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WARREN M. ROBBINS
Allgemeinsemantik
Die Wissenschaft von der Sprache
als Ausdruck menschlicher Verhaltensweisen


Die Allgemeinsemantik entwickelt im Menschen die Fähigkeit, mit all seinen Sinnen - nicht nur mit Worten - zu erkennen, daß die Wortbilder, die er sich von der ihn umgebenden Welt macht, nicht mit der Welt  dort draussen  identisch sind und daß beides nicht miteinander verwechselt werden darf.

Durch die Flut von Propaganda und Literatur, die den Menschen unserer Zeit überschwemmt, hat die Welt der Worte für die moderne Gesellschaft nahezu größere Bedeutung erlangt als unsere natürliche Umwelt der Dinge und Sachen, und bereits seit längerer Zeit hat eine ständig wachsende Zahl von Wissenschaftlern und Gelehrten erkannt, daß viele unserer soziologischen Probleme in erster Linie auf Grund von unrichtiger Terminologie und unzutreffenden Formulierungen entstehen. Eine präzisere Ausdrucksweise und gründlichere Erkenntnis des zwischen den Dingen selbst und unserer Art, über sie zu sprechen, bestehenden Unterschiedes sind daher lebensnotwendig geworden, wenn wir nicht in dem Maße, in dem unsere Kultur und ihre Probleme komplexer werden, in noch größere Wirrnis geraten wollen.

Bei der Behandlung dieses Problems stellt der Begründer der Allgemeinsemantik, der verstorbene GRAF KORZYBSKI, in seinem 800 Seiten starken Buch "Wissenschaft und geistige Gesundheit" (Science and Sanity) folgende Frage: Wie kommt es, daß z.B. Ingenieure in der Lage sind, komplizierte Konstruktionen zu bauen und genau vorauszusagen, daß diese Gebilde nicht zusammenbrechen werden, während die sozialen Institutionen der Menschen ständig durch Zusammenbrüche in Form von Kriegen, Revolutionen und Krisen in Frage gestellt sind?

Er beantwortet diese von ihm aufgeworfene Frage mit der Feststellung, daß Ingenieure und Wissenschaftler eine besondere Sprache - die Mathematik - gebrauchen, wodurch die Konstruktion auf ihren Entwürfen mit der des fertigen Werkes auf das genaueste korrespondiert. Wenn eine Brücke dennoch einmal einstürzen sollte, so können die Ingenieure ihre Konstruktionspläne überprüfen und den Fehler herausfinden.

Dagegen sind wir Menschen nicht in der Lage, die komplexe Struktur unsrer gegenwärtigen Gesellschaftsform in der unzureichenden Struktur unserer Sprache wiederzugeben, die aus früheren primitiveren Kulturstufen überkommen ist, als die Schöpfer dieser Sprache noch keinen Begriff haben konnten von der Welt, wie wir sie heute kennen. Mit anderen Worten: Wir werden im Verständnis unserer heutigen Welt gehemmt durch die naiven Vorstellungen und Begriffe, wie sie uns durch den traditionellen Sprachgebrauch übermittelt werden, und wir müssen uns ganz bewußt daraufhin erziehen, die hemmenden Grenzen dieser überlieferten Sprache zu durchbrechen, um die Welt und uns selbst besser zu verstehen. Die moderne Wissenschaft hat diese Schranken bereits mit Hilfe der Mathematik durchbrochen; wir können es tun, indem wir uns in unserer Sprache und unseren Reaktionen auf das gesprochene und geschriebene Wort einer größeren Sorgsamkeit und Genauigkeit befleißigen.

Die Allgemeinsemantik - eine Wissenschaft von menschlichen Verhaltensweisen, bemüht sich um eine Bewertung der menschlichen Denksysteme, der Art und Weise, wie menschliche Wesen "philosophieren", stellt jedoch selbst kein philosophisches System dar. Da jede Philosophie - sei es die des einfachen Mannes oder des berufsmäßigen Philosophen - ihren Ausdruck in der menschlichen Sprache finden muß, sucht die Allgemeinsemantik Zugang zum Verständnis des Menschen als des einzigen zum Philosophieren befähigten Wesens über das Studium des Phänomens der Sprache. Mit anderen Worten, die untersucht die Sprache als eine Form des menschlichen Verhaltens.

Das tägliche Leben bietet viele Beispiele für fehlerhafte Relationen zwischen Karte und Gelände, die die Menschen zu sehr unwissenschaftlichem Denken und Handeln veranlassen. So sagte kürzlich eine deutscher Richter in einem Gerichtshof, wenn er einen Mann in einem ganz bestimmten Ledermantel erblicke, so wisse er, daß der Träger dieses Mantels ein ehemaliger SS-Mann sei.

Analysieren wir einmal diese Aussage: Der Richter sieht den Ledermantel (das Gelände) und bildet eine verbale Karte: "Dieser Mann ist ein SS-Mann". Es soll hier nicht die SS verteidigt werden, wenn darauf hingewiesen wird, daß der Richter folgende Einzelheiten übersieht: daß auch die Luftwaffe solche Mäntel tragen durfte, daß man derartige Ledermäntel nach dem Kriege aus Restbeständen kaufen konnte oder daß der Mann den Mantel vielleicht aus einer Kleiderspende bekommen hatte und daß diese Mäntel überhaupt wegen ihres Schnittes und ihrer Wetterfestigkeit bei vielen Menschen sehr begehrt sein könnten - trotz des ihnen durch die SS anhaftenden Makels.

In Wirklichkeit (im Gelände) mag der Träger eines solchen Mantels ein ehemaliger SS-Mann gewesen sein oder nicht. Auf der Karte ist er automatisch einer. Und je mehr die Menschen sich in ihren Urteilen von den Karten leiten lassen, umso weniger interessiert sie das Gelände, d.h. die Wirklichkeit. Diese Art unwissenschaftlichen Denkens führt dann zu größeren sozialen Tragödien, die in Kriegen und Verfolgungen gipfeln. Menschen, die blindlings derartigen Begriffsschemata folgen, die ihnen von der Presse, ehrgeizigen Politikern oder anderen skrupellosen oder mißgeleiteten Personen vorgesetzt werden, ohne zu prüfen, ob diese Schemata auch der Wirklichkeit entsprechen, verhalten sich noch nicht einmal gemäß ihrem menschlichen Denkvermögen, sondern reagieren auf Worte im Grund nicht anders, als ein gut abgerichteter Hund, der auf Kommando Männchen macht, Pfötchen gibt oder beißt.

Die Allgemeinsemantik bringt uns zum Bewußtsein, daß die Worte nicht dasselbe wie die Dinge sind; daß Worte etwas Statisches sind, während die wirkliche Welt sich in dauerndem Wechsel befindet; daß Herr Schmidt von heute nicht der gleich ist wie der Herr Schmidt des Jahres 1920 oder 1950, ja nicht einmal wie der Herr Schmidt vor zwei oder drei Wochen; daß zwei Dinge niemals die gleichen sind, auch wenn sie das gleiche "Etikett" tragen, seies es nun zwei Zahnstocher, zwei Volkswagen, zwei Deutsche oder zwei Juden; daß, wenn man der Ansicht ist, mit seinem Urteil "alles" über irgendetwas auszusagen, man in Wirklichkeit so gut wie gar nichts damit aussagt; daß Verallgemeinerungen immer irreführend sind und uns dazu verleiten, vorhandene Ähnlichkeiten zu betonen, während häufig gerade die Unterschiede bedeutsam sind; daß wir sehr vorsichtig sein müssen mit unserer Zustimmung oder Ablehnung, da unsere Urteilsaussagen meist nur Aussagen über andere Aussagen sind - die uns durch Hörensagen, Bücher, Rundfunk, Gerede usw. vermittelt wurden - und daß jede Wiederholung eine Verzerrung bedeutet.

Schließlich bringt uns die Allgemeinsemantik zum Bewußtsein, daß auch die Worte, die wir in diesem kurzen Abriß über die Allgemeinsemantik niedergeschrieben haben  (unsere  Landkarte) nicht das ganze Untersuchungsfeld der Allgemeinsemantik  (unser  Gelände) wiedergeben. Damit beantworten wir vielleicht einige der Fragen und Einwürfe, die bei der Lektüre dieses Artikels dem Leser in den Sinn gekommen sein mögen und deren entgültige Klärung einer späteren, eindringlicheren Untersuchung vorbehalten bleibt.

Sprache als Spiegelbild der menschlichen Entwicklung
In den 16 000 Jahren seiner kulturgeschichtlichen Entwicklung hat der Mensch sich selbst und seine Welt ständig verwandelt. Aber bis in die jüngste Zeit hinein haben Wissenschaftler und Philosophen - d.h. diejenigen, die die eigentliche Denkarbeit für uns zu tun berufen sind - diese vom Gebrauch der Sprache abhängende und nur dem Menschen eigentümliche Fähigkeit nicht richtig erkannt.

Oft sind Tiere, die auf einer verhältnismäßig niederen Stufe in der Reihe der Lebewesen stehen - wie z.B. Biber - zu ganz erstaunlichen Leistungen befähigt. Aber dieses Können wird lediglich vom Instinkt her gesteuert, mit Lernen im eigentlichen Sinn hat es nichts zu tun. Seit Millionen von Jahren, solange Biber existieren, haben sich ihre Lebensgewohnheiten wenig oder gar nicht geändert.

Bei höheren, unmittelbar unter dem Menschen stehenden Primaten, den Menschenaffen, wie Schimpanse, Gorilla und Orang-Utan, konnte man nachweisen, daß sie unter bestimmten experimentellen Bedingungen bereits gewisse elementare Verstandeshandlungen auszuführen vermögen. Aber nur im Menschen mit seinem Vermögen, Symbole zu bilden, und seiner Fähigkeit, den Bedeutungsgehalt dieser Symbole zum Gebrauch (oder Mißbrauch) an künftige Generationen weiterzugeben, tritt uns eine Lebewesen entgegen, das sich von Generation zu Generation verändert, weiterentwickelt und in seinem Können steigert. Das ist der Wesenskern des eigentlichen  Mensch -Seins.

Die vielen Beispiele, die man anführen kann, wo der Mensch sich nicht weiterentwickelt und gewandelt hat, sind keine Manifestationen der typisch menschlichen Natur, sondern zeigen, wie der Mensch sich auch entgegen seiner wesentlich menschlichen Eigenart verhalten kann.

Die Allgemeinsemantik wendet die wissenschaftliche Methode der Auswertung in einer für jedermann verständlichen Form auf die Situationen des alltäglichen Lebens an. Sie ist ein systematischer Versuch, die moderne Welt in Begriffen, wie sie uns unsere fortschrittlichsten Kenntnisse bieten, für den durchschnittlich Gebildeten verständlich zu machen.

Die Menschen verstehen ihre Umwelt auf Grund begrenzter "Abstraktionen", die sie sich von ihr machen und die dem Niveau ihrer Kultur oder ihrer eigenen persönlichen Erfahrung entsprechen. So waren frühere Generationen nicht in der Lage, den Begriff "Bakterien" aus ihrer sie umgebenden Welt herauszulösen. Da "Bakterien" für sie nicht "existierten", konnten sie verschiedene Krankheiten, die wir heute mit Bakterien in Zusammenhang bringen, nicht richtig behandeln.

In ähnlicher Weise vermochte der Mensch sich vor der Erfindung des Teleskops von der Natur des Weltalls keinen so entsprechenden Begriff zu bilden, wie wir es heute zu tun vermögen. Die Folge war, daß für den Menschen früherer Zeiten das Universum ein viel engeres, begrenzteres Gebilde war, als wir es heute sehen. FÜr den damaligen Menschen kam die Wirklichkeit der Welt nicht in der Realität der von der Wissenschaft systematisch begriffenen Fakten zur Darstellung, wie sie sich uns im Maße unserer erweiterten wissenschaftlichen Erkenntnisse mehr und mehr enthüllen, sondern jene von ihnen abstrahierten Begriffe galten ihnen als Wirklichkeit. Die Realität als solche wurde von ihnen mit den von dieser Realität gebildeten Abstraktionen verwechselt.

Das Herausheben des Menschen aus der ich-bezogenen Haltung des Primitiven zu einer umfassenderen, neuen Erkenntnissen offenen Weltbetrachtung, wie sie aus den gesammelten wissenschaftlichen Erfahrungen erwächst, entspricht der Entwicklung des Individuums vom Kinde zum reifen Menschen.

Der "Primitive", das kleine Kind und leider auch viele Erwachsene projezieren die Dinge, wie sie ihnen ihre Einbildungskraft erscheinen läßt, in ihre Umwelt, um sie dann aus ihr wieder als "Wirklichkeit" zu abstrahieren. Ein Beispiel dafür bietet sich unter vielfachen Formen immer noch haltende Glauben an Hexen, Feen, Kobolde, Geister und ähnliche Phantasieprodukte. Ein derartiger Glaube, der in früheren Jahrhunderten allgemein verbreitet war, findet heute im Lichte unseres modernen Wissens wenig Anhänger. Aber auch der Glaube an glückbringende Amulette, an die Kraft von Talismanen, an gute und böse Vorzeichen und was es sonst noch für Aberglauben gibt, gehört in die Kindheitsperiode des Menschengeschlechts und kann dem kritischen Blick des wissenschaftlichen Verstandes nicht standhalten.

Bei den hier angeführten Beispielen handelt es sich um die deutlichsten Formen dieser dem Menschen eigenen und seine geistige Entwicklung stets begleitenden Projektionsmechanismen. Weiß der Mensch um diese geistigen Vorgänge, so sind solche Projektionen durchaus normal, ist er jedoch nicht fähig, sie sich zum Bewußtsein zu bringen, d.h. kann er den Unterschied zwischen den Gegebenheiten in seinem Kopf und den nachprüfbaren Tatsachen der Außenwelt nicht erkennen, so unterscheidet er sich grundsätzlich nicht von dem geistig Kranken, der rosa Elefanten "sieht", fremdartige "Stimmen" hört und von Angstzuständen geplagt wird, weil er glaubt, er sei rings von Feinden umgeben.

Der zentrale Gedanke der Allgemeinsemantik läßt sich in folgender Weise zum Ausdruck bringen: Da des Menschen Verhalten zu sich und seiner Umwelt niemals auf den Dingen beruht, so wie sie wirklich sind, sondern immer nur auf seinen begrifflichen Fassungen - präzise oder unzulänglich, wie diese immer sein mögen - muß der Einzelne sich stets bewußt sein, daß diese seine abstrahierten Begriffe (in Form von Wort- oder Gedankenbildern), die seine Einstellung beeinflußen, nicht die Dinge oder Situationen selbst sind. Aus diesem Grunde befaßt sich die Allgemeinsemantik eingehend mit der Untersuchung, wie der Mensch entsprechend seinem Kulturniveau, seinem Kulturkreis, seinen persönlichen Erfahrungen, seinen gefühlsmäßigen Neigungen usw. seine Begriffe und Worte von sich und seiner Welt bildet.

Verdeutlichen wir uns das Gemeinte an einem sehr vereinfachten Beispiel: In der Tragödie fällt die unschuldige Heldin den Intrigen eines "Schurken" zum Opfer. Ihr "Vertrauen" beruht auf ihrer persönlichen, subjektiven Einstellung zu dem "Geliebten", die es ihr infolge ihrer beschränkten und naiven Abstraktionen unmöglich macht, den Bösewicht so zu sehen, wie er "wirklich" ist, z.B. in den Augen des "allwissenden" Publikums.

Etwas Ähnliches spiegelt sich in fast allen Situationen wider, bei denen menschliches Denken im Spiel ist. Die alltäglichen Konflikte und Mißverständnisse zwischen den einzelnen Menschen und zwischen Völkern zeigen nur zu deutlich, wie völlig verschieden Menschen und Völker die gleiche Situation begreifen - und dann notwendigerweise zu Meinungsverschiedenheiten kommen -, weil sie ihren verschiedenen Abstraktionen das gleiche Wortetikett zuordnen.

Die Bewußtmachung dieser Abstraktionsmechanismen - das eigentliche Ziel aller Untersuchungen, die die Allgemeinsemantik anstellt - wird durch die Subjekt-Prädikatstruktur der Sprache des westlichen Kulturkreises außerordentlich erschwert. Immer wieder hat sich erwiesen, daß die Wirklichkeit ansich nicht mit dem übereinstimmt, was der Mensch auf die verschiedenste Weise in seiner begrenzten Sprache zu beschreiben versucht. Da wir aber  sagen,  dieser Gegenstand ist so und so beschaffen, verhalten wir uns in unseren Reaktionen und Gefühlen so, als ob er auch in Wirklichkeit so sei, ohne uns über folgendes klar zu sein: Wenn wir denken, etwas "ist", so "ist" dies nur die Art und Weise, wie wir es abstrahieren, nicht, was es in Wirklichkeit ist. Aus diesem Grunde muß man das kleine Wörtchen "ist" als eines der größten Hemmnisse ansehen, die der geistigen Fortentwicklung des Menschengeschlechts im Wege gestanden haben.

Selbst auf unserer heutigen Kulturstufe besitzt der größte Teil der Menschen kaum Einsicht in die Art dieses Abstraktionsprozesses und verhält sich nahezu völlig unkritisch gegenüber der Frage nach der Gültigkeit und Brauchbarkeit persönlicher und bildungsmäßiger Abstraktionen, die von früheren Generationen überliefert wurden und kaum in Frage gestellt werden.

Eine kleine Geschichte, die hier angeführt sei, gibt in ihrem tieferen Sinn diese Situation des Menschen ganz treffend wieder:

Der Pförtner einer Fabrik hatte die Aufgabe, jeden Morgen punkt 6 Uhr die Fabriksirene in Gang zu setzen. Auf seinem Weg zur Arbeitsstätte ging er jeden Morgen an einem Uhrenladen vorbei, in dem ein Chronometer die genaue Zeit anzeigte. Nach diesem Chronometer stellte er seine Taschenuhr, und pünktlich um 6 Uhr ertönte das Sirenengeheul.

Nach vielen Jahren kam dem Pförtner plötzlich der Gedanke, dem Uhrmacher seine Anerkennung für die Genauigkeit seines Chronometers auszusprechen.

"Sagen Sie, mein Herr", fragte er den Uhrmacher, "wonach regulieren Sie eigentlich den genauen Gang ihres Chronometers?"

"Oh", antwortete der Uhrmacher, "die Uhr reguliere ich nach der Fabriksirene, die jeden Tag punkt 6 Uhr heult."

Die Psychologie der Sprache - Die Sprache der Psychologie
Das für den Menschen charakteristische Merkmal ist seine Fähigkeit zu sprechen. Mit ihrer Sprache haben die Menschen eine Kultur aufgebaut; ohne die Sprache wäre das niemals möglich gewesen.

Die menschliche Sprache ist grundverschieden von jeder Art Sprache, deren sich Tiere vielleicht bedienen; denn nur der Mensch benutzt Wörter als Symbole für die Dinge. Diesen Symbolen können die Menschen jede gewünschte Bedeutung zuordnen, und sie können diese Bedeutung willentlich gewissermaßen auswechseln, was tatsächlich dauernd geschieht. Für den Menschen kann das Wort zum Werkzeug des Denkens und Miteinanderlebens werden, die den Menschen in seinem inneren Wachstum hemmen und ihn hindern, sich zu einer geistig uns seelisch reifen Persönlichkeit zu entwickeln.

Viele Worte erregen die emotionale Sphäre unseres Selbst derart stark, daß unser Denken dadurch nahezu ausgeschaltet wird. Wenn wir mit affektiertem Stolz, Haß, Ekel oder ähnlichen Äußerungen auf gesprochene oder geschriebene Worte reagieren, ohne uns die Mühe zu nehmen, mit unserem Verstand zu prüfen, inwieweit sie gültig und richtig sind, dann gleichen wir in unserem Verhalten den Tieren, die man "aufs Wort" abgerichtet hat und die nun reflexmäßig auf diese Worte reagieren. Diese wahrhaft unmenschliche, ungeistige Tendenz unreifer Menschen wird von Demagogen immer wieder zur Stärkung ihrer Macht ausgenutz; doch fallen sie später meist der verführerischen Gewalt ihrer eigenen Wortblendereien zum Opfer.

Für das Tier ist das Wort das gleiche wie das Ding, das es bezeichnet. Tiere reagieren automatisch auf "Worte" - seieen es die ihrer eigenen Tiersprache oder solche, auf die zu reagieren sie dressiert sind. Tiere können nur mit solchen "Worten" einander verständlich machen, in denen der Bedeutungsinhalt im Lautgebilde selbst gegeben ist, wie etwa in den Warn-, Muttertier- und Paarungsrufen. Das Tier kann nicht lügen. Sie können einander nicht mit Worten täuschen wie die Menschen.

Menschen können sich Wortbilder von der sie umgebenden Welt machen und dann so leben, als ob diese Bilder die wirklichen Dinge selbst wären. Daraus erwachsen dem Menschen oft Schwierigkeiten. Sie beginnen, sobald die Wortbilder den Geschehnissen oder dem Gegenstand, den sie zu beschreiben meinen, nicht mehr genau entsprechen.

Die Allgemeinsemantik entwickelt im Menschen die Fähigkeit, mit all seinen Sinnen - nicht nur mit Worten - zu erkennen, daß die Wortbilder, die er sich von der ihn umgebenden Welt macht, nicht mit der Welt "dort draussen" identisch sind und daß beides nicht miteinander verwechselt werden darf. Ein Mensch, der sich dieses Unterschiedes nicht bewußt ist - und das sind die meisten von uns - wird, sobald er sich ein Geschehnis oder ein Ding mit Worten klarzumachen versucht, sich nicht mehr auf das Ding als solches beziehen, sondern auf das Wortbild, das er sich davon gemacht hat und das in den meisten Fällen nicht ganz genau sein kann, weil es unvollständig, durch die eigene Perspektive begrenzt ist.

Unsere Wortbeschreibungen für die uns umgebende Realität werden bestimmt durch die Kultur oder die Gesellschaftsform, der wir entstammen, durch unsere persönlichen Erfahrungen, unseren Sehmechanismus und unsere Gewohnheit, die Dinge zu sehen, sowie durch die Sprachen, die wir sprechen. Die "Realität" besteht in jedem geschichtlichen Augenblick aus der Gesamtheit der besten Wort-Bilder, die der Mensch in dieser bestimmten Epochen von seiner Außenwelt zu bilden und an ihr zu erproben in der Lage ist.

Alle Veränderungen und Entwicklungen der menschlichen Natur wurden durch die Sprache ermöglicht. Der Mensch zeichnet seine Kenntnisse mit Tinte und Druckerschwärze auf Papierblättern auf, und so ist jede neue Generation in der Lage, dort anzufangen, wo die vorhergehende die Feder aus der Hand legte. Nur der Mensch vermag die "Zeiträume" aneinander zu binden, d.h. er ist ein geschichtliches Wesen. Um ein Gegenbeispiel zu geben: Jede neue Katzengeneration muß wieder völlig von vorne anfangen. Darum wäre es den Katzen nie möglich, eine Kultur aufzubauen, selbst wenn sie sonst befähigt wären, erfolgreich zusammenzuarbeiten.

Aber trotz der Bedeutung, die die Sprache und ihre Auswirkungen für unser Leben haben, hat es bis in die jüngste Zeit kein eingehendes Studium der tatsächlichen Natur der  Sprache als einer Form des menschlichen Verhaltens  gegeben. Wir lernen Fremdsprachen, um sie in unsere eigene Sprache zu übertragen, wir befassen uns mit der Grammatik, als ob ihre Regeln irgendwie göttlichen Ursprungs wären und schon immer existiert hätten, unabhängig von den menschlichen Wesen, die sie vor Hunderten von Jahren festgelegt haben.

Wir können zwar die großartigsten Lexikon-Definitionen aufstellen; aber bis vor kurzem haben wir keinen ernsthaften Versuch gemacht, das Eigentliche - allen Sprachen Gemeinsame - herauszufinden, das die menschlichen Wesen, die sich als einzige ihrer bedienen können, veranlaßt, sich so zu verhalten, wie sie es tun.

Das Studium der Sprache als Schlüssel zum Verständnis des Menschen
Der Begriff "Semantik" ist im modernen Englisch zu einem gängigen Wort geworden. Alle Sprachforschung und das Studium der Bedeutung der Wörter bezeichnet man heute gewöhnlich als "Semantik". Derartige Studien hat man in Europa und Amerika seit mehr als hundert Jahren betrieben, jedoch bis in die jüngste Zeit ohne rechtes System.

Aus diesen mehr oder weniger unsystematischen Studien und Untersuchungen über die den einzelnen Wörtern zugrunde liegende Bedeutung hat sich eine besondere Wissenschaft entwickelt, die als Allgemeine Bedeutungslehre (general semantics) heute an vielen hundert amerikanischen Universitäten und Schulen gelehrt und gelernt wird.

In der Erkenntnis, daß der Sinn der Worte nicht in den Worten selbst liegt, sondern in den Menschen, die diese Worte gebrauchen, untersucht die Allgemeinsemantik die Art und Weise, wie die Menschen sich der Worte bedienen und wie sie sich zu den Worten verhalten. Da die zunehmende Komplexität der modernen Zivilisation den Menschen zwingt, sich mehr und mehr auf Wortsymbole zu stützen und zu verlassen, ist ein derartiges systematisches Studium lebensnotwendig, um dem modernen Leben Sinngehalt und Struktur zu verleihen.

Die Allgemeine Bedeutungslehre untersucht die Sprache als eine dem Menschen eigentümliche Verhaltensweise. Der Grundgedanke der Allgemeinen Bedeutungslehre ist der fundamentale Unterschied zwischen der Welt der Dinge und der Welt der Worte. So einleuchtend dieser Unterschied auf den ersten Blick hin erscheinen mag, so wird er doch von den meisten Menschen bei ihren Handlungen und Reaktionen selten klar genug erkannt. In der Tat lassen sich der Allgemeinen Bedeutungslehre zufolge viele Probleme und Konflikt unserer heutigen Welt auf fehlerhaften und ungenauen Gebrauch der Sprache zurückführen.

Das Hauptkennzeichen der "primitiven" Geisteshaltung ist die Unfähigkeit, zwischen den Vorstellungen und der Realität einen deutlichen Unterschied zu machen. Dieses Charakteristikum haben kleine Kinder mit den "Primitiven" gemein. Man sollte eigentlich erwarten, daß sie mit dem Älterwerden diese Entwicklungsstufe überwinden. Doch nach Ansicht manchen Soziologen werden sich viele in unserer modernen Kulturperiode lebende Erwachsene dieses Unterschieds niemals bewußt, und wir alle bringen irgendwann einmal unsere geistigen Vorstellungen (Worte) mit der Wirklichkeit (den Dingen) durcheinander. Damit verfallen wir in den Fehler einer kindlichen oder "primitiven" Verhaltensweise, die in unserer modernen schnellebigen Zivilisationn zu geistigen Schädigungen führt und für den Fortbestand sozialer Mißstände wie Krieg, Armut, Krankheit, Hungersnot usw. verantwortlich ist.

Die Sprache als Medium zur Übermittlung des Wissens von einer Generation auf die andere ist der eigentliche Baustoff unserer Kultur; sie ist zugleich der Strom, in dem sich "primitive" Gedanken und Vorstellungen erhalten haben und bis in unsere moderne Welt überliefert wurden. Mit anderen Worten: Die Sprache war von jeher das Mittel zur Ansammlung von Kenntnissen und Wissen, fruchtbarem, schöpferischem Wissen genau so wie von Irrtümern und falschen Vorstellungen. Wir dürfen den Einfluß der Sprache auf die menschliche Gesellschaft nicht unterschätzen, wenn wir den Menschen in seinem Verhalten zum Mitmenschen verstehen wollen.

Jeder einzelne muß sich darüber klar sein, daß er in zwei Welten lebt: der Welt, die er mit seinen Mitmenschen gemein hat und die heute 3,2 Milliarden Menschen umfasst, und seiner persönlichen Welt der Gedanken und Vorstellungen in seinem Kopf, durch die er die äußere Welt wie durch einen Filter aufnimmt. Die Welt der eigenen Vorstellungen und Gedanken ist eine Welt der Wortbilder, und in dem Maße wie sie der "allgemeinen Welt" der Dinge entspricht, wird der einzelne in der Welt, die er mit den andern gemein hat, zurechtkommen.

Der Geisteskranke, der sich für Napoleon hält, wird gewöhnlich in eine Anstalt geschickt, wo er ungehindert in seiner Vorstellungswelt leben kann. Aber die meisten von uns müssen sich bemühen, "ihre Welt" in ihrer Wortstruktur der Struktur jener Welt, wie sie die anderen Menschen sehen, so ähnlich wie möglich zu machen. Wenn die persönliche Vorstellungswelt eines Menschen der "allgemeinen Welt" nicht entspricht und er zu anderen Leuten darüber spricht, so wird man ihn als geistig unnormal bezeichnen.

Wollte man heute von Hexen und bösen Geistern als Wirklichkeiten sprechen, so würden einen die Leute mitleidsvoll ansehen. Aber noch vor wenigen hundert Jahren "existierten" Hexen in der "persönlichen Welt" so vieler einzelner, daß sie für eine große Zahl von Menschen Realität erhielten. Im 17.Jahrhundert war es durchaus üblich und daher "normal", an Hexen und böse Geister zu glauben. Heute ist es eine Art Geistesgestörtheit.

Für denjenigen, der mit seiner Kultur Schritt halten will, geht es also darum, seine persönliche Vorstellungswelt den neuesten Erkenntnissen anzugleichen. Das heißtt, er muß die Sprache seiner persönlichen Welt daraufhin durchforschen, ob sie den Dingen der äußeren Welt entspricht. Da sich unsere Sprache aber zu einer Zeit entwickelte, als die Menschheit noch sehr naiv war und wenig von dem sie umgebenden Kosmos wußte, ist sie in ihrer heutigen Form nicht mehr geeignet, die Welt so zu beschreiben, wie sie sich dem Verständnis unserer fortschrittlichen Gelehrten und Wissenschaftler erschließt. Und wenn wir auch die Sprache selbst, die ein Kulturphänomen ist, nicht einfach umwandeln können, so können wir uns doch ihrer Mängel bewußt werden und unsere Reaktionen entsprechend umschalten.
LITERATUR, Warren M. Robbins, Allgemeinsemantik - Die Wissenschaft von der Sprache als Ausdruck menschlicher Verhaltensweisen, in Amerikadienst US Information Service, Bad Godesberg, 1965