ra-4Das Böse und seine FolgenHöhere Mysterien Zweiter Klasse    
 
  Zum tätigen Leben
ADAM WEISHAUPT

Es ist doch unleugbar, daß es in der Natur Dinge gibt, die nicht an sich bestehen können, die nur in und durch andere wirklich sind, die sozusagen die Prädikate von den Subjekten sind, an und in welchen sie existieren. Die Gedanken der Menschen sind von dieser Art; alle Form und Figur erfordert ein Subjekt, dessen Form oder Figur sie ist. Es muß also auch Dinge geben, welche dieses Subjekt sind, in und durch welche die Prädikate wirklich werden. Keine Zusammensetzung ist von dieser Art; keine derselben kann ohne Teile bestehen, welche diese Zusammensetzung gestalten; jede Zusammensetzung ist ein Prädikat, eine Eigenschaft dieser Teile, sie wird sogar durch diese Teile gewirkt. Jede Materie ist eine solche Zusammensetzung, jede Materie ist also nur ein Akzidenz, ein Prädikat von einem verborgenen Subjekt; dieses Subjekt kann unmöglich abermal zusammengesetzt, es muß immateriell sein. Diese immateriellen Wesen sind also die einzigen Kräfte der Natur; keine Materie als solche wirkt; alle Wirkungen der Materie sind also Wirkungen der immateriellen Kräfte, aus welchen sie besteht. Denken ist also unmöglich eine Eigenschaft der Materie; alle Eigenschaften der Materie sind Eigenschaften ihrer immateriellen Kräfte; und aus dem Dasein dieser Eigenschaften erkennen wir das Dasein dieser Kräfte.

Hier wären nun meine Gründe, welche ich allen materialistischen Systemen den feineren, wie den gröberen entgegen stelle; aber sie sind, wie jeder leicht gewahr werden kann, ganz im idealistischen Geschmack, und des gewinnt sogar das Ansehen, daß der Materialismus an den Idealismus seinen stärksten, wo nicht einzigen Gegner habe. Es scheint, daß, wenn die Wahrheit des letzteren auf eine unumstößliche Art dargetan werden könnte, der Materialismus vom Grund aus vernichtet würde. Oder wenn: alle Materie nichts reelles, wenn sie eine bloße Erscheinung, eine bloße Idee ist, wie ist es möglich noch weiter zu streiten, ob diese Materie denke, deren Wirklichkeit geleugnet wird? Dieser Ausdruck,  daß die Materie denkt,  würde also im Grund nichts weiter heißen;  als meine Vorstellung von der Materie denkt.  Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele würde dadurch unendlich gewinnen: neue, stärkere, sehr einleuchtende Beweise würden sich aus der bloßen Vernunft für diese Lehre darbieten, und da die Lehre von der Unsterblichkeit eine Grundlehre der Moral ist, so würde zugleich dabei die Sittlichkeit unendlich gewinnen.

So paradox aber auch das System der Idealisten scheinen, so sehr es allen Erfahrungen in unserem innersten Gefühl beim ersten Anschein widersprechen, und auffallen mag: so denke ich doch die Vorteile, die man sich davon versprechen kann, verdienen, daß ein Denker den Versuch wage, es näher zu prüfen und zu untersuchen. Ich bekenne gern, es ist nicht für alle Menschen: aber diese beruhigen sich sodann mit den Gründen der Religion. Diese leistet Ihnen diesen wesentlichen, so wenig erkannten Dienst, daß sie der Schwäche des größeren Haufens zu Hilfe kommt, daß sie über denselben Gegenstand vielen Menschen Gründe darbietet, die ihren Fähigkeiten sowie ihrem ganzen Fassungsvermögen angemessen sind. Der Denker erkennt dieses Verdienst der Offenbarung mit Dank: denn auch er hat seine Schwächen, so wie der Verstand des größten Weisen seine Schranken hat, wodurch seine Aussichten begrenzt werden. Aber eben das macht, daß er sich selbst kraft der Religion berechtigt glaubt, seine Kräfte so weit zu nützen, als sie ihm zureichen, ohne darum ihren hohen Wert in Rücksicht auf andere so wie auf sich selbst zu bezweifeln. Er fühlt sich berechtigt, seinen Vernunftbegriffen sowohl, als jenen der Religion den Grad von Gewißheit und Überzeugung zu geben, den seine Kräfte erlauben; er fühlt sich sogar verbunden, sich nicht bei einseitigen Beweisen zu beruhigen. Er, dem mehr gegeben ist, kennt die Pflicht, die kein schwächerer haben kann, die Gründe beider Teile zu vergleichen, eine Vereinigung zu versuchen und sich eben dadurch den höchsten Grad von Gewißheit zu verschaffen. Für ihn hat diese Untersuchung noch weitere Vorteile: sie dient ihm, den Stolz und Vorwitz des Menschen zu demütigen, ihn auf das, was ihm näher liegt, aufmerksamer zu machen, zum tätigen Leben aufzumuntern und von Spekulationsgeist, von Träumen und Verirrungen zurückzuhalten; sie dient ihm, den Menschen zu zeigen, was sie nicht wissen, was sie in diesem Leben auf keine Art jemals erfahren werden; sie dient ihm, manches ungereimte und willkürliche unserer Lieblingssysteme aufzudecken, Menschen vor Irrwegen zu warnen, die Herrlichkeit Gottes und seiner Werke auf eine neue eigene unwiderlegliche Art vor Augen zu legen, die Menschen bis an die Grenze allen menschlichen Wissens zu führen und ihnen begreiflich zu machen, daß sie, die sich auf ihre Vernunft so vieles zu gut tun, manches unbegreifliche ohne Ursache verlachen, daß vielleicht sogar gewisse Unmöglichkeiten sehr mögliche Dinge seien; sie dient ihm also eher, die Offenbarung zu bestärken, ihre Notwendigkeiten fühlbarer und anschaulicher zu machen, als solche zu entkräften.


LITERATUR, Adam Weishaupt, Materialismus und Idealismus, Nürnberg 1787