ra-2Schubert-SoldernI. RubinN. BucharinK. Marx    
 
TATIANA GRIGOROVICI
Die Wertlehre
bei Marx und Lassalle

[3/4]

"Ohne gesellschaftliches Bedürfnis kein Gebrauchswert, ohne Gebrauchswert kein Tauschwert."

II. Kapitel
Der Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeit
als des wertbildenden Faktors bei Marx und Lassalle

[Fortsetzung]

Und als nun KONRAD SCHMIDT aufgrund der Ausführungen von MARX selbst LANDÉ die Überzeugung beibringen wollte, daß nach MARX die Konkurrenz nicht die Macht ist, "welche das ideelle Wertverhältnis der Waren unmittelbar, sondern die dieses Verhältnis, modifiziert durch den jeweilig größeren oder geringeren Grad von Warentauschbarkeit, realisiert", (1) antwortete LANDÉ mit Recht, daß der Unterschied zwischen ihnen vor allem in der verschiedenen Auffassung des Begriffes der gesellschaftlich notwendigen Arbeit zu suchen sei. Denn, gibt man zu, daß unter gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit die "durchschnittlich notwendige" Arbeitszeit, das heißt die bloß im  technischen  Sinne gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zu verstehen sei, dann ist KONRAD SCHMIDT entschieden im Recht; gibt man aber zu, daß der Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit in sich auch das Bedarfsmoment enthält, dann ist es klar, daß "den Preisschwankungen durch die Konkurrenz, das heißt durch Wechsel in Angebot und Nachfrage, gleiche Wertverschiebungen entsprechen, daß somit von einem Widerspruch gar keine Rede sein kann." (2)

Nun fanden sich schon im 1. Band des "Kapital" Hinweise genug darauf, welche Rolle MARX der Konkurrenz, als wirtschaftlichem Faktor, zuschrieb; der 3. Band des "Kapital" aber, in welchem diese Frage besonders ausführlich behandelt wird, ließ nun keinen Zweifel mehr darüber zu, daß nach MARX die Konkurrenz, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, bloß auf die Preise und nicht auf den Wert der Waren wirkt, daß die Preise nur "in letzter Instanz" durch den Wert geregelt werden, unmittelbar aber mit dem Wert der Waren  nicht  zusammenfallen oder nur höchst selten, gerade dann, wenn Angebot und Nachfrage sich decken oder, mit anderen Worten, wenn ihre Wirkung aufgehoben ist. Dadurch wurde aber nicht bloß die irrige Anschauung LANDÉs über die Rolle, die der Konkurrenz nach der MARXschen Werttheorie in Bezug auf Wert und Preis zufällt, widerlegt, sondern es mußte dadurch auch seine Auffassung des Begriffs der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, als eines wertbestimmenden Faktors widerlegt werden, denn seine Anschauung über den Einfluß der Konkurrenz auf den Wert war eine logisch notwendige Folgerung aus seiner Auffassung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Erwiesen sich die Folgerungen als unrichtig, so wies das darauf hin, daß auch die Prämissen, aus denen sie gezogen waren, falsch sind.

Und trotzdem bewirkte es gerade der 3. Band des "Kapital", daß sich die Meinung, MARX ziehe das Bedarfsmoment in den Begriff der wertbestimmenden gesellschaftlich notwendigen Arbeit hinein, noch mehr bekräftigte. Was sich änderte, war bloß die Bewertung dieser Wertdefinition durch einige Anhänger der Marxschen Wertlehre. Während SCHRAMM, wie wir gesehen haben, eben darin "die hohe wissenschaftliche Bedeutung der MARXschen Werttheorie" sah, daß nach dieser Theorie die wertbestimmende gesellschaftlich notwendige Arbeit zugleich das technische und das Bedarfsmoment in sich enthält, zwang eben diese Auffassung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit einen anderen Schüler MARX', EDUARD BERNSTEIN, sich von der MARXschen Werttheorie loszusagen und sich der von LEO von BUCH aufgestellten Werttheorie anzuschließen, nach der zwei Arten von Wert: der  Arbeitswert  (bestimmt durch Arbeitslohn und Arbeitszeit) und der  Schätzungswert  (der Wert, den das Produkt auf dem Markt erzielt), streng auseinanderzuhalten sind. Hielt auch BERNSTEIN die BUCHsche Werttheorie nicht für ganz "einwandfrei", so schien es ihm doch "zweckmäßiger" zu sein, "mit zwei Wertbegriffen zu operieren, als einem und demselben Begriff eine Definition zu geben, die zwei einander neutralisierende Prinzipien einschließt, wie dies bei der "gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit der Fall" ist. (3)

Wie aus dem von uns bereits früher Ausgeführten zu ersehen, schlössen auch wir uns der Meinung BERNSTEINs an, wenn es tatsächlich richtig wäre, daß der Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeit bei MARX diese zwei einander ausschließenden Prinzipien enthielte. Ist das aber auch der Fall?

Unseres Erachtens entschieden  nicht.  Betrachten wir die Sache etwas näher!

Wenn SCHRAMM und seine Anhänger den Beweis führen wollten, daß MARX bei der Behandlung des Wertgesetzes die Bedeutung des wechselnden gesellschaftlichen Bedarfs für den Wert der Waren nicht unberücksichtigt ließ, so konnten sie sich die Mühe, den Begriff der gesellschaftliche notwendigen Arbeit selbst zu erläutern, wahrlich ersparen, denn die Definition, die MARX selbst dem Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeit gegeben hat, reichte vollkommen zu diesem Zweck aus. In dieser Definition heißt es nämlich ausdrücklich, daß man unter gesellschaftlich notwendiger Arbeit die Arbeit zu verstehen habe, die unter den vorhandenen gesellschaftlich normalen Produktionsbedingungen notwendig ist, um irgendeinen  Gebrauchswert  hervorzubringen. Wohlgemerkt, da heißt es nicht, um irgendein Produkt oder irgendein nützliches Ding, sondern um irgendeinen  Gebrauchswert  hervorzubringen. Das Wort "Gebrauchswert" aber, in diesem Zusammenhang gebraucht, als Träger des Tauschwertes, ist für MARX bei weitem nicht identisch mit dem natürlichen Gebrauchswert, mit der Fähigkeit eines Dinges, irgendein menschliches Bedürfnis zu befriedign. Wenn nach einem Produkt, das an und für sich noch so nützlich sein mag, kein gesellschaftliches Bedürfnis vorhanden ist, so hört das Produkt nach MARX auf, Gebrauchswert zu sein, das heißt trotz seiner Fähigkeit, ein  menschliches  Bedürfnis zu befriedigen, trotz seine  natürlichen  Gebrauchswertes ist das Produkt nicht imstande, ein  gesellschaftliches  Bedürfnis zu befriedigen, weil nach ihm kein gesellschaftliches Bedürfnis besteht, es hört auf,  gesellschaftlicher  Gebrauchswert zu sein und damit überhaupt Gebrauchswert als Träger des Tauschwertes. (4) Was also MARX unter Gebrauchswert in diesem Sinne versteht, ist nicht natürlicher, sondern  gesellschaftlicher Gebrauchswert  und nur als solcher kommt der Gebrauchswert für die Ware als Tauschwert überhaupt in Betracht.

Faßt man aber den Begriff "Gebrauchswert" in diesem Sinne, im Sinne des gesellschaftlichen Gebrauchswertes auf, dann ist es klar, daß schon in diesem Wort allein das Moment des wechselnden gesellschaftlichen Bedarfes mit enthalten ist; denn damit ein Produkt ein Gebrauchswert sei, muß ein gesellschaftliches Bedürfnis nach ihm vorhanden sein; damit also die Produkte, sagen wir eines Produktionszweiges, Gebrauchswerte sind, muß nach jedem einzelnen dieser Produkte ein Bedürfnis bestehen; mit anderen Worten: damit die Produkte eines ganzen Produktionszweiges Gebrauchswerte und folglich Tauschwerte seien, müssen sie in einer den gesellschaftlichen Bedarf nach ihnen nicht übersteigenden Menge produziert werden. Die Höhe der Produktion ist also im vorhinein begrenzt durch den gesellschaftlichen Bedarf, oder, was dasselbe ist, durch die Bedingung des Tauschwertes, vor allem Gebrauchswert zu sein.

Wenn daher MARX die wertbestimmende gesellschaftlich notwendige Arbeit davon abhängig macht, ob das durch diese Arbeit hervorgebrachte Produkt ein Gebrauchswert ist, wenn er ferner im ersten Band des "Kapital" davon spricht, daß der Gebrauchswert "Träger des Tauschwertes" ist (5), daß kein Ding Wert sein kann, "ohne Gebrauchsgegenstand zu sein", (6) daß die Waren sich zuerst "als Gebrauchswerte bewähren" müssen, "bevor sie sich als Werte realisieren können", (7) daß "die auf sie verausgabte menschliche Arbeit nur zählt, soweit sie in einer für andere nützlichen Form verausgabt ist" (8) usw., so beweist dies zur Genüge, daß MARX bei der Entwicklung des Wertgesetzes die Rolle des gesellschaftlichen Bedarfs wohl berücksichtigt hat. Und wenn SCHRAMM und seine Anhänger alle diese Stellen bei MARX ganz außer acht ließen, so konnte dies seinen Grund nur darin haben, daß sie entweder vom Begriff "Gebrauchswert" bei MARX eine falsche Vorstellung hatten oder es eingesehen haben mochten, daß sich aus ihm nicht die erwünschten Konsequenzen ziehen lassen.

Denn welche Rolle schrieb MARX dem Gebrauchswert in Bezug auf den Tauschwert zu? - Nur die, wie wir gesehen haben, "stofflicher Träger des Tauschwertes" zu sein. Nur in der Form eines Gebrauchswertes kann sich der Tauschwert im Zirkulationsprozeß realisieren. Gebrauchswert zu sein, ist daher eine selbstverständliche Voraussetzung jedes Tauschwerts. Aber damit ist die Bedeutung des Gebrauchswertes für den Tauschwert auch erschöpft. Der Tauschwert steht mit dem Gebrauchswert weiter in gar keinem Zusammenhang. Im Gegenteil, will man das Wesen des Tauschwertes untersuchen, seine Substanz und den Maßstab seiner Größe erkennen, so kann man das nach MARX nur, indem man eben vom Gebrauchswert der Waren abstrahiert.
    "... Gerade die Abstraktion von ihren Gebrauchswerten" ist es, "was das Austauschverhältnis der Waren augenscheinlich charakterisiert. Innerhalb desselben gilt ein Gebrauchswert gerade so viel wie jeder andere, wenn er nur in gehöriger Proportion vorhanden ist." (9)
Als Tauschwerte enthalten die Waren "kein Atom Gebrauchswert" (10) Was den Wert einer Ware ausmacht, ist einzig und allein die in ihr enthaltene abstrakt menschliche Arbeit (11) und nur das Quantum dieser in einer Ware enthaltenen "wertbildenden Substanz" - insofern es das zur Hervorbringung eines Produktes im Durchschnitt notwendige Quantum darstellt - nach der Zeit gemessen, bildet die  Wertgröße  der Ware. Wenn daher MARX die wertbestimmende gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als die Arbeitszeit definiert,
    "erheischt [erfordert - wp] um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen" (12),
so ist diese Formel nicht anders zu verstehen, als daß der Gebrauchswert - die  Voraussetzung,  die in der Ware enthaltene abstrakt menschliche Arbeit aber die  Substanz  und die auf die Ware verausgabte  technisch notwendige  Durchschnittsarbeitszeit den  Maßstab  des Tauschwertes bildet. Der Gebrauchswert ist somit zwar Träger des Tauschwertes, aber weder macht er das Wesen des Wertes aus, noch hat er auf die Wertgröße der Ware irgendwelchen Einfluß. Der Gebrauchswert der Ware ist bloß der Beweggrund, warum sie ausgetauscht wird, bestimmt aber nicht das Verhältnis, in welchem diese Ware gegen eine andere ausgetauscht werden kann, mit anderen Worten, er bestimmt nicht den Wert und die Wertgröße der Ware. Entweder ist die Ware kein Gebrauchswert für andere, dann fehlt natürlich der Beweggrund des Austausches, der Tauschwert der Ware kann nicht realisiert werden, die in der Ware enthaltene Arbeit ist nutzlos verausgabte Arbeit und kommt überhaupt nicht in Betracht oder die Ware  ist  Gebrauchswert und dann wird ihre Wertgröße  unabhängig  vom Gebrauchswert, einzig und allein durch die in der Ware enthaltene technisch notwendige Arbeit bestimmt. Ist somit der Gebrauchswert von größter Bedeutung für die Frage der  Realisierung  des Tauschwertes, so kommt er wieder als  wertbestimmender  Faktor, als ein Faktor, von dem die  Wertgröße  einer Ware abhängt, überhaupt nicht in Rechnung.

Zieht man nun in Betracht, daß das gesellschaftliche Bedürfnis nach dem Ausdruck von MARX nichts anderes ist als "Gebrauchswert auf gesellschaftlicher Potenz" (13), als gesellschaftlicher Gebrauchswert, dann ist es klar, daß MARX auch dem gesellschaftlichen Bedürfnis keine andere Rolle in Bezug auf den Tauschwert zuschreiben kann als die, die er dem Gebrauchswert zugeschrieben hat, das heißt die selbstverständliche  Voraussetzung  jedes Wertes (ohne gesellschaftliches Bedürfnis kein Gebrauchswert, ohne Gebrauchswert kein Tauschwert), nicht aber ein  wertbildender  Faktor zu sein.

Übrigens braucht der Beweis dafür, welche Rolle MARX dem gesellschaftlichen Bedürfnis in Bezug auf den Tauschwert zuschrieb, nicht erst auf indirektem Weg erbracht zu werden. Hat ja MARX im dritten Band des "Kapital" und zwar im Kapitel über den Marktwert, diese Frage selbst ausführlich behandelt. Und erst hier, bei der Behandlung des Wertgesetzes, wie es sich nicht bloß in Bezug auf einzelne Waren, sondern auf ganze Produktionszweige geltend macht, konnte diese Frage einer gründlichen Untersuchung unterzogen werden; denn, meint MARX mit Recht, ist es auch richtig, daß, wenn man sagt, "die Ware hat Gebrauchswert", dies bedeutet, "daß sie irgendein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigt" (14), so ist es andererseits klar, daß
    "solange wir nur von den einzelnen Waren handelten, wir unterstellen konnten, daß das Bedürfnis für diese bestimmte Ware - in den Preis schon ihr Quantum eingeschlossen - vorhanden sei, ohne uns auf das Quantum des zu befriedigenden Bedürfnisses weiter einzulassen. Dieses Quantum wird aber ein wesentliches Moment, sobald das Produkt eines ganzen Produktionszweiges auf der einen Seite und das gesellschaftliche Bedürfnis auf der anderen Seite steht." (15)
Und nun sehen wir zu, wie MARX selbst diese Frage löst.

Ebenso wie er im ersten Band des "Kapital" bei Behandlung des Wertes der einzelnen Ware vom Gebrauchswert absah, um das Wesen des Wertes, um den wertbestimmenden Faktor zu entdecken, sehen wir MARX auch hier bei der Behandlung des Wertproduktes ganzer Produktionszweige vom Bedarfsmoment abstrahieren, um das Wesen des Marktwertes, um den, wenn man sich so ausdrücken darf, marktwertbestimmenden Faktor herauszufinden und ebenso wie den Wert der einzelnen Ware läßt er auch den Marktwert der Waren eines ganzen Produktionszweiges sich durch die zu ihrer Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeit ist aber bloß die technische Durchschnittsarbeit, die bestimmt wird, "durch den Gesamtwert der Masse, der durch Addition der Werte der unter den verschiedenen Bedingungen produzierten Waren herauskäme und durch den aliqoten Teil [teilentgolten - wp], der von diesem Gesamtwert auf die einzelne Ware fiele." (16)

Selbstverständlich wird für den Marktwert der Waren bald die unter den mittleren, bald die unter den besseren, bald die unter den schlechteren technischen Bedingungen produzierte Warenmasse maßgebend sein, je nachdem die erste, zweite oder dritte Kategorie von Waren den größten Raum auf dem Markt einnimmt; der Marktwert der Waren wird also je nachdem bald höher, bald niedriger sein, aber in allen diesen Fällen ist das technische Moment, sind die technischen Bedingungen, unter denen die Waren hervorgebracht wurden, allein für die Bestimmung des Marktwertes maßgebend.

Erst nachdem MARX in dieser Weise die Bildung des Marktwertes erklärt hatte, warf er die Frage auf, unter welchen Verhältnissen dieser durch das technische Moment abstrakt bestimmte Marktwert sich auf dem Markt auch wird realisieren können und erst bei dieser Gelegenheit, bei der Frage der  Realisierung  des Marktwertes kommt MARX auf das zweite, auf das  Bedarfsmoment  zu sprechen.

Ist, meint MARX, die Nachfrage gerade so groß, daß sie die Warenmasse zu ihrem Marktwert absorbieren kann, fallen Nachfrage und Angebot zusammen, dann
    "wird die Ware zu ihrem Marktwert verkauft, welcher der drei vorhin untersuchten Fälle auch diesen Marktwert regulieren möge. Die Warenmasse befriedigt nicht nur ein Bedürfnis, sondern sie befriedigt es in seinem gesellschaftlichen Umfang. Ist dagegen das Quantum kleiner oder größer als die Nachfrage dafür, so finden Abweichungen des Marktpreises vom Marktwert statt" (17),
der Marktpreis steigt über oder fällt unter den Marktwert; Marktwert und Marktpreis fallen nicht zusammen. Was also das Verhältnis von Angebot und Nachfrage oder mit anderen Worte: das Bedarfsmoment, bewirkt, ist nicht eine Veränderung des Marktwertes, sondern bloß eine Abweichung der Marktpreise von den Marktwerten der Waren, obwohl im ersten wie im zweiten Fall der Anschein erweckt wird, als würde sich infolge des Wechsels des Verhältnisses zwischen Nachfrage und Angebot der  Marktwert  selbst geändert haben, indem im ersten Fall die unter den schlechteren, im zweiten die unter den besseren Bedingungen produzierte Ware den Marktwert zu regulieren scheine.

Der Marktwert der Waren steht in keinem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach diesen Waren. Der Marktwert wird ausschließlich durch das  technische  Moment bestimmt und das gesellschaftliche Bedürfnis kommt nur bei der  Realisierung  des Marktwertes in Betracht, bei der Bestimmung der Bedingungen, unter denen allein die Ware zu ihrem Marktwert verkauft werden kann, denn
    "damit eine Ware zu ihrem Marktwert verkauft wird, das heißt im Verhältnis zu der in ihr enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeit, muß das Gesamtquantum gesellschaftlicher Arbeit, welches auf die Gesamtmasse dieser Warenart verwandt wird, dem Quantum des gesellschaftlichen Bedürfnisses für sie entsprechen, daß heißt des zahlungsfähigen gesellschaftlichen Bedürfnisses". (18)
Aber eben der Umstand, daß man Deckung von Nachfrage und Zufuhr annehmen muß, damit die Ware zu ihrem Marktwert verkauft wird, meint MARX mit Recht, zeigt zur Genüge darauf hin, daß Nachfrage und Zufuhr von keinem Einfluß auf den Marktwert sein können.
    "Wenn Nachfrage und Zufuhr sich decken, hören sie auf zu wirken und eben deswegen wird die Ware zu ihrem Marktwert verkauft. Wenn zwei Kräfte in entgegengesetzter Richtung gleichmäßig wirken, heben sie einander auf, wirken sie gar nicht nach außen und Erscheinungen, die unter dieser Bedingung vorgehen, müssen anders als durch das Eingreifen dieser beiden Kräfte erklärt werden. ... Die wirklichen inneren Gesetze der kapitalistischen Produktion können offenbar nicht aus der Wechselwirkung von Nachfrage und Zufuhr erklärt werden, ... da diese Gesetze nur dann rein verwirklicht erscheinen, sobald Nachfrage und Zufuhr aufhören zu wirken, das heißt sich decken." (19)
Wenn daher MARX, um die Bildung des Marktwertes zu erklären, vom Bedarfsmoment, das sich in der Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage äußert, absieht, so abstrahiert er dabei nicht, wie EDUARD BERNSTEIN meint, von einem "wertbestimmenden Faktor", (20) im Gegenteil, er nimmt die Deckung von Angebot und Nachfrage an, um, wie MARX selbst sich ausdrückt, "die Erscheinungen in ihrer gesetzmäßigen, ihrem Begriff entsprechenden Gestalt zu betrachten, das heißt sie zu betrachten unabhängig von dem durch die Bewegung von Nachfrage und Zufuhr hervorgebrachten Schein". (21)

Wir sehen, was MARX hier in Bezug auf das gesellschaftliche Bedürfnis und seine Bedeutung für den Wert der Waren sagt, ist nichts anderes als das, was er schon im ersten Band des "Kapital", bei der Behandlung des Wertes der einzelnen Waren, in Bezug auf den  Gebrauchswert  ausgeführt hat, indem er nachwies, daß der Gebrauchswert zwar kein wertbestimmender Faktor, aber doch der Träger, die Voraussetzung jedes Wertes sei. Und in der Tat lassen sich die Abweichungen der Marktpreise von den Marktwerten, hervorgerufen durch die Differenz von Nachfrage und Angebot, auf dasselbe Gesetz des Wertes zurückführen, nach welchem der Gebrauchswert Voraussetzung jedes Wertes ist. Denn nehmen wir an, daß in irgendeinem Produktionszwei mehr Produkte hervorgebracht worden sind, als die Gesellschaft braucht, so werden die Waren zu einem unter ihrem Marktwert stehenden Produktionspreis verkauft werden müssen, und zwar aus dem Grund, weil ein Teil dieser Produkte, nach denen kein gesellschaftliches Bedürfnis vorhanden ist, aufgehört hat, Gebrauchswert zu sein und der in ihm enthaltene Wert daher nicht realisiert werden kann.

Nun ist es klar, daß die Bedingung des Tauschwertes, Gebrauchswert zu sein, sich bei einzelnen Waren etwas anders ausdrücken muß, als bei ganzen Produktmassen. Damit eine einzelne Ware Gebrauchswert ist, muß irgendein gesellschaftliches Bedürfnis nach ihr bestehen, damit aber eine Produkt masse  Gebrauchswert ist, muß sie ein  quantitativ bestimmtes  gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen; (22) denn übersteigt die Quantität der Produktmasse den nach ihr vorhandenen gesellschaftlichen Bedarf, dann wird ein Teil der Produkte nutzlos, sie hören auf, Gebrauchswert und damit Tauschwert zu sein. Läßt sich also die Bedingung jedes Tauschwertes, Gebrauchswert zu sein, bei der einzelnen Ware ganz einfach dahin ausdrücken, daß diese Ware  Gebrauchswert  sein, das heißt irgendein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen muß, so läßt sich dieselbe Bedingung in Bezug auf ganze Produkt massen  dahin umschreiben, daß sie in einer dem gesellschaftlichen Bedarf nach ihnen entsprechenden Menge produziert werden müssen. Glaubt man auch auf den ersten Blick es hier mit zwei verschiedenen Bedingungen zu tun zu haben, mit einer anderen in Bezug auf einzelne Waren und mit einer anderen in Bezug auf Produktmassen, so ist dieser Unterschied doch nur ein scheinbarer. Denn beide lassen sie sich auf ein und dasselbe Wertgesetz zurückführen, auf das Gesetz nämlich, nach welchem die Ware nur dann Tauschwert ist, wenn sie Gebrauchswert für andere ist.

Wenn MARX daher gelegentlich im dritten Band des "Kapital", in welchem er das Wertgesetz, wie es sich bei ganzen Produktmassen geltend macht, untersucht, die wertbestimmende gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als die Arbeitszeit definiert, "die erheischt [erforderlich - wp] ist, unter dem gegebenen Durchschnitt der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen das gesellschaftlich erheischte Gesamtquantum der auf dem Markt befindlichen Warenspezies zu erzeugen", (23) so entspricht diese Definition der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit vollkommen derjenigen im ersten Band des "Kapital", wo der Wert nur der einzelnen Ware untersucht wird und wo es heißt, daß man unter gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit die Arbeitszeit zu verstehen habe, die erheischt ist, unter dem gegebenen Durchschnitt der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen "irgendeinen Gebrauchswert" hervorzubringen. Der Ausdruck: "das gesellschaftlich erheischte Gesamtquantum zu erzeugen" in der ersten Definition der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, besagt nichts anderes als der Ausdruck: "irgendeinen Gebrauchswert hervorzubringen" in der zweiten Definition dieses Begriffs und ebensowenig wie man aus der Definition des Begriffs der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit im ersten Band des "Kapital" den Schluß ziehen kann, nach MARX der Gebrauchswert ein wertbestimmender Faktor sei, ebensowenig kann man aus der Definition dieses Begriffs im dritten Band des "Kapital" den Schluß ziehen, daß das gesellschaftliche Bedürfnis wertbestimmend sei. Im ersten wie im zweiten Fall kommt nur, wie wir gezeigt zu haben glauben, das Gesetz zum Ausdruck, daß der Gebrauchswert die  Voraussetzung  jedes Wertes ist, wertbestimmend aber bleibt im ersten wie im zweiten Fall einzig und allein das technische Moment, die in den Waren enthaltene technisch notwendige Arbeit.

Diese zwei Momente - das wertbestimmende technische Moment und das Bedarfsmoment - hält MARX mit Rücksicht auf ihre Bedeutung für den Wert der Waren in allen drei Bänden des "Kapital", besonders aber im dritten Band so streng auseinander, daß wir uns wundern müten, wie es geschehen konnte, daß gerade der dritte Band des "Kapital" zur Meinung beigetragen hat, MARX fasse das Bedarfsmoment als wertbestimmenden Faktor auf, wenn nicht folgender Umstand unseres Erachtens geeignet wäre, diesen Irrtum hervorzurufen.

Wenn man vom Verhältnis von Angebot und Nachfrage spricht, versteht man darunter das Verhältnis zwischen dem auf dem Markt vorhandenen Quantum von Produkten und dem gesellschaftlichen Bedarf nach diesen Produkten. Angebot und Nachfrage fallen zusammen, wenn von den Produkten genausoviel produziert wird, als die Gesellschaft kaufen kann und umgekehrt, Angebot und Nachfrage weichen voneinander ab, wenn die Produkte in einer größeren oder kleineren Menge hervorgebracht wurden, als die Gesellschaft braucht. Dasselbe Verhältnis von Angebot und Nachfrage kann aber auch anders dargestellt werden und zwar:  in Arbeitszeit.  Das Quantum der hervorgebrachten Produkte kann in der Arbeitszeit ausgedrückt werden, die die Gesellschaft auf ihre Hervorbringung verwendet hat, das gesellschaftliche Bedürfnins nach diesen Produkten - in der Arbeitszeit, die die Gesellschaft für sie zahlen kann und das Verhältnis zwischen diesen Quantitäten von Arbeitszeit bildet dann das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage.
    "Auf einer gegebenen Basis der Produktivkräfte der Arbeit erheischt in jeder besonderen Produktionssphäre die Herstellung eines bestimmten Quantums an Artikeln ein bestimmtes Quantum gesellschaftlicher Arbeitszeit, obgleich dieses Verhältnis in verschiedenen Produktionssphären durchaus verschieden ist und in keinem inneren Zusammenhang mit der Nützlichkeit dieser Artikel oder der besonderen Natur ihrer Gebrauchswerte steht. Alle anderen Umstände gleichgesetzt: Wenn das Quantum  a  einer Warensorte  b  Arbeitszeit kostet, so kostet das Quantum  na nb  Arbeitszeit." (24)
Dieses auf die Hervorbringung des bestimmten Quantums an Artikeln verwendete Quantum gesellschaftlicher Arbeitszeit bildet (da die gegebene Basis der Produktivität der Arbeit im vorhinein schon berücksichtigt wurde) den Marktwert dieser Produkte, gleichzeitig aber stellt sie das Angebot dieser Produkte dar.
    "Ferner: Soweit die Gesellschaft Bedürfnisse befriedigen, einen Artikel zu diesem Zweck produziert haben will, so muß sie ihn zahlen. In der Tat, da bei der Warenproduktion die Teilung der Arbeit vorausgesetzt ist, kauft die Gesellschaft diese Artikel, indem sie auf ihre Produktion einen Teil ihrer disponiblen Arbeitszeit verwendet, kauft sie sie also durch ein bestimmtes Quantum der Arbeitszeit, worüber diese gegebene Gesellschaft verfügen kann. Der Teil der Gesellschaft, dem es durch die Teilung der Arbeit zufällt, seine Arbeit in der Produktion dieser bestimmten Artikel zu verwenden, muß ein Äquivalent durch gesellschaftliche Arbeit erhalten, dargestellt in den Artikeln, die seine Bedürfnisse befriedigen". (25)
Das Quantum Arbeitszeit, das die Gesellschaft zum Kauf der bestimmten Produkte verwenden kann, bildet die Nachfrage nach diesen Produkten.

Entspricht dieses Quantum gesellschaftlicher Arbeitszeit dem Quantum, das auf die Hervorbringung der Produkte tatsächlich verausgabt wurde und unter den bestimmten Produktionsverhältnissen verausgabt werden mußte, dann fallen Angebot und Nachfrage zusammen und die Produkte werden zu ihrem Marktwert, das heißt im Verhältnis zu der in ihnen enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeit, verkauft.
    "Aber es existiert kein notwendiger, sondern nur zufälliger Zusammenhang zwischen dem Gesamtquantum der gesellschaftlichen Arbeit, das auf einen gesellschaftlichen Artikel verwandt ist, das heißt zwischen dem aliqoten Teil ihrer Gesamtarbeitskraft, den die Gesellschaft auf die Produktion dieses Artikels verwendet, also zwischen dem Umfang, den die Produktion dieses Artikels in der Gesamtproduktion einnimmt, einerseits und zwischen dem Umfang andererseits, worin die Gesellschaft Befriedigung des durch jenen bestimmten Artikel gestillten Bedürfnisses verlangt." (26)
Die Folge davon muß die sein, daß Angebot und Nachfrage sich oft nicht decken und die Produkte zu einem Marktpreis verkauft werden müssen, der unter oder über dem Marktwert steht.
    "Obgleich jeder einzelne Artikel oder jedes bestimmte Quantum einer Warensorte nur die zu seiner Produktion erheischte gesellschaftliche Arbeit enthalten mag und von dieser Seite her betrachtet der Marktwert dieser gesamten Warensorte nur notwendige Arbeit darstellt, so ist doch, wenn die bestimmte Ware in einem das gesellschaftliche Bedürfnis überschreitenden Maß produziert wurde, ein Teil der gesellschaftlichen Arbeitszeit vergeudet und die Warenmasse repräsentiert dann auf dem Markt ein kleineres Quantum gesellschaftlicher Arbeit, als wirklich in ihr enthalten ist. ... Daher müssen diese Waren unter ihrem Marktwert losgeschlagen, ein Teil davon kann selbst ganz unverkäuflich werden. Umgekehrt, wenn der Umfang der auf die Produktion einer bestimmten Warensorte verwandten gesellschaftlichen Arbeit zu klein für den Umfang des durch das Produkt zu befriedigenden besonderen gesellschaftlichen Bedürfnisses." (27)
Sollen daher die Waren zu ihrem Marktwert verkauft werden, so muß "der Umfang der gesellschaftlichen Arbeit, die zur Produktion eines bestimmten Artikels verwandt wird, dem Umfang des zu befriedigenden gesellschaftlichen Bedürfnisses" (28) entsprechen.
LITERATUR - Tatiana Grigorovici, Die Wertlehre bei Marx und Lassalle, Wien 1908
    Anmerkungen
    1) KONRAD SCHMIDT, Wert und Preis. Eine Antwort an Herrn HUGO LANDÉ, Neue Zeit, Bd. XI, 2. Heft
    2) LANDÉ, Die Profitrate, Neue Zeit, Bd. XI, 2. Heft
    3) EDUARD BERNSTEIN, Arbeitswert oder Nutzwert? Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus", Berlin 1901, Seite 372
    4) "Um Ware zu produzieren, muß er (der Produzent) nicht nur Gebrauchswert produzieren, sondern auch Gebrauchswert für andere, gesellschaftlichen Gebrauchswert." (Kapital I, Seite 7)
    5) MARX, Kapital I, Seite 2
    6) MARX, Kapital I, Seite 7
    7) MARX, Kapital I, Seite 52
    8) MARX, Kapital I, Seite 52
    9) MARX, Kapital I, Seite 3 und 4
    10) MARX, Kapital I, Seite 4
    11) "Ein Gebrauchswerte oder Gut hat ... nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist." (MARX, Kapital I, Seite 5)
    12) MARX, Kapital I, Seite 5
    13) MARX, Kapital Bd. 3, II., Seite 176
    14) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 164
    15) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 164
    16) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 163
    17) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 164
    18) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 172
    19) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 169
    20) EDUARD BERNSTEIN, Zur Geschichte und Theorie des Sozialismus", Seite 369
    21) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 169
    22) "Wenn ... der Gebrauchswert bei der einzelnen Ware davon abhängt, daß sie an und für sich ein Bedürfnis befriedigt, so bei der gesellschaftlichen Produktmasse davon, daß sie dem quantitativ bestimmten gesellschaftlichen Bedürfnis für jede besondere Art von Produkt adäquat und die Arbeit daher im Verhältnis dieser gesellschaftlichen Bedürfnisse, die quantitativ umschrieben sind, in die verschiedenen Produktionssphären proportionell verteilt ist." (Kapital, Bd. 3, I., Seite 175 und 176)
    23) MARX, Kapital, Bd. 3, II., Seite 180
    24) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 166
    25) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 166
    26) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 169
    27) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 166 und 167
    28) MARX, Kapital Bd. 3, I., Seite 167