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JULIUS BAB
Fritz Mauthner

"Mauthner führt den Generalangriff auf alle Arten des Geisteshochmuts zugleich, indem er dartat, wie jedes Dogma der Religion wie der Wissenschaft am Wortkörper klebt und mit ihm zugrunde gehen muß."

Wir waren Primaner und interessierten uns mit der ungeduldigen Leidenschaft unserer Jahre so ziemlich für alles auf der Welt - den "Lehrstoff" des Gymnasiums natürlich ausgenommen. Wir plagten uns mit den Rätseln aller Philosophien, Dogmen und Künste und studierten die Herolde aller Parteien durchaus mit heißem Bemühen. Wir rannten in endlosen Debatten gegeneinander an, berauschten uns an der Kraft unserer Worte - und blieben doch nüchtern genug, eine tiefe Unruhe zu empfinden über die Unsicherheit, die Vieldeutigkeit dieser Worte.

Wir sprachen stundenlang miteinander, gegeneinander, aneinander vorbei - und schlossen dann meistens mit der Erkenntnis: man müßte erst feststellen, was dieses oder jenes Wort, das wir soeben stundenlang und offenbar mit sehr verschiedenem Sinn gebraucht hatten - denn "eigentlich" bedeute. Die Unmöglichkeit einer eigentlichen Verständigung durch die individuelle Natur jedes Sprach-Gebrauchs - das fühlten wir, das bedrückte uns. Man müßte ein Stockwerk tiefer graben, unter alle Lehren, alles System, alle Wortgebäude; man müßte die Axt an die Wurzel legen - so fühlten wir nicht deutlich, aber stark.

Und eines Tages standen wir - der Freund und ich - vor einem Buchladen und wiesen fast gleichzeitig, stumm, mit erhobener Hand, auf ein dickes Buch, eine "Neuerscheinung", die da auslag. Auf dem Titel stand "Beiträge zu einer Kritik der Sprache von FRITZ MAUTHNER. - Erster Band: Kritik der Sprache"! Das war es, was wir, halb bewußt, seit Monaten gesucht hatten. Schon dieser Titel bedeutete uns etwas wie Befreiung. Wir waren erschüttert von dem bloßen Willen, den dieser Titel kundtat. Es hatte einer "die Axt an die Wurzel gelegt", an die Wurzel all unserer Qualen, Mißverständnisse, Zweifel. Schon um dieses Titels willen war er unser Held.

Ich habe diese kleine Geschichte von meiner ersten Begegnung mit FRITZ MAUTHNERs großem Lebenswerk an den Anfang dieses Gedenkblattes gestellt, weil es mir vor allem wichtig scheint zu zeigen, wieviel "positive Kraft" von diesem vielberufenen Verneiner, Zweifler, Zerstörer ausging. Waren wir sehr jungen Leute gläubige Jünger irgend eines skeptizistischen Systems, auf dessen Triumph es uns ankam? Aber durchaus nicht! Waren wir nihilistischen Geblüts, freuten wir uns, alle Möglichkeit des Glaubens, Denkens, Handelns zersetzt, aufgelöst zu sehen? Aber im Gegenteil! Niemand konnte sehnsüchtiger nach einem Glauben, empfänglicher für hohe Gedanken, erwartender für große Taten sein als wir!

Aber dies Werk erschütterte uns zutiefst, weil für uns - und dies ist wirklich "Beruf", nicht nur Recht, sondern Gesetz aller Jugend - die Welt nicht da war, ehe wir sie erschufen! Und weil wir für unseren Neubau reinen Grund, freie Bahn für unseren Willen brauchten! Darum jubelten wir einem zu, der die Blöcke alten Aberglaubens zertrümmerte, die uns im Wege lagen, die Worthecken niederbrannte, die unseren Pfad sperrten.

Hier ging es hindurch zu  neuem  Glauben,  wahren  Gedanken,  echten  Taten! So ungeheuer viel Leben spürten wir aus dem Tod der Ideen, der Wort-Hülsen, wachsen! So tiefe Bejahung war in der Wirkung mit dieser Verneinung verkettet! Dies als Denkmal der Zerstörung so abgestempelte Buch war uns im allergründlichsten Sinne dieses Wortes "erbaulich".

Dies Positive aber lag nicht nur als unvermeidlicher Effekt jeder starken Kraft ungewollt in seiner Wirkung - es lag auch, auf einem sehr tief verhaltenen Grunde freilich, in MAUTHNERs Wesen und Willen. Kann nicht jedes mit dem Gefühl leidenschaftlicher Verpflichtung geförderte Werk - und es gab keinen leidenschaftlicheren Arbeiter an seinem Werk als MAUTHNER - einzig und allein aus einem liebevollen Gebundensein an das Leben der Welt stammen? Hier ist ein heiterheler Punkt in unserem dunklen Dasein: die mit höchstem Eifer gesprochene Todespredigt weckt Leben - durch ihren Eifer, aus der mit größter Kraft erhobenen Verneinung wirkt gewaltig bejahend - eben die Kraft!

Und nicht nur in solcher Naturgesetzlichkeit, unbewußt, unwillig etwa, wirkte so Leben und Liebe aus MAUTHNER. - Proben genug gibt es, daß diesen Zweifler, Auflöser und Gottesfeind eine tiefe -  unaussprechlich  tiefe - liebende Gläubigkeit bewegte. Das war MAUTHNERs  gottlose Mystik.  Sie mag ein Widersinn sein für jene, die, im Denkgewebe erstarrt, nur das "richtig" Formulierte für wirklich gelten lassen. Für minder Gefesselte liegt hinter dem dichterisch freien Wort eine sehr große und sehr einfache, alltäglich erlebbare Wirklichkeit.

Von dieser Wirklichkeit, einer liebeskräftigen Allverbundenheit, die einer bewußt umgrenzten Gottes-Vorstellung durchaus nicht bedarf, lebt ja das Werk jedes Künstlers, jedes Dichters! Nun freilich war MAUTHNER, wie er bei guter Zeit erkannte und bekannte, kein rechter, kaum ein halber Dichter, und der Ausdruck seiner Liebeskraft war deshalb auf einen weiten Umweg angewiesen, den zu gehen viele Ungeduldige ermüdete. Er war seiner, erst langsam mit reifer Resignation und rein Kraft ergriffenen Form nach ein großer  Schriftsteller  - und das ist ein Wesen, das gerade in Deutschland sehr schwer erkannt wird. Dann versteht man bei uns immerhin fast noch eher den großen Dichter. (In Frankreich ist es umgekehrt, und das ist vielleicht für den Unterschied beider Nationen sehr tief charakteristisch.)

Wer bei uns schreibt und kein Dichter ist, der soll ein Gelehrter, ein Mann vom Fach sein - sonst hält man ihn einfach für einen Tagesschreiber, der nach der Laune und dem Brot das zufällige Nachrichtenmaterial der Stunde umschwätzt und mit der Produktivität des Geistes eigentlich gar nichts zu tun hat. Daß es auch Arbeiter im Wort gibt, denen die sinnlich -übersinnliche Zauberkraft des Dichters nicht im beherrschenden, höchstens im dienenden Grade zuteil wurde, und die, ähnlich zur Wissenschaft gestellt, Wahrheiten mehr als Waffen denn als Worte ergreifen und die gleichwohl aus einer innersten Not und deshalb mit mächtig bewegender Kraft ein  Werk  schaffen - daß es mit einem Wort den großen Schriftsteller  gibt,  das wissen in Deutschland nicht viele.

Aber solch ein Schriftsteller - von manch künstlerischer Gabe und ungeheuer viel Gelehrsamkeit bedient, aber beherrscht vom Wirkungswillen eines selten wachen Verstandes - solch Schriftsteller in großem Ausmaß war FRITZ MAUTHNER. FRITZ MAUTHNERs Weg zur Erkenntnis seines wahren Schriftstellertums war weit und keinesweg alltäglich. In der Mitte des 19. Jahrhunderts in Prag als  Jude  und als  Deutscher  aufgewachsen, durch doppelte nationale Feindschaft um so trotziger auf deutschen Geist und deutsche Sprache zurückgeworfen, begann MAUTHNER seine Bahn recht als "Literat", im unsicher schwankenden Sinne des Wortes.

Der junge Auch-Dichter schrieb begeisterte Sonette auf die Französische Revolution. Das rebellische und aufklärerische Wesen des "Jungen Deutschland" ist überhaupt für ihn bahnweisend gewesen, Feindschaft gegen die autoritativen Gewalten der Schule und Akademie, den Beamtenstaat und die Kirche hat er von früh an tief eingesogen. Und obschon er kein Mann eigentlich politischer Aktivität war, und wieder Künstler genug, einen BISMARCK zu verehren - diese Freiheitstendenzen haben ihn bis zum letzten Augenblick beherrscht.

Zum Dichter haben sie ihn kaum gemacht, sein außerordentliches Sprachgefühl stand zu sehr unter der Herrschaft seines Verstandes, bewußten Willens, als daß die dichterische Musik aus heiliger Dumpfheit hätte in ihm aufsteigen können. Um so besser vermochte er es, die falschen Töne zu erlauschen und zu fixieren, mit denen - im gründerischen Glanz des neuen Kaiserreiches - rein dekorative Talente Poesie vortäuschten. So wurde sein erster großer Erfolg die Reihe brillanter Parodien, die er unter dem Titel "Nach berühmten Mustern" veröffentlichte.

Den Wunsch und Versuch, selbst sich als Dichter zu behaupten, gab der bissige Satiriker fremder Impotenz lange nicht auf. MAUTHNER veröffentlichte eine ganze Reihe von  Romanen,  die durch eines solchen Schriftstellers Geist natürlich mehr als "unterhaltend" sind, aber doch ohne die schöpferische Musik, die Seelen bannt; er schrieb  Märchen,  sehr geistreich ersonnen - nur zu hell in der Bedeutsamkeit. Er war vielleicht am meisten Dichter, wo er am wenigsten seinen großen Ehrgeiz und am meisten sein Herz sprechen ließ: wenn er für seine Tochter (das einzige Kind seiner ersten, früh durch den Tod gelösten Ehe) ein Backfischbuch "Die erste Bank" hinplauderte oder wenn er die rührende Geschichte vom "Armen Franischka" erzählte, dem Slowakenjungen, der für sein gutes Herz - er prügelt einen Bürgersohn, der ein Pferd quält - ins Gefängnis kommt und es - nicht merkt; denn er hat es noch nie in seinem Leben so gut gehabt, so luxuriös! Er glaubt ein Art staatlicher Belohnung für seine gute Tat zu erhalten. Diese Geschichte, so schön, als ob sie von ANATOLE FRANCE wäre! verklärt vielleicht am reinsten eine im Grunde sehr bittere, echt MAUTHNERsche Ironie mit der Kraft des dichterischen Gefühls.

Es gibt auch ein fast unbekanntes, unrechter Weise nie gespieltes Theaterstück von MAUTHNER, "Skandal" betitelt. Für uns in der Form veraltet, französisches Gesellschaftsdrama, IBSENscher Energie sich nähernd, wäre es doch für seine Zeit eine sehr brauchbare Bühnenarbeit gewesen. Eine Schriftstellerarbeit, der versprengte Adern poetischen Goldes keineswegs fehlen. Es ist ein Stück mit der etwas bequemen zwanzigjährigen Pause in der Mitte: Die Mutter hat im ersten Teil die bürgerliche Gesellschaft davon zurückgeschreckt, den Mann ihres Herzens zu wählen; man hat sie mit dem Skandal eingeschüchtert und noch mehr mit der Drohung der Armut: "Ihr werdet von  einem  Teller essen, aus  einem  Glase trinken!" Da schauderte die in der Gewöhnung des Luxus schwach geartete Frau zurück, verzichtete und wurde elend.

Nach zwanzig Jahren steht die Tochter vor derselben Wahl, will mit einem freien, armen Künstler ihr Leben teilen; wieder wendet sich alles, auch die Mutter mit den gleichen Waffen gegen sie. Aber nun jauchzt dieses Kind einer freier, stärker gewordenen Generation diesen Drohungen die Worte entgegen: "So werden wir von  einem  Teller essen, aus  einem  Glase trinken!" Da ist die Mutter im Kern ihres Elends getroffen, sie gibt nach, läßt der Tochter die Bahn frei. Diese Wiederkunft des gleichen Wortes in gleicher Stunde, aber in verwandelten Seelen - es ist immerhin der Anschlag einer Dichterhand.

Seiner äußeren Lebensstellung nach war FRITZ MAUTHNER inzwischen Journalist in Berlin geworden. Ein Vierteljahrhundert schwamm er im Hexenkessel der neuen Reichshauptstadt obenauf. Er trat noch in den siebziger Jahren in den Dienst des neuen MOSESschen Verlages und war später bis in den Anfang des neuen Jahrhunderts hinein der Theaterkritiker des "Berliner Tageblatts". Sicherlich an geistiger Übersicht, kultureller Bildung, klugem Urteil und sorgsamer sprachlicher Prägung der erste des damaligen Berlin.

Durchaus merklich in den Anschauungen seiner Generation wurzelnd, hatte MAUTHNER doch allen guten Willen und viel feines Gehör für neue künstlerische Werte. Der revolutionären Gesellschaftskritik im Naturalismus kam er sogar mit seinem innersten Wesen entgegen; er wurde Mitbegründer der "Freien Bühne". Er hat aber für die Erkenntnis echter dichterischer und theatralischer Werke jeder Art mit deutender Kraft geworben, mit scharfem Witz leere schreiberische und spielerische Künste jeder Art böse getroffen und so sicherlich viel Gutes als Kritiker gewirkt.

Dennoch glaube ich nicht, daß MAUTHNER den wirklich großen "Kritikern" in Deutschland, der schmalen Reihe, die über LESSING, HERDER, SCHLEGEL, VISCHER in die Gegenwart führt, einzureihen ist. Seiner im ganzen weltläufig abgestimmten Kritik fehlt die zielende Leidenschaft im Mittelpunkt, die freilich beschränkt, aber auch allein schöpferisch macht. Die innerste Kraft dieses Schriftstellers kam nicht (wie beim Kritiker von wahrhaftem Beruf! in der Wertung von Kunstwerken voll in Schwung; sein Deutungswille zielte auf ein allgemeineres überästhetisches Objekt.

So war er dieser ausgezeichnete Theaterkritiker nur im Nebenamt. Bald sollte sich zeigen, wohin das Eigentlichste seiner Kraft strebte, das in Dichtungen und Kritiken bisher immer nur verhüllt, gelegentlich anleitend hervorgetreten war.

FRITZ MAUTHNER war ein sehr beschäftigter und angesehener Tagesschriftsteller; zugleich spielte der riesengroße schmale Mann - mit der mächtigen Hakennase und dem langen Bart wie ein alter Prophet, wie ein AHASVER anzuschauen - eine nicht geringe Rolle in der Berliner Gesellschaft. Obwohl - oder weil seine Gestalt so fremdartig aufreizend in ihr stand.

Seine Tage waren mit Berufsarbeit überfüllt, in vielen Nächten kam er erst spät in sein kleines Haus in Grunewald zurück. Aber er hatte sich ein Gesetz gemacht, an dem er Jahre, Jahrzehnte lang mit eiserner Energie festhielt: Niemals, zu welcher Nachtstunde auch immer er heimkehrte, ging er schlafen, ohne noch zwei Arbeitsstunden seinem eigentlichen Werk, seiner großen Aufgabe gewidmet zu haben.

Mit diesem Durchbruch eines eisernen Willens zur eigensten Bestimmung beginnt FRITZ MAUTHNERs Größe, in diesem Herausschneiden eines unabhängig gerichteten Lebens aus einer Berlinder Journalistenexistenz liegt der mittelste, der aufschlußreichste Zug seiner Biographie. In ein paar tausend solcher erlisteten, ersparten, ertrotzten, zäh verteidigten Nachtstunden ist das Buch entstanden, das bei Jahrhundertbeginn in den Läden lag und junge Leute schon durch seinen Titel erschütterte: die  Kritik der Sprache. 

MAUTHNER hat selbst einmal die drei wichtigsten Erwecker seines Werkes genannt: den OTTO LUDWIG der SHAKESPEARE-Studien, den NIETZSCHE der "Unzeitgemäßen Betrachtungen" und - BISMARCK! Man sieht: es ist kein Nihilist darunter; aber Erzieher zur Sachlichkeit, Feinde der Phrase, von Ehrfurcht geleitete Diener des Lebens, das sind sie alle drei. Und wenn nun MAUTHNER, als ein Schüler solcher Männer, mit großartigem Ingrimm daran ging, den dogmatischen Hochmut auszurotten, der auf allen Gebieten dem atmenden Leben die Luft abschnürt, so trieb ihn im Grunde kein zerstörender, kein todesfroher Sinn!

Er führt den Generalangriff auf alle Arten des Geisteshochmuts zugleich, indem er dartat, wie jedes Dogma der Religion wie der Wissenschaft am Wortkörper klebt und mit ihm zugrunde gehen muß, weil die Sprache "mit so viel Recht ein Verständigungsmittel genannt wird wie der Ozean völkerverbindend, weil ihn ab un zu ein Schiff, ohne zu scheitern, passieren kann".

So legte er die Axt an die Wurzel all dessen, was ihm Unheil schien. Der riesige Band war nur der erste Hieb, zwei weitere Bände sollten alsbald folgen. Und nun vertrug MAUTHNERs Leben die Teilung von Schein und Sein nicht mehr lange. Eines Tages ließ er die journalistische Position, die gesellschaftliche Stellung, Berlin und den Grunewald im Stich und ging davon - seinen Studien und seiner Arbeit zu leben. "Sie sind ein sonderbarer Mann!" rief ihm damals ein gescheiter Berliner Kollege in einiger Betroffenheit nach, "so viele haben schon gesagt, man müßte eine Kritik der Sprache schreiben - und Sie tun es wirklich! So viele haben gesagt, man müßte Berlin fliehen und sich selbst leben - und Sie tun es wirklich! Das ist nicht der Brauch."

In dieser Kraft der Verwirklichung steckt MAUTHNERs ganze Größe. Er ging zuerst nach Freiburg in Baden und von hier weiter weg von der Welt, in den Wald oberhalb von Meersburg am Bodensee in das "Glaserhäusle", das "kleine Haus, das fas vom Hang gleitet", wie die DROSTE das einstige Gasthaus besungen hatte. Hier lebte nun MAUTHNER; nicht allein, vielmehr mit seiner zweiten Frau, die er in Freiburg gefunden hatte - nicht mehr jung, von besonderem Schicksal, selbständigem Geist, persönlichster Bedeutung, eine erlesene Gefährtin dieser Einsamkeit. Denn sonst gab es da oben nichts als die Hunde, einen Pfau, die Hühner - und MAUTHNERs riesenhafte Bibliothek, die zu bergen ein alter Schuppen ausgebaut wurde.

Und hier lebte er nun zwei Jahrzehnte seinem Werk. Fern der Welt. Auch ihrer Eitelkeit? Von jener Naturkraft, die nach Schillers tiefem Wort Hohes und Niederes im Menschen verbindet, war auch in ihm ein reichlich Teil. Man merkte es am meisten an der Heftigkeit, mit der er bei jeder Gelegenheit gegen den Verdacht der Eitelkeit protestierte, und an seiner außerordentlichen Empfindlichkeit für Lob und Tadel jeder Art.

Und dennoch! Es kommt nicht darauf an, mehr als ein Mensch zu sein, sondert trotz sehr menschlicher Eigenschaften das Außerordentliche zu leisten! Ich weiß nicht, ob SPINOZA der Welt so abgestorben war, wie die Legende es will - immerhin fand man einen erlesen schönen Mantel in seinem Nachlaß, der Zorn über politische Mördereien konnte ihn fast zu gefährlicher Aktivität hinreißen, und über die Anwürfe rabbinischer und priesterlicher Feinde wir er auch nicht nur gelächelt haben.

MAUTHNER jedenfalls war durchaus kein Asket, sondern ein sinnlich beweglicher, sehr lebhaft lebendiger Mensch - aber die klar entschlossene Haltung, mit der er die zwei letzten Jahrzehnte seines Seins an sein Werk und an nichts sonst mehr setzte, hat doch etwas von der Würde des niederländischen Brillenschleifers. Es ist die Haltung eines großen Schriftstellers.

Es war  ein  Werk, dem MAUTHNER nun bis zur letzten Stunde diente. Den drei Bänden der Sprachkritik folgte das "Wörterbuch der Philosophie", das nur Befestigung, Ausbreitung, Verteidigung des dort Gefundenen an hundert Einzelpunkten war. Und schließlich (neben kleineren Arbeiten, die alle in der Sprachkritik mündeten) schuf der Siebzigjährige mit erstaunlichster Zähigkeit die vier Bände der "Geschichte des Atheismus im Abendlande" - im Grunde nur kritische Auseinandersetzung größten Formats mit dem weitesten, dunkelsten, verhängnisvollsten Wort der Sprache. In diesem Kampf gegen das Wort "Gott" brennt noch einmal die alte Haßkraft des alten Freiheistkämpers auf - die altmodisch vertrotzte Freigeisterei seines Anfangs spiegelt sich im Ende wider.

Aber es gab auch in jenen Jahren Werke, in denen man deutlich die Liebe heraufdrängen spürt, deren Widerspiel dieser Haß ist, und mit ihr zugleich alle dichterischen Kräfte seiner Natur. Die nun reiner wirken, weil er sie bewußt nur dienen läßt. In MAUTHNERs "Totengesprächen" ist manch köstliches Stück dieser Art; das schönste aber ist die ironisch zarte, heiterernste Umdichtung, Weiterdichtung, die er von den "Letzten Tagen des Gautama Buddha" geschaffen hat. Da fühlt man am meisten von dem Gottesfrieden, der  amor dei,  - "mehr als Vernunft beseligend" - die dennoch unter dem rastlosen Stürmen dieses Kämpfers und Atheisten gebreitet lag. Er wollte das bindende Wort nicht, weil er die namenlose große Sache kannte. Es war eine in sprödem Stolz gehehlte zärtliche Liebe, die die Vertreter der Weltweite so hassen konnte. Daß man ihn vom Altar eines Gotteshauses zu Grabe trug, das war doch nicht Ironie, sondern die allerletzte Wahrheit seines Lebens. (1923)
LITERATUR - Julius Bab, Über den Tag hinaus - Kritische Betrachtungen, Heidelberg/Darmstadt 1960