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FRITZ MAUTHNER
Wortkunst
I -07

"Wir gehen in der Irre und ahnen es nicht. Nebel bedecken alle Worte, Nebel alle Wortgruppen - und der Wahnsinn lauert an der Aufdeckung dieser Nebelschleier."

Das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit wird, wenn wir die Stelle richtig verstehen (die ich nach DEUSSEN, Gesch. d. Phil. 1, 118, gebe), im Rigveda schön und tief empfunden. Nur die Wissenden kennen alle vier Viertel der Rede.
    "Drei bleiben im Verborgenen unbewegt; der vierte Teil ist, was die Menschen reden. ... Vielfach benennen, was nur eins, die Dichter".
Um es schlagend zu sehen, wie wenig die Sprache als Erkenntniswerkzeug und wie viel sie als Kunstmittel vermag, vergleiche man einmal eine beliebige Dichtung von GOETHE mit einem ebenso beliebigen Satze seiner wissenschaftlichen Abhandlungen.
    Füllest wieder Busch und Tal Still mit Nebelglanz
Hier ist kein Begriff, der nicht "außer dem Zusammenhang" oder in einem rein belehrenden Satzgefüge verschiedene Erklärungen oder Definitionen zuließe.

Man achte wohl darauf, daß nicht nur die wenigen Zufallsworte, die die Grammatik anführt (als: BAUER, weiß), mehrdeutig sind, daß vielmehr jeder Begriff, jedes Wort jeder menschlichen Sprache ein Erinnerungszeichen an schwebende, ungleiche, benachbarte Vorstellungen ist, daß also jedes Wort "außer dem Zusammenhang" mehrdeutig ist. Man achte wohl darauf, um meine Bemerkungen nicht für eine Schikane anzusehen.

Die Wörter unseres Beispiels sind doch gewiß nicht aus Bosheit gewählt; und doch weisen sie uns alle solche Mehrdeutigkeit auf.

" Füllen."  Das Wort heißt etymologisch "voll machen"; es bekommt aber einen ganz anderen Sinn, wenn die Gartenkunst die Nelken  gefüllt  hat, wenn die Köchin das Fett von der Suppe " füllt".  (Im Französischen heißt "emplir " gar "lecken".) Seine Augen füllen = befriedigen. Füllen = Völlerei treiben. Gesang, Licht füllt einen Saal, aber schon metaphorisch. Ein offenes Tal füllen erinnert beinahe an das Füllen im Sinne von Bedecken.

" Wieder."  Das Wort kann heißen: abermals, oftmals, zurück. Aber hier hat es offenbar die Bedeutung der Situation: heute an dieser Stelle scheint der Mond wieder.

" Busch."  Man bezeichnet damit einen Erdbeerbusch, einen Laubast, einen Blumenstrauß, Haarbusch, Helmbusch, einen Strauch, ein kleines Wäldchen.

" Tal."  Es bedeutet außer dem sehr unbestimmten Begriff einer Senkung zwischen Bergen auch die Abwärtsbewegung des Flußwassers oder eines Schiffes. "Sich zu Tod und Tal segeln." Tal erzählt also entweder vom Raume zwischen Bergen, oder von einer Bewegung bergabwärts. Zu GOETHEs Tal gehört nicht eigentlich ein Berg. Ein Hügel ist gerade recht. Und "Busch und Tal" ist wieder nicht Busch und Tal, sondern ungefähr ein buschiges Tal.

" Still."  Das Wort kann bedeuten: vollkommene Lautlosigkeit, verhältnismäßige Ruhe (stiIIe Straße), einen Vorgang ohne Gesangsbegleitung ( stille  Messe), die Einsamkeit ( stiller  Suff), die Bewegungslosigkeit (der  stille  Ozean, ein Toter ist ein  stiller  Mann). In unserem Beispiel wäre der Grammatiker überdies in Verlegenheit, ob er "still" als ein Adverb (zu füllen) oder als ein Adjektiv (zu Mond) ansprechen soll. Der Nichtgrammatiker findet keine Schwierigkeit.

" Nebel."  Eigentlich der Wasserdampf in einer gewissen Erdnähe; dann jedes Mittel, das eine Aussicht verschleiert, der Entfernungsduft von den Bergen.

" Glanz."  Das Wort kann das helle Licht selbst bedeuten, dann die Eigenschaft eines Körpers, ein solches Licht auszustrahlen. Endlich die Pracht des Auftretens. Im Französischen bedeutet éclat (von Schleißen) auch Knall, Lärm, Skandal.

Es war unmöglich, mit diesen Worten eine unbekannte Kenntnis logisch zu erschließen. Noch einmal, wer diese Unsicherheit der Bedeutung für eine Schikane hält, der steht noch nicht an der Schwelle meines Gedankens.

Wenn mich ein Franzose fragt, wie er éclat zu übersetzen habe, so werde ich doch antworten müssen, das richte sich nach dem Zusammenhang. Nun glaubt der, der dieses hier für Schikane hält, leichtes Spiel mit mir zu haben. Also wird doch der Sinn jedes Wortes durch den Zusammenhang klar?" Gewiß. Aber was heißt das eigentlich, es werde der Sinn der einzelnen Worte durch den Zusammenhang klar?

Wir haben ja bisher geglaubt, der Sinn, der Satz, der Gedanke entstehe oder besser bestehe aus dem logischen Gefüge von Worten oder Begriffen. Wir haben doch der Sprache die Fähigkeit zugeschrieben, das Denken zu vermitteln oder gar zu bereichern. Wie nun, wenn - wie wir jetzt schon erfahren - der Zusammenhang, d.h. der Sinn, der Gedanke, der Satz erst das Wort erklären muß? Ist das nicht das Eingeständnis, daß alles Gesagte Tautologie ist und sein muß, daß wir nichts sagen und verstehen können, als was wir schon wissen, daß das Ganze früher da ist als die Teile, der Satz früher als das Wort? Daß also die gesamte alte Schullogik die Wahrheit auf den Kopf stellt?

Diese schlimmen Gedanken werden den Leser festzuhalten suchen, wenn auf weiterer Strecke des langen gemeinsamen Weges die Kritik der Sprache zur Kritik der Logik werden wird. Hier will ich aber nur darauf hinweisen, daß auch diese wahrhaft grauenhafte Entdeckung nur erklären hilft, warum die Sprache wohl ein herrliches Kunstmittel, aber ein elendes Erkenntniswerkzeug ist. Denn der Dichter will immer nur eine Stimmung mitteilen. Seine Seelensituation. Was der Stimmung zu Grunde liegt, das Wirklichkeitsbild, hält die Poesie nur zusammen, wie der Strick einen Rosenkranz. Mag auch (wie es immer wieder vorkommt) falsch aufgefaßt werden, nach der Seelensituation des Lesers oder Hörers übersetzt; schadet gar nicht viel. Der Vorgang wird durch sinnliche Vorstellung wirklich musivisch zusammengefaßt, die Stimmung kann durch das erste Wort angeschlagen werden. Die nachfolgenden Worte können also beim Dichter wirklich durch die ersten erläutert werden.

Anders in der wissenschaftlichen Untersuchung. Hier soll nichts Stimmung sein, hier ist nichts ein sinnfälliger Vorgang. Die Mehrdeutigkeit jedes einzelnen Wortes wird durch kein Ganzes  vorher  gemildert oder gedeutet, und so kann am  Ende  kein Ganzes entstehen. Was uns beim Lesen eines solchen Buches oder einer solchen Abhandlung dennoch an ein logisches Fortschreiten, an eine Klarheit und übersieht des Ganzen glauben läßt, das ist oft die Kenntnis des Zieles, immer aber unsere Gewohnheit, die Sprache für einen treuen Führer zu halten. Wir gehen in der Irre und ahnen es nicht. Nebel bedecken alle Worte, Nebel alle Wortgruppen - und der Wahnsinn lauert an der Aufdeckung dieser Nebelschleier.

Kehren wir zu den Worten unseres Beispiels zurück. Sie werden uns die Impotenz der Sprache (als eines Erkenntniswerkzeuges) noch anders belegen helfen.

"Nebel" und "Glanz" sind beide nicht eindeutig.

"Nebelglanz" nun gar ist ein Begriff, der vielleicht in jener Nacht, als GOETHE dieses Wort erfand, zum ersten Male, seitdem Menschen unter dem Monde wohnen, nötig wurde, weil zum ersten Male ein Menschenauge in solcher Stunde die beiden Lichtwirkungen zugleich wahrnahm.

Es wäre also vollständig unmöglich, mit Hilfe dieses Wortes eine unbekannte Kenntnis logisch zu erschließen, es wäre schwer, eine neuerschaffene Kenntnis auch nur mitzuteilen. Für Mitteilung einer künstlerischen Stimmung eignen sie sich aber so vorzüglich, daß hundert Jahre nach ihrer Niederschrift jeder, der Deutsch versteht und ein Herz hat, durch das Lesen dieser Verse in die damalige Stimmung GOETHEs hineinversetzt ist. Er erfährt sie, aber nicht logisch, sondern erfährt sie an sich selbst, er erlebt sie. Und lacht wohl nachher über die GOETHE-Philologen, die darüber streiten, ob die Verse "An den Mond" lyrisch die Stimmung des Dichters oder dramatisch die der Frau von Stein ausdrücken sollen.

Gerade all die wirren Beziehungen der von GOETHE gewählten Laute und Worte rufen im Gehirn des Lesers oder Hörers all die zitternden Stimmungen wach. Es ist, als ob GOETHE vor hundert Jahren in einen Phonographen hineingesprochen hätte und wir nun seine bewegte Stimme hörten.

Und nun bedenke man, daß dieser unerreichte Wortkünstler oder Dichter, der doch nebenbei gegenständliche Fragen auch in Prosa unübertrefflich darstellt, man bedenke, daß GOETHE nicht wußte, was Glanz ist, wie "Glanz" zu definieren wäre. Er wußte es ganz gewiß nicht, denn er konnte noch nicht einmal die Hypothese ahnen, die DOVE erst fünfzig Jahre später aufstellte, und er kannte auch den Versuch nicht, der unter dem Stereoskop aus schwarzen und weißen Flächen (also echt Goethisch) Glanz herstellt. GOETHE wußte also nicht, was Glanz sei, und konnte doch als Künstler das unbestimmte Wort so herrlich anwenden, nämlich darum, weil es genügt, wenn in unserem Gehirn der Darstellungsendzweck dieses Wortes wieder erzeugt wird. Ob das Wort klar und deutlich ist, ist für die Mitteilung der Dichterstimmung gleichgültig.

Es traf sich gut für uns, daß in dem Beispiel gerade ein Begriff aus der Optik in Frage kam; da war ja GOETHE ein bißchen Fachmann. Und im Zusammenhange damit ist es gewiß notwendig, daß GOETHE, der doch so fein von weißen Lilien zu dichten vermochte, in eben der "Farbenlehre", die den Glanz nicht kennt, davon ausgeht, daß es außerordentlich schwer sei, sich deutlich zu machen, was man eigentlich unter "weiß" verstehe. Der Dichter weiß es, der Gelehrte eben nicht.

Aufs Geratewohl hatte ich die Verse "An den Mond" zum Ausgang gewählt. Der Unterschied zwischen der wissenschaftlichen Sprache und der dichterischen Sprache, zwischen. dem groben Werkzeug und dem feinsten Instrument, könnte noch heller beleuchtet werden an anderen Meisterstücken GOETHEscher Lyrik. "Der du von dem Himmel bist" (mit dem einzig schönen "der Schmerz und Lust"), "So laßt mich scheinen, bis ich werde", "Wer sich der Einsamkeit ergibt." Unsere besten Oberlehrer fühlen sehr wohl, daß die Handbücher, an die sie sich halten sollen, noch nicht begriffen haben: ein Gedicht ist nicht aus der Sprache der Prosa zu erklären.

Der Unterschied zwischen der Sprache als einem Kunstmittel und der Sprache als einem Erkenntniswerkzeug ist also darin zu suchen, daß der Dichter Stimmungszeichen braucht und besitzt, der Denker Wertzeichen haben müßte und sie in den Worten nicht findet. Dazu kommt aber noch etwas, was kaum noch in seiner Bedeutung für die sogenannte Logik gewürdigt worden ist: die Enge des Bewußtseins. Nehmen wir als Beispiel wieder die "Ode an den Mond" vor.
    Füllest wieder Busch und Tal Still mit Nebelglanz.
Der an sich selbst experimentierende Psychologe mag im stande sein, zwei bis drei dieser Worte zusammen durch das Nadelöhr des Moments zu erblicken, viel weiter wird seine Fassungskraft nicht gehen. Alle diese Experimente (deren Fehlerquelle gerade die Aufmerksamkeit ist) sind mit den kleinen Unterschieden ihrer Ergebnisse für uns unerheblich. Der unbefangene Leser oder Hörer wird ohne Zweifel immer nur ein Wort auf einmal, meinetwegen aber auch zwei bis drei Worte im Bewußtsein finden, die er bei der nächsten Zeile nicht mehr "gegenwärtig" hat. Und dennoch versteht er das Gedicht, dennoch erzeugt das Ganze die ganze Stimmung. Wie ist das möglich? Nun, nicht anders, als wie es für GOETHE möglich war, das Gedicht zu sprechen oder zu ,schreiben, zusammenhängend, trotzdem auch ihm nur immer höchstens zwei bis drei Worte zugleich im Bewußtsein waren.

Es ist eben eine unausdenkbar komplizierte Arbeit, die das Gehirn beim Sprechen oder Hören auch in dieser Beziehung leistet. Wie das Auge einen schnell im Kreise bewegten Funken als Kreis erblickt, so verbindet das Gehirn die Nachbilder zu einem geordneten Bilde. Schön. Wir begreifen, wie das Flimmern und Wogen einer Stimmung sich im Dichter wortreich auslöst und wie die Worte im Hörer dann das gleiche Flimmern und Wogen wieder erzeugen. Und den Zusammenhang stellt dann oberflächlich eben das Gedächtnis her, wobei man wohl zu beachten hat, daß immer nur zwei bis drei Worte gegenwärtig sind und das Gedächtnis ganz individuell nur ein paar Hauptpunkte des Verlaufes (mag die Dichtung größer oder kleiner, ein Epos oder ein Idyll sein) festhält. Was vorhanden ist, jeden Augenblick vorhanden, ist:
  • ein bis drei Worte,
  • die Stimmung des Ganzen,
  • ein oberflächlicher Zusammenhang nach subjektivem Interesse.
Was haben wir von diesen drei Dingen, wenn es sich um Kenntnisbereicherung, ich meine um Fortschritt im Denken (nicht durch Naturbeobachtung) handelt? Die im Nadelöhr stehenden Worte sind an sich unklar und ohne Zusammenhang ganz unverständlich. Die Stimmung des Ganzen ist ein Reiz in Dichtungen, aber bei gelehrten Schriften nur eine halbdichterische Zutat. Freilich oft das Wertvollste an philosophischen und historischen Darstellungen. Der oberflächliche Zusammenhang nach subjektiv gerichteten Erinnerungspunkten ist für eine genaue Überwachung des Gedankenganges unzulänglich. Es ist, als ob die Streckenwärter einer Eisenbahn mit Glühwürmchen versehen Obacht gäben, während der Schnellzug durch die Nacht herannaht.

Wie ist es also möglich, daß ein Philosoph trotz der Enge des Bewußtseins ein System im Zusammenhang denkt und der Leser ihm folgt?

Ich habe nur eine Antwort: es ist nicht möglich. Um das Schrecklichste zu sagen: wir können gar nicht prüfen, ob der Denker seinen Begriff in zwei auseinander liegenden Sätzen ganz gleich gebraucht habe; denn selbst, wenn wir die beiden Sätze nebeneinander stellen, sind wir nicht im stande, sie zu vergleichen, weil wir sie nicht zugleich denken können, weil wir sie nie dazu bringen können, sich (wie in der Geometrie) zu decken.

Es ist unmöglich, den Begriffsinhalt der Worte auf die Dauer festzuhalten; darum ist Welterkenntnis durch Sprache unmöglich. Es ist möglich, den Stimmungsgehalt der Worte festzuhalten; darum ist eine Kunst durch Sprache möglich, eine Wortkunst, die  Poesie. 

Die deutsche Bezeichnung "Dichtkunst" ist unsäglich geschmacklos. Man hört förmlich, wie man sie und jedes andere Handwerk erlernen könne. Man hört GOTTSCHED aus dem Worte heraus. "Dichter" hat diesen Klang nicht für uns, weil wir etymologisch nicht mehr fühlen, daß es (wohl gewiß) aus  dictare  entstanden ist; weil wir ohne besondere Studien nicht wissen, daß es bis ins 17. Jahrhundert allgemein "Verfasser" bedeutete (Briefdichter). Die Empfindung für "die innere Sprachform" wechselt so leicht, daß ADELUNG erzählen konnte, "Dichter" sei für das verächtlich gewordene "Poet" aufgekommen. Poet hieß "Macher"; "Poesie" besagte also zwar einmal handwerksmäßiges Machen, aber die Bedeutung ist vergessen, und so mag das Fremdwort gelten.

Poesie gehört zu den gesteigerten Sinnenreizen, die durch Worte, also indirekt, erregt werden. Noch kürzer könnte man sagen: Poesie sei Genuß durch Worte. Die Poesie des Dichters selbst kann ohne Worte bestehen, ein Genuß durch eine Phantasie, ein lasterhafter Genuß. Will er seinen Phantasiegenuß anderen mitteilen, um für den Lohn Hunger, Liebe oder Eitelkeit zu befriedigen, so bleibt ihm nur das Wort, wie dem Musiker Ton, dem Maler Farbe. Poesie ist Sinnenreiz durch Worte.

Wem diese Erklärung nicht gefällt, der achte einmal darauf, wie sehr alle Künste und anderen Genüsse nur Sinnenreize sind. Ein Systematiker könnte aus den fünf Sinnen fünf Künste konstruieren, von denen jede nur durch spezifische Vorstellungen wirken kann. Die Poesie wäre dazu die umfassendste Kunst, weil sie mit ihrem Wortvorrat sämtliche spezifischen Sinnesenergien zur Reproduktion von Vorstellungen reizen kann. Man nennt diese sechs Künste nur häufig anders.

Der niederste Sinn ist der sogenannte Tastsinn. Niedrig, weil noch sehr wenig differenziert. Er ist beim Menschen nur höher entwickelt als bei den Mollusken. Er hat sich entwickelt als Korrelat der sogenannten Undurchdringlichkeit der Körper. Das heißt, ein Lebewesen mußte getastet haben, um auf seinem Wege umkehren zu können, sobald es auf einen härteren Gegenstand stieß. Das Getast sagt: Du kannst nicht mit dem Kopf durch die Wand. Moralisch ausgedrückt: Du sollst nicht mit dem Kopf durch die Wand. Nun, selbst diese niedrigste Empfindung kann bei luxuriös organisierten Menschen eine Kunst werden, sich zu einer Sinfonie ausbilden. Die raffinierte Pariserin und RICHARD WAGNER, die ihr Badezimmer und ihr Schlafzimmer mit ausgeklügelter Vorsicht nach den differenzierten Wünschen ihrer Haut ausstatten, die eine bestimmte Stoffweichheit für jeden ihrer Körperteile bevorzugen, Temperatur und Zusammensetzung ihres Badewassers ausprobieren, die für Sitzen, Liegen und Lehnen bestimmte Möbelformen erfinden, sie sind Künstler des Getasts. Und ich fürchte, daß bei der nahen Verwandtschaft zwischen Künsten und Lastern auch hier die Grenze schwer zu ziehen sein dürfte.

Es wird schon bekannter anklingen, wenn ich nun auch von Sinfonien des Geruchs und Geschmacks rede. Die beiden Sinne waren ursprünglich Diener derselben Bestie, des Magens. Sie hatten von zwei verschiedenen Standpunkten nur auszusagen: Das bekömmt dir, das bekömmt dir nicht. Der ungebildetere Geschmack konnte nur sagen: Das ist gut, das ist schlecht. Der feinere Geruch: Das riecht, das stinkt. Der Mensch in seiner Unnatur hat aber auch seinen Magen lasterhaft gemacht, er hat Nahrungs- und Genußmittel nach seinen eigenen krankhaften Gelüsten degenerieren lassen, und so sind allmählich Sinfonien des Geschmacks und des Geruchsmöglich und sogar alltäglich geworden. Die individuelle Verschiedenheit einer Geschmackssinfonie (hergestellt von der Kochkunst, dieser rohesten Lasterdirne) kann man sich veranschaulichen, wenn man etwa die Tafel einer bayrischen Kirmeß mit einer Bouillabaisse vergleicht, eine orthodoxe jüdische Hochzeit zu Lemberg mit einem vornehmen Pariser Diner. Überall ist ein besonderer Stil. Und unter den Tafel genossen gibt es wie in jedem Konzert einige Kenner und viele dumme Fresser.

Die Kenner von Geruchssinfonien sind noch seltener, aber sie sind vorhanden. Es gibt unter ihnen auch schon moderne Nasen, welche den Reiz von Dissonanzen würdigen.

Es sollte natürlich nur gezeigt werden, daß auch diese Sinne einer künstlerischen Steigerung fähig sind. Es wäre alberne Paradoxie, wollte ich die andere Art der eigentlich sogenannten Künste leugnen.. Doch eine Verwandtschaft ist da.

Die Kunst der Farbe oder der Malerei ist ganz gewiß nicht von der Farbe ausgegangen, sondern von der Umrißzeichnung. Aber die Decadence der Malerei neigt entschieden zur Farbensinfonie, wie in ganzen Gruppen der Richtung, die sich vorläufig und verlegen Sezession nennt; wie aber viel absichtsloser schon bei MAKART. Wenn eine solche Farbensinfonie einmal wirklich gar nichts Gegenständliches darstellen wollte, so hätten wir etwas, was fast der Kochkunst an die Seite zu stellen wäre. Ernsthaft. Aber die allgemein verbreitete Malerei ist doch etwas ganz anderes. Nämlich so.

Die drei zuerst genannten Sinne wecken gar nicht oder nur nebenher objektive Vorstellungen von der Welt. Die Fingerspitze, die Samt anfaßt, der Gaumen, der Erdbeeren schmeckt, die Nase, die Veilchen riecht, haben eigentlich nur ein spezifisches Wohlgefühl, und selbst wenn die Vorstellungen Samt, Erdbeeren oder Veilchen ausgelöst werden, so bleiben sie völlig isoliert. Höchstens durch eine hinzukommende fremde Erinnerung kann in einem lyrischen Gemüte die Vorstellung des Weibes im schwarzen Samtkleid etwa auftauchen, mit dem, man in die Erdbeeren oder in die Veilchen gegangen ist. Ganz anders das Gesicht. Das menschliche Auge, das in seiner Urgestalt nicht mehr und nicht weiter sah, als die Nase riecht, damals, als das Urauge noch keine Linse besaß und nicht seine übrigen optischen Erfindungen - das jetzige Doppelfernrohr im luxuriös ausgestatteten Menschenkopf umfaßt bei jeder Wendung ein stattliches Weltbild, soweit das Licht die Welt zu deuten vermag.

Die Kunst der Malerei, der Sinnenreiz durch Farben und Licht beschränkte sich früher darauf, die Vorstellung ansprechender Gegenstände durch Formen und Farben wieder zu wecken. Immer mehr gelangte man aber dazu, Naturstimmungen wiedergeben zu können. Man lernte Farben differenzieren, die man früher nicht sah. Und es ist für mich kein Zweifel, daß unser Augenapparat immer noch verfeinert wird, wie er durch Millionen Jahre verfeinert worden ist. Es ist für mich kein Zweifel, daß hervorragende Maler mehr sehen, als ihre Vorgänger, und daß sie ihre Zeitgenossen lehren, gleichfalls mehr zu sehen. Bei uns sind so, von Franzosen beeinflußt, UHDE und LIEBERMANN dabei, das Sehorgan der Menschheit zu verbessern, wenn sie auch bei ihren Experimenten selber etwas von der Gesundheit des eigenen Apparates eingebüßt haben. Doch das nur nebenbei; und soll ja die Malerei wie die übrigen Künde nur über die Wortkunst und so über die Sprache aufklären.

Nun wäre es ja möglich gewesen, daß die Menschen zum Zwecke ihrer Verständigung auf sichtbare anstatt auf hörbare Zeichen verfallen wären. Die Poesie oder die Kunst durch Mitteilung hätte dann scheinbar mit der Malerei mehr Ähnlichkeit gehabt, als wie jetzt mit der Musik. Vielleicht waren die Hieroglyphen ursprünglich eine solche Augensprache.

So hoch nun die Poesie über den anderen Arten der nachahmenden Kunst steht, so hoch steht die Musik durch elementare Gemütsmacht über der Poesie. Und das hat BEETHOVEN an der entscheidenden Stelle eines seiner gewaltigsten Werke vergessen.

Er hat im letzten Satze der Neunten Sinfonie die unvergleichliche Schönheit und Kraft der ersten Sätze zu überbieten gesucht durch Einführung der Wortsprache. "0 Freunde, nicht diese Töne! sondern laßt uns angenehmere anstimmen, und freudenvollere. - Freude!" Das gerade macht die Musik so stark, daß sie sprachlos ist. Die schönsten Lieder sind nicht reine Musik. Reine Musik ist im Organ des großen Komponisten die Natur noch einmal, im Organ des tüchtigen Fachmusikers zu Ästhetik gewordene Physik. Etwas von dieser Wirkung verspürt auch der genießende Laie. Weltlust oder Weltschmerz wird in ihm aufgewühlt. über diese beiden Stimmungen, die übrigens auch noch gemischt sein können, geht die Sonderung dessen nicht hinaus, was durch Musik eigentlich auszudrücken ist. Wenn der Laie oder der Programmusiker einem Satze eine bestimmte Vorstellung unterlegt, so ist das Wirkung der Seelensituation, des Zufalls oder der Suggestion. Mitunter auch beim Komponisten selbst. Ich kann beim Anhören der Kreuzersonate als Leitvorstellungen die Begriffe Gewitter, Schlacht, Liebe, Schicksal, Gebirge mitbringen; das Programm ändert sich, Musik und Genuß bleiben. Auf die unterlegten Wortvorstellungen kommt es nicht an.

Die Poesie hat zum Mittel die Vorstellungen an den Worten der Gemeinsprache. Bei der Musik müssen wir um eines größeren Anlaufs willen einen Schritt zurückgehen. Nicht alles riecht und schmeckt;  fast  alles ist durch die Augen wahrnehmbar. Wir müssen nur bedenken, daß die Malerei schließlich auch Luft malen gelernt hat. Klingen aber tut das ganze Weltall, wenn er, nur zum Klingen gebracht ist, für jedes Ohr. Mit der Eigentümlichkeit aber, daß das, was fürs Auge die Hauptsache ist, daß der Lokalton, die individuelle Färbung, fürs Ohr Nebensache ist. C ist ewig C, ob es nur in der Luft schwirrt oder auch in der Geigensaite, im Posaunenblech, in den Tropfen eines Wasserfalls, im Rasseln der Kiesel am Ufer. Ich fürchte fast, daß die Überladung unseres Orchesters mit Farben, d. h. mit dem schwingenden Material der Töne, einmal als Barbarei wird empfunden werden. Die reine Musik beruht auf etwas ganz anderem: auf den verhältnismäßig einfachen und durch den Kontrollapparat der Ohren leicht zu überschauenden Zahlenverhältnissen der Tonschwingungen. Wieder wie bei den Unterleibssinnen gibt uns das Gehör nur einseitige Vorstellungen, nicht ein Bild wie das Gesicht. Aber das Gehör dringt dadurch noch tiefer in das Geheimnis der Natur ein, daß es uns die objektiven Schwingungen direkt schön finden und genießen läßt, während das Auge die entsprechenden Lichtschwingungen noch subjektiver umsetzt.

Das Gesicht wurde entweder nie oder nur vorübergehend einmal der Mitteilungskunst dienstbar gemacht. Das Gehör erwies sich dafür geeigneter. Wie immer man sich die Entstehung der menschlichen Sprache denken mag, welche natürliche Verbindung immer man zwischen dem Laut und der entsprechenden Vorstellung voraussetzt: die Sprache ist entstanden, indem im Gedächtnis niedergelegte Vorstellungen durch hörbare Laute ausgelöst wurden. Die menschliche Sprache, welche nichts als die Ergebnisse der fünf Sinne zur Voraussetzung hat, und darum ganz und gar ungeeignet ist zur Bereicherung der Vorstellungen, also zur Bereicherung des Wissens, die menschliche Sprache kann, und das ist ihre einzige Aufgabe, jegliche Vorstellung wieder erzeugen; sie ist ein geeignetes Kunstmittel, weil sie die Vorstellungen sämtlicher Sinne wieder erzeugen kann, weil sie dies ohne Gegenwart der Objekte auf dem Wege der Phantasie indirekt vermag, weil sie wiederum die Welt noch einmal ist, die Welt im Spiegel der Sprache. Das Getast, der Geruch, der Geschmack und das Gehör (beim Gehör denken wir hier nicht an das Anhören gesprochener Worte) empfinden immer nur ihr spezifisches Objekt selbst, das Gesicht kann schon indirekt zum Genießen gereizt werden, aber in der Malerkunst nicht durch Zeichen, sondern durch eine Art Täuschung. Die Wortkunst täuscht nicht mehr, sondern erzeugt die Bilder durch Zeichen, die in der Urzeit etwas der Täuschung Ähnliches - gewesen sein mögen, jetzt aber konventionell geworden sind und dem Schweinehirt, wie dem Ministerpräsidenten gleichmäßig, wenn auch nicht in gleicher Fülle, zu Gebote stehen.

Die Verschiedenheit der Kunstmittel trennt die Künste. LESSINGs Untersuchungen wären nicht nötig gewesen, wenn die Künstler nicht immer wieder versucht hätten, mit falschem Material zu arbeiten. Ein richtiges Bild ist nicht durch Töne und nicht durch Worte auszudrücken. Richtige Musik nicht durch Farben und wieder nicht durch Worte. Wenn Kompositionen und Bilder eine Geschichte zu erzählen versuchen, so sind ihre Musiker und Maler stumme Esel, und wenn der Literat eine Sinfonie oder eine Landschaft erzählen will, so ist er ein schwatzhafter Esel, BILEAMs Esel, ein göttlicher Esel, aber doch ein Esel.

Die Sprache kann nichts weiter als Vorstellungen wecken. Eine vernünftige Sprache will auch nichts weiter, und vollends für die Wortkunst oder Poesie ist eine andere als eine durchaus anschauliche Sprache ebenso unmöglich, wie für die Malerei eine Farbe, die sich auf der Leinwand verändert, oder für die Musik ein Instrument, das sich nicht regieren läßt. Gar nicht zu reden von sinnlosen Worten und unsichtbaren Farben. Was also hier für die Sprache des Verkehrs und der Wissenschaft gefordert wird, das war in der Poesie immer selbstverständlich. Wer von der Oberfläche unserer verbildeten, verschulten und verwahnsinnten Sprache nicht untertauchen kann in ihre farbige Tiefe, der ist unfähig, auch nur eine Zeile Poesie zu denken oder zu schreiben.

In diesem Gedankengang ist natürlich die Erzählung die erste und wichtigste Art der Poesie. Der Dichter erzeugt durch Worte den gesteigerten Sinnenreiz von Vorstellungen. Er erzählt, was er gesehen und gehört hat seit Beginn der Welt bis zu ihrem Untergang. Er hat das Wort, das Epos.

In diesem Gedankengang zeigt sich das Drama als eine ganz merkwürdige Art der Wortkunst. GUSTAV LANDAUER hat es einmal auf Grund des WAGNERischen Gesamtideals mit der Plastik verglichen. Die Ähnlichkeit mit der bildenden Kunst greift aber viel weiter. Der Dichter einer Erzählung weckt Vorstellungen durch Worte indirekt. Wer aber ein Drama aufführen läßt, erzeugt die Vorstellungen von Götz oder der Kameliendame direkt, noch direkter als der bildende Künstler, denn er läßt seine Modelle sich bewegen, genau nach Vorschrift, und läßt sie beim Handeln sprechen, genau nach Vorschrift.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906