a priori,  die er etwas oberflächlich als solche Urteile definiert, die wir uns gar nicht anders denken können. Er fügt hinzu, daß in den Fällen, wo es sich um schwieriges Erkennen eines Wahnsinnsfalles handle, falsche Urteile  a priori  nie in Frage kommen.

Ich würde sagen: Es gibt neben den Erfahrungssätzen, das heißt neben unseren selbsterworbenen Kenntnissen, auch viele ererbte Sätze, die wir ihrer Urweisheit wegen (oder weil unsere Erfahrungskenntnisse sprachlich auf ihnen ruhen) für tiefer, älter, ursprünglicher halten, die wir darum Urteile a priori nennen. Wie nun das Gehirn die ältesten Sprachvorstellungen, die eingeübtesten, am längsten behält, die jüngsten aber, die schlecht geübten, am ehesten vergißt, so kann auch der Geisteskranke noch die abgrundtiefen Sätze  a priori,  die ererbten (in diesem Sinn also angeborenen Urteile) am kleinen Finger haben, während er seine eigene Adresse vielleicht vergessen hat.

Damit zu vergleichen ist die oft beobachtete Erscheinung, daß Sprachkranke immer noch imstande sind, die Wochentage, die Monate, die Reihe der Ziffern oder gar das Vaterunser fließend herzusagen, während sie sonst keinen vernünftigen Satz zu bilden vermögen. Dahin gehört es auch, wenn die klinische Erfahrung imbezille Rechenkünstler und Klavierspieler kennt, wenn im vorgeschrittenen Stadium der Paralyse Juristen noch ihre Paragraphen zitieren, Ärzte noch ihre Rezepte schreiben; wenn Querulanten mit ausgesprochener Paranoia ein ausgezeichnetes Gedächtnis zeigen für die Veranlassung ihrer Wahnvorstellungen; wenn Idioten, die erworbene Vorstellungen nicht mehr assoziieren können, dennoch ein gutes Gedächtnis für erlernte Urteile haben. Die Masse des Publikums, das ästhetische, politische und sittliche Urteile nachspricht, macht einen ähnlich idiotischen Eindruck innerhalb der physiologischen Grenze. Der Grad der Einübung kann das ungleiche Gedächtnis bei Geisteskranken erklären. Man darf wohl sagen, daß diese unendlich eingeübten Reihen den erwähnten Kranken zu Wortfolgen  a priori  geworden sind. Auch altberühmte Sätze aus dem Urbestand menschlicher Metaphysik sind solche Wortfolgen  a priori,  nicht Urteile  a priori. 

Jedenfalls behauptet STRICKER erfreulicherweise, mit wissenschaftlicher Schärfe sei der Wahnsinn nur für reine Urteile  a posteriori  von der Außenwelt zu bestimmen. Und er nennt es die erste Bedingung für das Entstehen von Wahnvorstellungen, daß dominierende Vorstellungen sich eines Menschen bemächtigen, die nicht immer krankhaft sein müssen, die aber durch häufige Wiederkehr fix werden können. Die erklärende Annahme, daß sich in solchen Fällen die Funktion bestimmter Nervenfasergruppen in den Vordergrund drängt, die durch Erkrankung für innere Erregungen leichter empfindlich gemacht worden sind, diese Annahme ist uns eine wahrscheinliche, aber dennoch gleichgültige Hypothese.

Das aber ist klar, daß die dominierenden Vorstellungen erst dann völlig über die Wirklichkeitswelt täuschen, uns in einen Wahn versenken können, wenn wir in Zwiespalt zwischen inneren und äußeren Nervenerregungen den inneren (wie im Traum) den Vorzug geben. Was heißt das in unserer Sprache?

Daß ein traumartiger Wahnsinn erst da vorhanden ist, wo unsere Wahrnehmungen des Wirklichen sich nicht mehr mit unserem Gesamtwissen assoziieren, du heißt, wo unser potentielles Wissen von uns ganz oder teilweise vergessen ist.

Zu demselben Ergebnis kommt STRICKER, wenn er sagt:
"In den Fällen von Verrücktheit, welche ich genau zu examinieren in der Lage war, habe ich von den Kranken Aussagen gehört, welche vermuten lassen, daß sie ihre Wahnideen deswegen nicht zu korrigieren vermochten, weil sie einen, wenn auch kleinen Teil ihres Erinnerungsvermögens eingebüßt hatten. Ein Kranker antwortete: man merke sich nicht alle Umstände, durch welche man zu seinen Überzeugungen gelange; ein anderer, daß es so sei (daß ihn nämlich der Wirt vergiften wolle), wisse er  gewiß;  aber er wisse jetzt nicht mehr,  wie  er zu der Überzeugung gekommen sei."
Was also  nicht  zerrissen ist, das ist das logische Band zwischen den einzelnen Sätzen. Ein Verrückter mag so logisch denken können wie ARISTOTELES. Das Band zwischen seinem Denken und der Wirklichkeitswelt, sein Gedächtnis, diese Summe von Zeichen für Wahrnehmungen der Außenwelt, dies ist zerrissen.

Verrücktheit ist eine Gedächtniskrankheit, weil Denken oder Sprechen eben nichts ist als Gedächtnis. Wer an Aphasie leidet, kann vielleicht (wie eben erwähnt) immer noch die am besten eingeübten Wortfolgen aufsagen; andere Kranke sprechen die Worte eines Liedes richtig her, wenn ihnen die Melodie vorgespielt wird. Solche Gehirnkranke haben also (könnte der Wortaberglaube einwenden) noch ein leistungsfähiges Gedächtnis, während sie nicht mehr denken können. Leere Worte. Was das ist im Aphasischen, das angeblich denkt und sich nicht aussprechen kann, das wissen wir nicht, das können wir höchstens mit einem Namen, mit einer Etikette versehen. Ein Gedächtnis, das nur noch zu assoziieren vermag, das keine Brücke kennt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen sich und der Umgebung, zwischen dem Anstoß zu den Assoziationen und den Assoziationen selbst, das ist ein krankes Gedächtnis, das ist kein menschliches Gedächtnis mehr.

Nebenbei sei bemerkt, daß bei Geisteskranken auch die Assoziationen sich nicht normal vollziehen, daß den verschiedenen Gedächtnisfehlern (der Hypermnesie, der Paramnesie und der Amnesie) ähnliche Fehler in der Kraft und Richtigkeit der Assoziationen entsprechen.

Die schwierige Klassifikation der Geisteskrankheiten ließe sich ein wenig verbessern, wenn man die Krankheiten nach den psychischen Tätigkeiten ordnen wollte, die wir als Gedächtniserscheinungen kennen gelernt haben. Selbstbewußtsein, Assoziation, Denken, Sprache zeigen entsprechende Krankbeitsbilder. Beim Melancholiker arbeitet Gedächtnis und Sprache langsam. Für die plötzlichen Anfälle des Epileptikers ist die sogenannte inselförmige Erinnerung charakteristisch. Und da wir die Sprache als die menschlichste Erscheinungsform des Gedächtnisses erkannt haben, da sich der subjektive Gedächtnisdefekt des Kranken objektiv fast nur an Sprachstörungen beobachten läßt, so ist es natürlich, daß der Psychiater diese Symptome besonders zu beobachten hat.

Schon SCHOPENHAUER hatte den Wahnsinn als eine Krankheit der Erinnerungsfähigkeit erklärt. Da er aber die Bedeutung des Gedächtnisses nicht erkannte, da er dessen Identität mit dem Denken oder Sprechen nicht ahnte, ja ein Lobredner des menschlichen Verstandes war, so konnte er den hingeworfenen Gedanken nicht weiter verfolgen. Beachtenswert (wenn auf Tatsachen sich stützend) wäre seine Notiz, daß Schauspieler mehr als Angehörige eines anderen Standes dem Wahnsinn ausgesetzt sind; weil sie mit dem Gedächtnis einen ganz eigentümlichen Mißbrauch treiben.

Ob die Wahnsinnsgefahr für Monarchen, wie ESQUIROL annimmt, den gleichen Grund habe oder tiefer liege, bleibe dahingestellt; denn ein einigermaßen gutes Gedächtnis, das sonst gerade nur zur Ausübung einer organisatorischen Tätigkeit reichen würde, erregt bei Monarchen nur gar zu leicht Staunen und Bewunderung.

Dabei sind SCHOPENHAUERs Bemerkungen durch seine dominierenden Vorstellungen von dem Realwerte der Worte: Wille, Idee, Zweck u.s w. so irregeleitet, daß er wie überall auch hier leicht ins Mythologische verfällt. Ihm ist die Natur so teleologisch, daß die Ohnmacht bei übergroßen Schmerzen aufzufassen wäre als heilende Aufhebung des Gedächtnisses, so wie etwa ein Chirurg brandige Glieder abschneidet, um das Ganze zu retten. Auch ich habe oft solche erklärende Bilder, wie wenn ich den Tod die Rettung vor dem Lebensschmerz nenne; was ich aber immer metaphorisch verstehe, das meint SCHOPENHAUER so ernsthaft, als Metaphysik nur ernsthaft sein kann.

Welche Mythologie SCHOPENHAUER mit seinen Lieblingsbegriffen treibt, erhellt besonders aus seiner Behauptung, daß die Raserei ohne Wahnsinn, die  mania  eine  delirio,  sei - wenn sie überhaupt existiere - so zu erklären, daß der "Wille" sich nach wie vor unter der Leitung des intuitiven Verstandes befinde, aber die Vernunft, d.h. das Denken in Begriffen, schon abgeschüttelt habe. Ich kann mir das nur so vorstellen - mit Benutzung echt SCHOPENHAUERscher Bilder -, daß der Wille in solchen Fällen ein besoffener Kutscher ist, dem das bessere vernünftige Handpferd scheu geworden ist, so daß er mit dem blinden Sattelpferd allein umschmeißen muß; wobei es fraglich bleibt, ob der besoffene Kutscher, der Wille, nur ein Diener des Besitzers oder der Besitzer selbst ist.

Scholastisch ist es, daß SCHOPENHAUER hier tiefsinnig eine Tatsache erklärt, die ihm noch gar nicht ausdrücklich verbürgt ist; schlimmer als scholastisch ist es, daß er weitere Gründe für seine Behauptung aus der Legende des BUDDHA Schakya-Muni nimmt (bei dessen Geburt unter anderen Wundern auch die Wahnsinnigen ihr Gedächtnis wieder erhielten), seine Beispiele von Lear oder gar vom rasenden Ajas.

Bei all diesen Gedanken habe ich die Vorstellung Wahnsinn an die allgemeinere Vorstellung Gedächtnis" geknüpft und nicht an die engere "Aufmerksamkeit ", von der ich ausgegangen war. Ich hätte ja auch sagen können, Wahnsinn sei eine Entartung der Aufmerksamkeit (oder des Interesses). Das wäre aber für viele Leser umso irreführender gewesen, als es noch paradox klang, wenn ich sagte, die Aufmerksamkeit (oder wieder das Interesse) seien nur Entwicklungsstadien des Gedächtnisses. Der Wahnsinn kann sich mehr an das Interesse heften, das die Auswahl unter den Erinnerungen trifft, oder mehr an die Aufmerksamkeit, die eine Erwartung mitbegreift, sich um Zukünftiges kümmert. Immer handelt es sich dabei um Gedächtnisakte.

Endlos haben die Philosophen der Philosophiegeschichte die Aufmerksamkeit mit dem menschlichen Willen verknüpft; alle von DESCARTES bis SCHOPENHAUER und bis JODL. (Von noch viel älterer Zeit an bis vor kurzem, beim Volke bis heute, hat man den Wahnsinn wie eine Willenshandlung ethisch verabscheut.) Sehr langsam bricht die Anschauung sich Bahn, daß die Aufmerksamkeit als eine Gedächtnisarbeit selbst wieder eine Arbeit ist, dazu unser Gefühl von der Arbeit. Aus der biologischen Arbeit des hungernden, lauernden, spähenden Tieres entstanden. Wahnsinn, Genie, Gedächtnis (Aufmerksamkeit) haben nichts mit dem Fetisch Wille zu schaffen.

Genie und Wahnsinn sind oft miteinander verglichen worden, sowohl von romantischen Philosophen, wie SCHOPENHAUER einer war, als auch von Schwätzern, wie LOMBROSO, von dessen sogenannten Tatsachen die eine Hälfte nicht bewiesen ist, die andere Hälfte nichts beweist. Aber der Denker wie der Schwätzer sind darin ähnlich, daß sie nicht versucht haben denjenigen Punkt nüchtern zu bestimmen, in welchem Genie und Wahnsinn einander gleichen.

Wir haben einsehen gelernt, daß Wahnsinn eine Gedächtniskrankheit sei. Eigentlich ist auch dies wieder nur eine Tautologie; denn Gedächtnis ist ja nichts anderes, als was man sonst Seele oder Bewußtsein zu nennen pflegt, meine Behauptung also nichts anderes als die: Wahnsinn sei eine Seelenkrankheit oder Bewußtsseinstörung. Unser Fortschritt besteht also nur darin, daß wir uns auch bei diesem Worte an die Überflüssigkeit der Begriffe Bewußtsein oder Seele erinnern. Und vielleicht auch noch darin, daß für uns der gesamte Gehalt des Bewußtseins oder des Gedächtnisses eben unser Sprachschatz, also für uns jede Gedächtniskrankheit im weitesten Sinne auch Sprachkrankheit ist.

Nun ist das Gedächtnis des gewöhnlichen Kopfes so beschaffen, daß es die gehabten Wahrnehmungen oder Vorstellungen ungefähr mit der ihm wesentlichen Falschheit oder Untreue so wiedergibt, wie sie ursprünglich waren, daß die Erinnerung wohl verblassen kann, aber unvereinbare Vorstellungen sich als Vorstellungen nicht verbinden.

Um deutlicher zu sein: das gewöhnliche Gedächtnis kann und muß für ähnliche und verblaßte Vorstellungen gemeinsame Zeichen haben, Worte oder Begriffe, die eben keine Vorstellungen sind. Mit diesen Worten kann dann die Sprache alles Mögliche vornehmen, nur  vorstellen  kann die Erinnerung nicht auf einmal, was nicht ursprünglich gemeinsam wahrgenommen war. Ich kann sagen: der Kreis ist viereckig; aber ich kann es mir nicht vorstellen. Der Verstand des gesunden Negers kann nachsprechen, der Spiegel des Sees hätte sich in Eis verwandelt, aber er kann es sich nicht vorstellen. Der deutsche Bauer kann sagen oder denken: Mit Hilfe der Wissenschaft wird man aus Sand und Chemikalien Nahrungsmittel schaffen; aber er kann es sich nicht vorstellen, während WERNER SIEMENS, als er diesen Satz aussprach, sich doch etwas vorstellen konnte. Meine eigene Phantasie arbeitet so lebhaft, daß ich mit Selbstbeobachtungen vorsichtig sein muß; der Leser hüte sich, voreilig den Witz zu machen, ich sei dann entweder wahnsinnig, oder halte mich für ein Genie; ich will ja eben, was Genie genannt wird, auf ein nüchternes Wort zurückführen. Ich habe mich selbst also, um ganz sicher zu gehen, in denjenigen Gebieten beobachtet, wo ich glaube, sehr schlecht oder mittelmäßig begabt, also ein Mustermensch zu sein.

Ich kann ein Bild in allen Einzelheiten recht gut im Gedächtnis behalten und die Linien einer Zeichnung halbwegs nachmachen. Ich glaube bestimmt, daß ich eine halbwegs annehmbare Zeichnung oder auch ein Bildchen zustande brächte, wenn ich es gelernt hätte. In der Phantasie nun kann ich mir aus verschiedenen Vorstellungserinnerungen scheinbar ein neues Bild zusammenstellen. Ich kann z.B. mein Fenster und die Nelken davor sehen und mir als Hintergrund dazu eine Schweizerlandschaft oder das Rheintal denken. Aber ein Kunstwerk schaffen könnte ich auf diese Weise niemals, weil sich die verschiedenen Vorstellungserinnerungen bei mir wohl kreuzen und kombinieren können, nicht aber zu einem neuen Ganzen verbinden, das lebensfähig wäre. Ein solches Bild wäre abgeschrieben, auch wenn es noch niemals vorher gemalt gewesen wäre.

In ähnlicher Weise entstehen unzählige Romane und Novellen, deren Verfasser, kleine und große Talente, gar nicht wissen, daß sie abschreiben. Sie können eine ganz neue Handlung und ganz neue Figuren bringen und dennoch ihre Erinnerungen aus Büchern und dem Leben unverändert wiedergegeben haben.

In der Musik, wo ich mich vollständig unbegabt weiß, ist meine Erinnerungsfähigkeit noch geringer und meine Selbstbeobachtung noch deutlicher. Den Zusammenklang von Stimmen oder Instrumenten kann ich höchstens wiedererkennen. Vorstellen kann ich mir den einfachsten Akkord nicht. Nur in den seltensten Fällen habe ich eine solche Gesamterinnerung. Ich habe einmal in unvergeßlicher Stunde ein Lied singen hören, welches das Wort Mai auf den Ton  d  lang aushält, während die Klavierbegleitung das Motiv  d c h a d  bringt. Versuche ich nun die Erinnerung an jene Stunde wach zu rufen, indem ich das Lied vor mich hinsumme, so stelle ich mir deutlich zu dem langgezogenen  d  die Töne  d c h a d  vor. Für mich ist also schon der einfache Musikkenner, der sich eine ihm wohlbekannte Sonate auch vorstellen kann, ein Rätsel; ein echter Musiker aber, dem eine wirklich neue Melodie mit ihrer wirklich neuen Begleitung einfällt, ist mir ein Genie, ein unheimliches Wesen, und ich stehe vor einer Symphonie von BEETHOVEN - die ich wohl zu genießen, aber nicht vorzustellen vermag - genau wie vor der Natur, der Schöpfung aus dem Nichts, der gedächtnisfreien Tat.

In der Malerei würde mir der Mann, der die Gestalt des Kentaurs erfand, ebenso etwas sein wie ein Genie oder ein Wahnsinniger, weil die verschiedenen Erinnerungen zu einem neuen lebensfähigen Ganzen verbunden sind.

In der Poesie, wo ich selbst mancherlei Romane und Novellen spielend geschaffen, zur Not geformt und manche nur aus Not auf den Markt gebracht habe, glaube ich natürlich nicht gern, daß ich nur einer von den Abschreibern (in meinem Sinne) bin. Es wird aber doch wohl so sein. Ich bin gegen andere so oft hart gewesen, daß ich gegen mich selbst lieber ungerecht als nachsichtig sein will. Ganz gewiß gehören zu den Abschreibern die allerjüngsten Genies, die Virtuosen des Naturalismus, die doch zum Dogma gemacht haben, was das Gegenteil des Genies ist: die Vorstellungen ihres Gedächtnisses unverändert wiederzugeben. In diesem Sinne ist ZOLA ein Abschreiber; wo er sich romantisch aufspielt, da ist er ein Abschreiber im schlimmeren Sinne. GERHART HAUPTMANN ist in seinen prächtigen Webern ein Abschreiber; sein kleines "Hannele" ist vielleicht ein Zeichen von Genie.

Ein Genie ist GOETHE durch und durch, erst recht, wenn wir ihn darauf prüfen, ob er die Vorstellungen seines Gedächtnisses in seinen Dichtungen unverändert wiedergibt oder nicht. Jede seiner großen Gestalten ist ein lebendiger Kentaur. Dichtung und Wahrheit wird bei ihm ein Ganzes, Phantasie und Erinnerung zeugen bei ihm zusammen Lebendiges. Die Sagenheldin und die geliebte FRAU von STEIN werden eine lebendige Iphigenie, der Sagenheld und der junge GOETHE verbinden sich zu einem lebendigen Faust, sein Freund MERCK, der Teufel und wieder der junge GOETHE wachsen zu einem lebendigen Mephisto zusammen.

Und es ist wohl zu beachten, daß die seltene Fähigkeit, Erinnerungen organisch geändert zu behalten, bei einem Genie vom Range GOETHEs eine doppelte ist. Getrennte Erinnerungen verbinden sich fruchtbar, wie bei der Zeugung durch verschiedene Geschlechter, aber auch einfache Erinnerungen teilen sich fruchtbar, wie bei der Zeugung durch Teilung. GOETHE vermag den jungen GOETHE zu zerspalten, ohne ihn zu töten, ihn in Weißlingen und Goetz, in Faust und Mephisto, in Clavigo und Carlos auseinander zu legen.

Ist nun das Genie eines Menschen nichts weiter als die seltene Gehirneigenschaft, durch welche Erinnerungen selbständig wuchern, gewissermaßen Neubildungen erzeugen, was der gewöhnliche Kopf niemals vermag - so ist die Ähnlichkeit mit dem Wahnsinn endlich faßbar, wenn ich auch mein Gehirn oder meinen Sprachschatz umsonst zermartere, um nun den Unterschied besser als durch Worte anzugeben.

Wer in seiner Vorstellung die Erinnerung an den Oberkörper eines Menschen und die an einen Pferdeleib so verbindet, in künstlerischem Sinne organisch verbindet, daß ein lebendiger Kentaur leibhaftig vor uns steht, der ist entweder ein Genie oder ein Wahnsinniger. Nun könnte man es so ausdrücken, daß bei dem Wahnsinnigen die Neubildung krankhaft ist, wie ein Krebs, und das Gedächtnis überwuchert, daß also bei dem Wahnsinnigen die veränderte Erinnerung die wirkliche für immer verdrängt, daß dagegen beim Genie die Neubildung vom übrigen Gedächtnis beherrscht wird, daß sie wohl wie eine schöne Orchidee schmarotzerhaft lebt, aber den Stamm nicht umbringt, daß also beim Genie das gemeine Gedächtnis ungestört weiter arbeitet.

Da für uns jedoch das Gedächtnis eins ist mit dem Bewußtsein oder dem Ich, so ließe sich meine neue Behauptung mit den banalsten Worten sagen, die dann freilich einen neuen Sinn erhalten müßten. Beim Genie ist das Bewußtsein durch fixe Ideen oder fixe Stimmungen gesteigert, beim Wahnsinnigen überwuchert und unterdrückt.

Geht man also vom guten Gedächtnis des Alltagsmenschen als dem Zustande der sogenannten Gesundheit aus, so leidet der Wahnsinnige an krankhaften Neubildungen des Gedächtnisses, das Genie aber leidet (eine Krankheit wird man es schon nennen müssen) an den Wucherungen seines Reichtums, seiner Überfülle.

Der Sprung vom Genie zum Wahnsinn ist eben darum nicht selten. Die gewohnte Wucherung des Reichtums muß krankhaft werden, wenn der Reichtum aus irgend einem Grunde schwindet. In dieser Gefahr schwebt jedes Genie, besonders aber das philosophische Genie. Denn vom Poeten oder Künstler verlangt kein Mensch, daß er auch in Alltagsstunden Orchideen blühen lassen solle. Das philosophische Genie aber, dessen Wesen darin besteht, sein und der Menschen Gedächtnis oder seinen Sprachschatz organisch neu zu zeugen, das philosophische Genie muß sich auch in Alltagsstunden bemühen, die neu gewonnene Weltanschauung wenigstens festzuhalten, die neue Sprache seiner eigenen Feststunden in den Alltagsstunden wenigstens zu verstehen. Das philosophische Genie muß sich selbst über die Achsel sehen können beim Denken, muß sich ein Übergedächtnis, eine Übersprache anschaffen, es muß die Neubildung zu seinem Alltagsorgan machen. Das muß ein fester Kopf sein, der dies aushält.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906
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