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FRITZ MAUTHNER
Bewußtsein und Sprache
I -35

"Das Selbstbewußtsein ist die Kulisse, hinter der die Schauspieler und Statisten schlafen, gähnen, essen oder plappern, um auf ein Stichwort einzeln vorzutreten, sowie der Souffleur oder Inspizient oder die Assoziation es befiehlt."

Meine Lehre oder Behauptung, daß - um es diesmal sprachlich auszudrücken, soweit es geht - die Worte: Seele, Selbstbewußtsein, Bewußtsein überflüssig, sinnlos seien, daß sie alle nur Gebrauchsmünzen für die ungangbare Vorstellung von einem äußerst wertvollen Ich seien, daß dieses Ich in jedem einzelnen Augenblick nichts sei als die Summe aller ererbten und erworbenen Bewegungserinnerungen oder Übungen, also nichts als unser Sprachschatz, daß also das Ich oder das Bewußtsein nichts sei als die Fähigkeit - Warnung: Fähigkeit ist ein Wortfetisch! -, in jedem Augenblick des Lebens die ausgefahrenen Gleise des Nervenorganismus wieder zu befahren, diese meine Lehre oder Behauptung, daß Gedächtnis, Bewußtsein, Sprache drei Synonyme seien, sie erhält manches Licht von der neuen Physiologie und Psychologie.

So erscheint mir der Begriff "Enge des Bewußtseins" völlig entbehrlich, wenn erst die Psychologie dazu gelangt ist, von einer Enge des Gedächtnisses zu sprechen. Und das muß sie tun, weil sie bereits eingesehen hat, daß wir in jedem Augenblick nur je eine Vorstellung oder ein Wort  wissen,  daß dagegen die ganze Fülle unseres Wissens nur potentiell ist, gewissermaßen auf Lager, so wie die längst vergessene Kraft unserer Sonne in den Kohlenlagern der Erde als potentielle Kraft aufgespeichert liegt.

Das Gedächtnis für Sinnesempfindungen ist ganz anderer Art und bei vielen Menschen wahrscheinlich gar nicht vorhanden. Ich denke hier zunächst an das Gedächtnis für Begriffe oder Worte, das heißt also an die Sprache, wohl gemerkt: nicht an ein Gedächtnis für die Sprache, weil das eine Tautologie wäre.

Die Erinnerung an eine Gesichtsvorstellung ist scheinbar nicht so deutlich wie die an ein Wort; man vergleiche etwa das Wort "Rom" und die Bilderinnerung, die man von dieser Stadt zurückbehalten hat. Bei einiger Aufmerksamkeit wird man erkennen, daß nur das Schallbild "Rom" so deutlich ist (auch das nur verhältnismäßig, nie vollständig), der Begriff "Rom" aber ganz genau so undeutlich wie die Gesichtserinnerung.

Hier bietet sich übrigens Gelegenheit, aus dem Worte "Selbstbewußtsein" einen möglichen Sinn herauszuspüren. Was durch das enge Nadelöhr des Gedächtnisses geht, das ist nämlich immer nur ein Wort auf einmal. Dieses Wort ist in unserem Bewußtsein. Nun hat. der Sprachschatz des einfachsten Menschen einige hundert, mein Sprachschatz ebensoviel tausend Worte. Diese Worte lassen sich (nicht so oft, wie die Mathematik lehren würde, aber doch recht häufig), kombinieren, und all diese Kombinationen machen das potentielle Wissen, das Bewußtseinslager des Einzelmenschen aus. Wie es nun für den Faden, der durchs Nadelöhr zieht oder zwischen den Rollen der Spinnmaschine geht, nicht gleichgültig ist, ob noch viel Faden hinter ihm kommt, wie seine Spannung davon abhängt, was unmittelbar hinter ihm kommt, so denke ich mir, daß das Momentbewußtsein, die Augenblickserinnerung, d.h. das wahre und einzige Ich in seiner Spannung oder Stimmung davon abhängt, was es an bereitem Wissen, an Sprachvorrat hinter sich hat. Die Stimmung des Bewußtseins ist also in jedem Augenblick abhängig von der Größe des individuellen Bewußtseinslagers. Wer glaubt, aus dem Vollen schöpfen zu können, ein großes Bewußtseinslager zu besitzen, der hat viel Selbstbewußtsein. Und so sieht man, daß dieses anspruchsvolle Wort, wenn es überhaupt einen Sinn haben soll, ihn nur in seiner kleinlichen eitlen Nebenbedeutung hat. Das Selbstbewußtsein ist die Kulisse, hinter der die Schauspieler und Statisten schlafen, gähnen, essen oder plappern, um auf ein Stichwort einzeln vorzutreten, sowie der Souffleur oder Inspizient oder die Assoziation es befiehlt.

Die Beziehung des augenblicklich gedachten Wortes zu meinem Sprachschatz, das Verhältnis also meines augenblicklichen Ichs zu meinem potentiellen Ich habe ich Spannung oder Stimmung genannt und will auch vor diesen Worten noch warnen. In ihnen liegt die Schwierigkeit versteckt, die das Rätsel ausmacht. Ob man dieses ganze Rätsel: Seele, Gehirntätigkeit, Apperzeption oder Stoffwechsel nennt, ob man das Denken oder die Sprache idealistisch oder materialistisch erklären, d.h. bereden will, das ist eben eine leere Wortfrage.

Ob der einzelne mit seinen Gedanken ganz allein stehe oder ob er sie mit anderen Menschen teile, ob z.B. der Stern, den ich erblicke, auch von anderen Menschen gesehen wird, ist eine tragikomische Frage, die im Alltagsleben niemals aufgeworfen wird und in der Philosophie niemals gelöst werden kann. Der Schluß von den gleichen Worten und Handlungen der Menschen auf ihre gleichen Vorstellungen und Gedanken ist metaphysisch. Denn und damit reißen wir uns wieder blutig an den scharfen Grenzen der Sprache - aus dem Scheine oder aus dem (den Zufallssinnen entstammenden) Zwange eines ähnlichen oder gleichen Menschenbewußtseins ist ja eben die Sprache entstanden, und so kann aus irgend welcher Sprachtatsache nie diese selbe Gemeinsamkeit der Vorstellungen gefolgert werden.

Stellen wir uns unter dem Bewußtsein etwas Wirkliches und Wirkendes vor, so werden wir außer allen anderen Widersprüchen auch noch zu dem geführt, daß bei der Enge des Bewußtseins immer nur ein außerordentlich kleiner Bruchteil unserer Erfahrung vorhanden ist, präsent ist, daß aber doch in jedem gesunden Kopfe die Sicherheit besteht, von diesem Bruchteil zu jedem anderen Punkte der Erfahrung sofort hinüberspringen zu können. Wie wir imstande sind, jede Stelle unseres Gesichts ohne Überlegung mit dem Zeigefinger zu finden, wie wir innerhalb eines vertrauten Zimmers oder einer wohlbekannten Straße blitzschnell einen Gegenstand in den Blickpunkt bringen können, so besteht unser Bewußtsein doch nur darin, daß seine Enge aufgehoben wird durch seine sichere und schnelle Beweglichkeit. Nun ist es aber ein eigenes Ding um die Enge des menschlichen Bewußtseins. Freilich kann nur ein Bruchteil unseres Gedächtnisses präsent sein, beispielsweise immer nur ein Wort; doch dieses Wort kann ebensogut ein Individuum bezeichnen als irgend eine Art oder Gattung; und je nach der Kenntnis dessen, der es denkt, kann das Wort arm oder reich an Erfahrungen heißen. Die Enge des Bewußtseins wird nun doch scheinbar verschwinden, wenn jemand die Worte  Amerika  oder  Pflanze  oder  Rom  mit großer Sachkenntnis im Bewußtsein hat. Wäre er doch imstande, über Amerika, die Pflanze oder Rom vom Flecke weg ein ganzes Buch zu sprechen.

Es hat mit der Enge des Bewußtseins aber dennoch seine Richtigkeit, weil dieses Buch dem betreffenden Herrn eben nicht präsent ist, sondern nur das Wort, welches für das Buch an Sachkenntnis nur den Knotenpunkt des Gedächtnisses darstellt. Wir sind es nur so gewohnt, unser eigenes Gedächtnis an Worte zu heften und mit denselben Worten das Gedächtnis anderer Menschen anzuregen, daß wir es gar nicht mehr bemerken, wie wir uns bei solchen Worten oft gar nichts Sachliches denken, nicht einmal die engsten und bequemsten Kenntnisse. Solche Worte sind im Salongeschwätz, in der Schule sehr häufig nur Lautzeichen, fähig, Erinnerungen zu wecken, aber zu geläufig, um sie immer auszulösen. Nur in diesem Sinne ist HEINRICH von KLEISTs (dem bekannten französischen Satze vom Appetit, der beim Essen komme, nachgebildeter) Satz wahr:  l'idée vient en parlant.  Für den erregten Dichter ist er psychologisch interessant. Als Motto der Sprachkritik bekam er einen ironischen Sinn, an welchen KLEIST nicht dachte. Wenn man einen sogenannten Gebildeten fragen würde, was KOLUMBUS entdeckt habe, so würde er zuverlässig Amerika antworten. Aber höchst wahrscheinlich würde er nur die Lautgruppe aussprechen, und weder der damalige noch der jetzige Zustand des Landes, weder die Geschichte noch die Statistik Amerikas würden ihm ins Bewußtsein kommen.

Wir sind nicht gewohnt, etwa den niederen Tieren ein Bewußtsein zuzuschreiben. Wir denken uns das Verhältnis einer Qualle zu dem umgebenden Wasser nicht viel anders als das eines Wasserteilchens zu benachbarten Wasserteilchen. Sie wirken eben aufeinander.

Wenn wir uns nun den einzelnen Menschen, wie er sich auf seiner Scholle bewegt, Nahrung aufnimmt und abgibt, die umgebende Luft einsaugt, chemisch verändert und ausatmet, objektiv und ohne Eitelkeit der Luft, der Erde gleichwertig vorstellen, so ist sein Bewußtsein eine nebensächliche Begleiterscheinung des ihm eigentümlichen Lebens. Mitunter nützlich für seine Unterhaltung, oft auch schädlich für seine Stimmung, ist die Erinnerung oder das Bewußtsein nicht ernsthaft eine Eigenschaft oder eine Tätigkeit seiner "Seele" zu nennen. Bewußtsein oder Erinnerung ist nur ein anderes Wort für Seele; nur daß, was am schwierigsten zu begreifen ist, im menschlichen Gehirn (oder wieder im Bewußtsein) der Erinnerung eine Erwartung entspricht.

Alles, was im menschlichen Körper ohne Bewußtsein vor sich geht - also die Hauptmasse des Lebens - ist unter dem koketten Titel "Philosophie des Unbewußten" zusammengefaßt worden. Gewiß gibt es Empfindungen und Bewegungen, deren wir uns nicht erinnern, und die wir darum bildlich unbewußte Vorstellungen nennen mögen. So könnte einer, wie es übrigens in der Luft liegt, die Weltgeschichte des Ungeschriebenen schreiben, also eigentlich die Erinnerung dessen zu bewahren suchen, woran die Menschheit die Erinnerung verloren hat.

Bewußtsein nennen wir also die Erinnerung von dem Augenblicke an, wo der Mensch die Außenwelt nicht mehr naiv auf sich wirken läßt, sondern sich selbst ihr gegenüber als eine Einheit empfindet.

Das Krustentier, welches sein eigenes Glied, das man ihm ins Maul gesteckt hat, behaglich auffrißt, hat unser Selbstbewußtsein nicht, empfindet sich nicht als Einheit, ist naiv. Umgekehrt ist auch der Regenwurm naiv, welcher mitten durchgeschnitten törichterweise in zwei Individuen weiterlebt. Unser menschliches Bewußtsein ist sentimental.

Man hat viel von einem Organ des Bewußtseins geredet und es auch gesucht. Das Wort ist dem berühmten Sitz der Seele gleichwertig. Ist aber Bewußtsein nichts weiter als Erinnerung, so kann man das Zentralnervensystem, das doch wohl das Organ des Bewußtseins sein wird, mit dem schwarzen Brett der Universität oder des Wirtshauses vergleichen, noch besser mit einem automatischen Kerbholz, wobei freilich das Bild nichts erklären, sondern nur hochtrabende Ausdrücke ablehnen will.

Setzen wir statt  Bewußtsein  ruhig das Wort  Erinnerung,  so wird es sofort deutlich, daß nur ein Narr den Tieren Bewußtsein absprechen könne. Etwas anders ist die Frage, ob man auch noch die Reflexbewegungen der niedrigsten Tiere auf Erinnerungen zurückführen müsse (was mir selbstverständlich scheint), ob man also eine unbewußte Erinnerung noch Bewußtsein nennen dürfe. Die sprachliche Sinnlosigkeit dieser Frage rührt aber nur daher, daß unsere bewußte Erinnerung eben nur Sprache ist, unsere Erinnerungszeichen Worte, daß also das menschliche Bewußtsein nichts weiter ist als die jedem einzelnen zur Verfügung stehende Sprache, sein ererbtes Kerbholz.

Die Frage müßte also so formuliert werden: ob wir die wortlose Erinnerung der niederen Tiere noch Bewußtsein nennen  wollen  und ob wir bei den Tieren nicht andere Erinnerungsszeichen nachweisen können. Denn nur die redenden Menschen müssen ihr Bewußtsein der Sprache gleichsetzen. Andere Tiere mögen und müssen andere Zeichen und Signale haben. Das Kerbholz ist das Selbstbewußtsein des Wirts.

Man hat natürlich auch aus dem Bewußtsein eine mythologische Figur gemacht und die gefällige Menschensprache zögert keinen Augenblick, etwa zu sagen: Unserem Bewußtsein verdanken wir unsere Vorstellungen, das Bewußtsein erzeugt unsere Vorstellungen, die Vorstellungen sind die Töchter des Bewußtseins. Die Sprache ist schamlos. Mit Worten kann man auch sagen, daß ein Hundertmarkschein zehntausend Pfennige erzeuge. In Wirklichkeit muß ich die große Note erst hergeben, wenn ich die kleine Münze haben will; in Wirklichkeit habe ich eigentlich immer nur, was ich mir für die kleine Münze gekauft habe. In Wirklichkeit habe ich nicht Bewußtsein  und  Vorstellungen, sondern darf immer nur das große Wort  oder  die kleinen gebrauchen.

Das Wort Bewußtsein sieht ganz selbstverständlich und ehrwürdig aus, aber es ist nicht alt. ARISTOTELES hatte noch kein Bewußtsein, es gibt kein griechisches Volkswort dafür. Ganz unklar warfen die alten Philosophen das Erleben des Wahrnehmens zusammen mit dem Aufmerken auf das Erleben; und sind vielleicht für diese Unklarheit, die auch wir noch nicht überwunden haben, gar nicht zu tadeln. Der romantischen Selbstbeobachtung der Neuplatoniker erschien daß Bewußtsein eher im Bilde eines Spiegels, einer Reflexion im buchstäblichen Sinne. Es gab auch bereits das Wort das dann schon vor LEIBNIZ schon durch THOMAS, mechanisch mit  conscientia  übersetzt wurde.  Conscientia  behielt noch lange seine Beziehung auf das Wahrgenommenhaben, auf das Wissen, auf das Denken. Es hatte mit dem Gewissen noch nichts zu tun. Für die neuere Terminologie ist allerdings LEIBNIZ verantwortlich zu machen, bei dem der Ausdruck nur zwischen Apperzeption, individuellem Denken und Gewissen schwankt. HERBART hat das Bewußtsein sehr hübsch definiert als "die  Summe  aller wirklichen oder gleichzeitig gegenwärtigen Vorstellungen". Ein Hundertmarkschein ist die Summe von hundert Mark und der Frühling die Summe von allem, was blüht. Neuerdings fängt man an, das Wort preiszugeben. BRENTANO und ZIEHEN sehen zwischen bewußt und psychisch kaum mehr einen Unterschied . Auch WUNDT sagt sehr hübsch, das Bewußtsein sei keine besondere Schaubühne. Ganz rückständig HAECKELs materialistischer Wortaberglaube.

Die Kritik des Begriffs Bewußtsein wäre unvollständig, wenn nicht auch ein Wort über die eben erwähnte Philosophie des Unbewußten gesagt würde. EDUARD von HARTMANN hat es dem Kritiker der Sprache leicht gemacht, den Grundstein seiner Philosophie herauszunehmen, weil HARTMANN im ganzen und großen doch die Sprache unserer Zeit schreibt und so augenblicklich darauf ertappt wird, wenn er zum scholastischen Sprachgebrauch übergeht. Sein Wortaberglaube gehört zu den gröbsten, und FRIEDRICH LANGE hat ganz recht, wenn er das Unbewußte HARTMANNs boshaft mit dem Devil-devil des Australnegers vergleicht. Diese ewige Selbsttäuschung des Menschengeistes, sich aus einer Abstraktion einen Fetisch zu gestalten und den Fetisch dann einige Jahre zu verehren, tritt bei HARTMANN ganz naiv auf. Auch DAVID STRAUSS noch nennt die ihm bekannte Welt das Universum, auch DAVID STRAUSS noch hält sein subjektives Einheitsbedürfnis für eine objektive Welteinheit, macht sich aus seinem Universum einen Gott und läßt daraus die Welt hervorgehen. Das ist Wortaberglaube, aber, doch eine fast unschädliche Tautologie. HARTMANN jedoch macht sich den Fetisch aus einer Negation zurecht und kann so die Negation scholastisch in jeden beliebigen Begriff verwandeln. Auf einer negativen Begriffsleiter klettert er behend in den Himmel hinauf zu Begriffsgöttern, die dann freilich auch danach ausfallen. Es ist kein Wunder, daß spiritistische Gläubige eine Vorliebe für diese Philosophie haben; steckt im Grundbegriff eine Negation, so läßt sich nachher alles beweisen.

Das Taschenspielerkunststück HARTMANNs besteht nun darin, daß er erstens die Negation des Bewußtseins zu einem definierbaren Begriffe machen will, und daß er zweitens diese negative Eigenschaft gewisser Vorgänge durch das Vorsetzen des Artikels zu einem Substantiv macht, das heißt zu einer Gottheit. Wir beobachteten es bei DAVID STRAUSS, wie in der französischen Übersetzung seines neuen Glaubens das Wort Universum zu "Univers" (mit großem Anfangsbuchstaben) wurde. Die Franzosen schreiben solche Worte mit großem Anfangsbuchstaben nur, wenn sie Personifikationen, das heißt Götter unter ihnen verstanden wissen wollen. Immerhin ist Universum noch eine Abstraktion für Wirklichkeiten, sogar eigentlich die Abstraktion für  das  Wirkliche. Bei HARTMANN ist die Verwandlung in ein Substantivum aber ein Salto mortale, weil vorher die Unbewußtheit nur eine Eigenschaft gewisser Vorstellungen und gewisser Willensakte oder Willensteile gewesen ist. Die Entdeckung, daß wir uns nicht aller unserer Vorstellungen und aller unserer Willensvorbereitungen bewußt sind, ist für die Psychologie sehr wichtig gewesen; das deutliche Aussprechen dieser Entdeckung stammt aber bekanntlich nicht von HARTMANN her, sondern von LEIBNIZ. LEIBNIZ hat die Beobachtung gemacht, HARTMANN hat den Vorteil dieser Beobachtung wieder zerstört, indem er das Unbewußte aus der Psychologie in die Metaphysik hineinzuwerfen suchte.

Hier kommt uns vielleicht unsere Auffassung von dem wirklichen Gegensatze zwischen Ding und Eigenschaft zu Hilfe. Wir wissen, daß nur die verschiedene Richtung der Aufmerksamkeit uns bald von einem Ding, bald von seiner Eigenschaft, sprachlich also bald von einem Substantiv, bald von seinem Adjektiv reden läßt. Wir wissen genau, daß eigentlich das Substantiv immer ein Abstraktum ist, weil unsere Sinne immer nur Eigenschaften wahrnehmen, in unserem Denken oder Sprechen also immer nur Eigenschaften sein können. Denn in unserem Denken oder Sprechen kann nichts sein, was nicht vorher in unseren Sinnen war. Von der Richtung unserer Aufmerksamkeit hängt es ab, ob wir an dem Ding in unserer Hand die rote Farbe, den angenehmen Geruch, die Weichheit der Blätter, ihre Zahl u.s.w. vorstellen und benennen wollen, oder ob wir die unvorstellbare, unerklärliche Ursache aller dieser Sinneswahrnehmungen, ob wir die einheitliche Ursache dieser Sinneswahrnehmungen eine  Rose  nennen wollen.

Noch subtiler wird der Unterschied natürlich, wenn es sich um die Eigenschaft "bewußt" handelt. Genug daran, daß wir in unserer Sprache eine Bezeichnung dafür haben, wenn wir für unser Vorstellen und unser Wollen Zwischenglieder, Verbindungsmomente, Assoziationen, Erinnerungen (der Zusammenhang ist sehr unklar) besitzen. Es ist kein Wissen, es ist aber immerhin ehrlicher Glaube, wenn wir von bewußten Vorstellungen, von bewußten Willensvorgängen reden. Nun setzen wir mit Recht voraus, daß es unaufhörlich und überall im organischen Leben Vorgänge gibt, welche mit dem Vorgang des Vorstellens und des Wollens Ähnlichkeit haben müssen, die aber in unserem Bewußtsein nicht auffindbar sind. Es steht nichts im Wege, diese Vorgänge unter den Begriffen  unbewußte Vorstellung  und  unbewußtes Wollen  zusammenzufassen, sobald wir ein Interesse daran haben, durch ein Wort die Aufmerksamkeit auf diese Tatsachen zu lenken. Mehr sollte dieses Wort nicht leisten.

Das Taschenspielerkunststück von HARTMANN besteht nun darin, daß er das Adjektiv "unbewußt" uns durch wiederholten Gebrauch so lange einübt, bis wir vergessen haben, wie negativ sein Sinn ist, und daß er nun plötzlich alle Fälle, auf welche dieses Adjektiv anwendbar wäre, unter dem Substantiv das "Unbewußte" zusammenfaßt mit der für unseren Verstand grauenhaften Absicht, das Adjektiv, und noch dazu ein negatives Adjektiv, zur Ursache des Dings zu machen. Man verlege nur einmal diesen Gedankengang aus den metaphysischen Wolken auf die feste Erde. Da wäre es nicht genug, mit HARTMANN einen Phantasten zusammenzustellen, der die Duftigkeit der Rose zur Ursache der Rose machen wollte. Nein, es müßte erst jemand kommen, der bemerkte, daß die Rose sich nicht frei bewegen kann wie die meisten Tiere und wie viele Pflanzen, und der nun die Beinlosigkeit der Rose für die Ursache ihrer Farbe, ihres Duftes u.s.w. erklären wollte. Aber auch damit begnügt sich EDUARD von HARTMANN noch nicht. Er fälscht auch noch unbewußt die Bedeutung des Adjektivs "unbewußt". Unklar verwechselt er das, was wir in unserem Bewußtsein nicht finden, mit dem, was wir in unserem Wissen nicht finden. Er hat ohne jede Berechtigung die unbewußten Vorstellungen zu Ursachen der bewußten gemacht. Wenn ihm nun aber jetzt die unbewußten Ursachen nichts weiter sind als die unbekannten Ursachen, so ist es natürlich leicht, mit Hilfe dieses Worttausches. den Bankrott zum höchsten Reichtum zu machen. Das Hauptwerk HARTMANNs wäre eine sehr geistreiche und dankenswerte Darlegung des menschlichen Nichtwissens, wenn man überall an die Stelle des Adjektivs "unbewußt" das Adjektiv "unbekannt" oder "ungewußt" setzen wollte, und anstatt des Unbewußten überall den bescheidenen Ausdruck unbekannte Kräfte oder unbekannte Ursachen. Allerdings wäre das dann kein neues philosophisches System.

HARTMANN geht aber noch einen Schritt weiter. Nachdem er das Adjektiv in ein Substantiv verwandelt und so die Eigenschaft zur Ursache der Wirklichkeit gemacht hat, schiebt er dem Begriff des Unbewußten plötzlich den Begriff des Geistigen unter. MÜNCHHAUSEN versinkt in Morast und glaubt dabei in dem siebenten Himmel zu schweben, weil er sich während des Untersinkens am Zopfe zieht, bis der Kopf schmerzt. Diese Eskamotage vollzieht HARTMANN in der gefälligsten Weise. Man könnte sogar einen neuen Beweis für das Dasein Gottes aus seiner Lehre entwickeln: Wenn alle unsere botanischen Kenntnisse uns die biologischen Ursachen der Farbe und des Duftes einer Rose nicht gelehrt haben, so ist die Beinlosigkeit die Ursache der Rose. Die Beinlosigkeit ist etwas Geistiges, weil es nichts Mechanisches ist. Also hat die Rose eine geistige Ursache, die wir bequemer Gott nennen können. Nicht anders ist der Gedankengang HARTMANNs. Es genügt nicht, mit LANGE festzustellen, daß die Wissenschaft fortschreite, daß wir immer weitere physische Ursachen entdecken können, daß es nicht angehe, die noch unbekannten Ursachen einer Erscheinung einem nichtphysischen, einem neuen geistigen Prinzipe zuzuweisen; dann wäre HARTMANNs Philosophie wenigstens als vorläufige Orientierung über die bekannten und die unbekannten Ursachen wertvoll. Wir müssen weitergehen und uns klar machen, daß es geradezu geistlich ist, die nicht bekannten Ursachen geistige Ursachen zu nennen. Wir kommen da zu einer sehr hübschen Gleichung.

Es stellt sich nämlich heraus, daß in der Geschichte aller Wissenschaften in langsamem Fortschritt eben immer nur die beobachteten, das heißt bekannten Ursachen mechanisch genannt worden sind, daß das Wort  Geist  immer nur der Verlegenheitsausdruck für den "schäbigen Rest" war. Könnten wir unser Denken aus der Gehirnphysiologie erklären, dann hätten wir unseren Geist mechanisch gemacht. Wir können es nicht, aber eine solche mechanische Weltanschauung wäre wenigstens klar und logisch im Sinne unserer materialistischen Sprache. Es widerspricht jedoch unserer Sprache, unserem Denken, unserem Wesen, wenn wir die Ursachen, die wir nicht kennen, und bloß weil wir sie materialistisch nicht zu fassen vermögen, geistige Kräfte nennen. Denn "geistig" kann doch nie und nimmer irgend etwas anderes heißen als: dem Menschengeiste ähnlich.

HARTMANN hat mit mathematischer Wissenschaftlichkeit aus dieser Begriffsvertauschung den mathematischen Beweis geführt, daß die Welt mit unendlich großer Wahrscheinlichkeit geistige Ursachen haben müsse. Er weist nach, daß in der Komplikation der Wirklichkeit die Wahrscheinlichkeit, es sei die Welt eine Folge  der uns bekannten  mechanischen Ursachen, unendlich klein, gleich Null sei, daß also die Wahrscheinlichkeit, es sei die Weit eine Folge geistiger Ursachen, sehr groß sei, gleich eins, d.h. soviel wie gewiß. Wir haben eben gesehen, daß er den Begriff "unbewußt" mit dem Begriff "unbekannt", und dann wieder den Begriff "geistig" mit dem Begriff "unbewußt" vertauscht hat. Seine mathematische Formel ist ganz richtig berechnet, nur ist seine Übersetzung in die Worte der Menschensprache falsch. Es steckt nichts in der Formel als das: es ist höchst unwahrscheinlich, es ist so gut wie widerlegt, daß die Welt eine Folge der uns bekannten Ursachen sei; es ist höchst wahrscheinlich, es ist so gut wie bewiesen, daß andere Kräfte, unbekannte Ursachen mit im Spiele sind. Und das brauchte HARTMANN nicht erst zu beweisen.

Ist eine Kritik der Sprache schon notwendig für eine Philosophie, die sich mit dem bewußten Denken oder der Sprache beschäftigt, so ist eine Philosophie des Unbewußten ohne Sprachkritik wie der Flug eines Trunkenen im Traume.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906