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GUSTAV GERBER
(1820 - 1901)
Die Sprache und das Erkennen
- I I -

Kritik der Sprache
Die Sprache als Kunst
"Ohne das Wort würde jede Gestaltung zerfließen, ehe sie ins Bewußtsein getreten; sie fände in der ausdehnungs-
losen Seele keinen Ort."


Wir haben bis jetzt Sprache und Erkennen so weit betrachtet, als die Bildekraft des Individuums und der Gattung durch die Vorgänge, welche  von außen her  auf uns wirken, zur Offenbarung und Herausstellung unseres Erkennens angeregt wird. Wir sprechen aber und erkennen, und jedes neu entstehende Individuum durchlebt in seiner Weise dieselbe Entwickelung des Erkennens, aufgrund unserer sinnlichen Wahrnehmungen, weil die  Bildekraft des Universums  sich in uns in diesen besonderen Leistungen  als Bildekraft der menschlichen Lebewesen  betätigt.

Gegeben also und nicht minder gegeben, als die Vorgänge in der äußeren Welt, sind unserem  Kennen  auch jene Vorgänge in uns selbst, an welchen die Entwicklung des Erkennens durch unsere besondere Bildekraft erfolgt, durch welche die Form des Bewußtseins überhaupt zustande kommt.

Wir  empfinden  zunächst diese Vorgänge in uns, so daß etwa von einer  innerlichen Wahrnehmung  gesprochen werden könnte; sie erzeugen weiter in ihrem Wirken auf die Seele ein bestimmtes  Gefühl,  dessen wir uns bewußt sind, ohne es doch in die Form des Bewußtseins zu bringen, so daß etwa gesagt werden mag, wir  erfahren sie innerlich. 

Die Sprache scheint indessen eine Unterscheidung zwischen diesen Vorgängen in uns und außer uns nicht anzuerkennen, denn sie bezeichnet im wesentlichen beiderlei Bewegungen, die durch die Sinne wahrgenommen, wie die, welche wir in unserer Seele erleben, mit denselben Wörtern. Wir  halten  den Stab in der Hand, und wir  halten  einen Gedanken in der Erinnerung; wir  betrachten  einen Entschluß aus irgend welchem  Gesichtspunkt, , und wir wählen irgend einen  Gesichtspunkt,  um ein Gemälde zu  betrachten. 

Das Wort bestimmt sich in seiner Lautgestalt wie in seiner Bedeutung erst innerhalb des Satzes für das Erkennen. Erst an dem so bezogenen  Worte  konnte auch die Scheidung zwischen sinnlicher und unsinnlicher Bedeutung sich vollziehen; die Bedeutung der Wurzel war nur so weit bestimmt, wurde so  gefühlt,  daß eben beide Richtungen sich aus ihr entwickeln konnten. Es ist aber nicht zweifelhaft, daß, wenn auch das Unsinnlich des Seelenlebens dem Erkennenden ebensowohl als gegeben sich bietet, wie das Sinnliche der Außenwelt, doch jenes nicht vor diesem wahrgenommen wurde.

Offenbar mußt ein Erkennen geistiger Tätigkeiten von den Menschen erst gesucht und tastend gewonnen werden, an denjenigen Gebilden, durch welche sie die Außenwelt sich nachgeschaffen, in denen eben ihre Seelenakte sich verkörpert hatte, an den Sprachbildern also, welche ihnen die Vorgänge des Universums vorstellten. Man kann sich nicht verhehlen, daß ohne Wörter, ohne die Sätze der Wahrnehmung, es zu einem  Erkennen  der geistigen Bewegungen niemals gekommen wäre, und daß dieses Erkennen - mag man es hoch oder gering anschlagen - an die Natur der Lautbilder gebunden blieb, an welchen es sich entwickelte.

Das Entstehen der geistigen Bedeutung eines Wortes neben der sinnlichen wird klar, wenn wir uns erinnern, daß es überhaupt ein Ding da draußen, dessen Wahrnehmung wir empfinden, gar nicht bezeichnet, sondern eben nur die Art der inneren Erregung zum Ausdruck bringt, welche von jener Empfindung erweckt wird. Hebt sich also ein Wahrgenommenes als Vorstellung in die Form des Bewußtseins, z.B. daß jemand einen bis dahin hinter ihm befindlichen Gegenstand  vorstellt,  so geben wir, indem wir dies aussprechen, von einem  Seelenakt  Kunde, verkörpern wir einen  geistigen Vorgang  in einem Lautgebilde.

Es verschwindet dieses Gebilde, sobald es verklang, aber innerlich wie äußerlich tritt es wieder hervor bei dem Hörenden, sobald ein Mund es wieder ausspricht. Wie nun aber ist jenes Innerliche beschaffen, welches der Laut als seine  Bedeutung  in uns wach ruft? Nun, es ist schon  gesagt,  wie es beschaffen ist, mit jenem Worte, durch welches er sich verkörperte. Der Seelenakt stellt vor ein " Vorstellen." 

Mit dem Ort da draußen, welcher die Empfindung veranlaßte zu jener innerlichen Erregung, steht das von uns geschaffene Wort in keiner weiteren Verbindung, als in der, welche wir ihm geben, wenn wir es weiter für unsere Zwecke  verwenden.  Für die Sprache an sich, für das Erkennen ist das Wort ein Lautbild, ebenso darstellend ein Art der Bewegung da draußen wie in der Seele; richtig aber ist, daß die Wahrnehmung durch die Sinne vorangehen mußte, damit dieses Lautbild geschaffen werden konnte, daß die Vorgänge da draußen es sind, an welchen wir die Vorgänge in uns erkennen lernen. Ohne diese Lautbilder aber wären wir selber unserem Erkennen verschlossen. Wie auch wollte man Zugang finden zur Seele, als durch die Sprache, welche sie selber erschafft,  damit  sie sich kundgebe?

Um zu erkennen, um ein Gekanntes in die Form des Bewußtseins zu bringen, muß es als ein  irgendwie Gestaltetes vorgestellt  werden können  an irgend welcher Stelle.  Beides bringt aber das Wort. Eine bestimmte Gestaltung empfing der Laut durch die Artikulierung, welche der Mensch ihm gab, und eben dadurch vollzog sich weiter die Ausbildung der Wurzel zum Worte, daß dem Laute von qualitativer Bedeutung ein formales Element hinzugefügt wurde mit dem Sinne des Deutens, so daß die Vorstellung, welche es vertritt, eine örtliche Bestimmung in sich schloß. Ohne das Wort würde jede Gestaltung zerfließen, ehe sie ins Bewußtsein getreten; sie fände in der ausdehnungslosen Seele keinen Ort.

KANT hat die Sprache einer Kritik nicht unterzogen; wie er sie vorfindet, bedient er sich ihrer unbefangen zur Konstruktion seiner Denkgerüste. Er zieht nicht in Betracht, daß, wenn sie ihm dabei einerseits wie selbstverständlich zu Diensten ist, sie andererseits doch seine Denkbewegung umgrenzt und bedingt, so daß er sie nur beherrscht, indem er ihr folgt. So spricht er überhaupt nicht von Sätzen, sondern nur von Urteilen - Urteile setzen ja eine fertige Sache voraus - und er kennt auch keine Wörter als Elemente des Wahrnehmungssatzes, sondern nur Wortbegriffe.

Bei den Ausführungen über den "Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" handelt es sich ihm in Wahrheit um ein psychologisches Verständnis der  Wortbegriffe,  und weiter darum, das  Zustandekommen der Satzform  zu begreifen und zwar so, daß sie als in einem Urteilssatz vorhanden vorgestellt wird.

Was nun zunächst die  Wortbegriffe  betrifft, so bemerkt KANT mit Recht, daß es  Bilder  nicht seien; es entspricht dies unserer Ausführung, daß Wortbegriffe nicht  vorgestellt  werden können. Durch Einführung des Wortes Schema statt des Wortes Bild aber wird die Sache nicht anders; auch ein Schattenbild ist immer ein Bild, wenn auch mit unsicherem Umriß. Wenn der Wortbegriff "Hund" es zuläßt, daß ich an einen Mops, einen Windhund, einen Pudel und überhaupt an Exemplare aller Hunderassen denke, so kann ich einen einzigen Mops, Windhund, Pudel u.s.w. mir vorstellen, aber weder ein Bild noch ein Schattenbild oder Schema kann etwas vorstellen, welches Mops, Windhund usw. zugleich wäre.

Es scheint, als verwechselt man leicht die Anregung, als welche der Laut des Wortbegriffs von der Seele empfunden wird, eine ihm entsprechende Vorstellung zu bilden, mit einer bildlichen oder schematischen Vorstellung selbst. Aber diese Anregung vollendet sich eben nie bis zu einem sich schließenden Bildeakt, sie bleibt ein "Begreifen", für welches der Sprachlaut das Zeichen gibt, und eine Richtung vorschreibt; eben dies ist das Wesen des Begriffs, daß er sich als Vorstellung nie verwirklichen läßt, obwohl er von einer Vorstellung ausgeht. Auch Aristoteles verwechselt so die Anregung mit dem abgeschlossenen Vorstellungsbilde.

Und man muß den Wald vor Bäumen nicht sehen, wenn man, was KANT als "Schema" suchte, nicht erblicken will als  gegeben.  Woran hängt denn der Begriff, als an seinem  Worte,  an dem Worte, welches nunmehr nicht mehr Symbol ist,  sondern Zeichen für den Begriff,  d.h. für ein Begreifen? - Ist denn nicht eben das Wort jenes gesuchte "Schema", welches " sinnlich"  ist dem erscheinenden Laut nach und " intellektuell"  zugleich seiner Bedeutung nach? Es hat ja auch weiter  der Mops überhaupt,  der Windhund überhaupt usw. nur eben an seinem Worte seine Existenz, und nur  durch dies  Wort erhält das Denken die Möglichkeit, den Begriff in alle Urteilsverbindungen einzuführen und so seine  Bedeutung  zu bestimmen.

Ehe wir indessen das Verhältnis des Erkennens zum Kennen und zum Gefühl genauer betrachten, versuchen wir uns über  das Wesen der Kategorien  größere Klarheit zu verschaffen. Es ist sowohl ARISTOTELES wie KANT, welche vorzugsweise über die Kategorien zu hören sind, zum Vorwurf gemacht worden, daß sie dieselben aus einem Prinzipe nicht abgeleitet haben. Über ARISTOTELES sagt TRENDELENBURG (Geschichte der Kategorienlehre):
"Es ist ein großer  Übelstand,  daß sich, soviel wir wissen, ARISTOTELES über den Grund des Entwurfs und über die Gliederung in zehn Begriffe nicht ausgesprochen hat, und wir können ihm daher - nicht nachrechnen."

Wenn es uns zwar aus manchen Anzeichen wahrscheinlich wurde, daß ARISTOTELES in der Tat der Erfindung einem grammatischen Leitfanden, der Zergliederung des Satzes folgte, um die allgemeinsten Prädikate zu bestimmen: so haben wir dadurch doch nicht mehr, als eben nur einen Leitfaden, einen allgemeinen umfassenden Gesichtspunkt - Wir erfahren nicht, wie ARISTOTELES dazu kam, gerade diese zehn und keine anderen und nicht mehr und nicht weniger Begriffe hinzuheften. Wenn wir uns diese dunkle Stelle durch eine Vergleichung der Redeteile aufzuhellen suchten: so war das mehr unsere Betrachtung und wir vermißten die genauen Gründe. Ferner ist dieser grammatische Leitfaden, die Zergliederung des Satzes,  dem Ausdruck des erscheinenden Urteils entnommen  und schon vom hervorbringenden Grund entfernt liegt er nur unserer Betrachtung zunächst."
Wir meinen, daß ARISTOTELES die Kategorien allerdings "dem Ausdruck des erscheinenden Urteils" d.h. der Sprache entnehmen mußte, wenn er seine Ableitung auf sicherem Boden vollziehen wollte, meinen weiter, daß sie geschehen mußte an dem Satze, sofern er Ausdruck eines Seelenaktes ist, nicht sofern er Form für das Urteil der Logik ist, und finden endlich den Mangel seiner Aufstellung darin, daß er den Satz als solchen  nicht  zergliederte.

Was aber die Schwierigkeit betrifft, eine Definition der Kategorien zu geben, so zeigt die Sprache, worin diese liegt. Sind nämlich die Kategorien lediglich Formen, so können auch ursprünglich qualitative Wurzeln für sie nicht gebildet worden sein, ihre Bezeichnung konnte nur sichtbar machen,  daß  sie beim Vorstellen und beim Denken vorhanden sind und irgendwie bestimmend einwirken, nicht aber,  was  sie sind.

In der Tat sind die ursprünglichen Bezeichnungen dieser Formen des Erkennens und der Sprache sämtlich Formwörter, Deutewurzeln,  und diese wurden gebildet, als formgebende, zugleich mit den Qualitativwurzeln, deren Inhalt, ein Geschehen, sie für die Vorstellung um einen Halt ordneten, auf den sie deuteten, weil die aufmerkende Seele von ihm aus ihr Vorstellungsbild zum Stehen brachte. Die Kategorie trat hervor, sobald die Bildekraft des Individuums sprechend und erkennend ihre Tätigkeit begann.

Die Kategorie der Substanz wurzelt im Gefühl des Ich, und das Ego geht zurück auf den Pronominalstamm a ; die Kategorien des Raumes und der Zeit, sowie der Kausalität führen auf Deutewurzeln, die lautlich nicht verschieden sind. HEYSE sagt: "Die Formwörter für die Zeit, und weiterhin die für rein geistige, logische (besonders kausale) Beziehungen entwickeln sich aus den Formwörtern des Ortes durch metaphorische Anwendung. Also auch hier, wie in dem Gebiete der Stoffwörter, vertieft und vergeistigt die Sprache die ursprünglich sinnlichen Vorstellungen auf dem Wege der Metapher. Vergleiche die örtliche, zeitliche und kausale Bedeutung von  da, daher, dann  (ursprünglich = von da, und in der Form  denn  begründet);  weil  (ursprünglich = während; Gleichzeitiges wird als durch einander begründet gedacht)."...
...Man sieht, daß die Kategorien des Erkennens und der Sprache nichts anderes sind, als die Elemente der Form des Bewußtseins. ...
LITERATUR, Siegfried J. Schmidt (Hrsg), Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl Band II, Stuttgart-Bad Cannstadt 1971