ra-4Fahrenheit 451Null-AxiomeGullivers ReisenEntenquak aus 1984    
 
HERMANN KASACK
Das große Netz

"Unsere Aufgabe", sagte er, "bestand und besteht darin, den Zustand Europas aller Welt als Film vor Augen zu führen."

Nach der Rückkehr von seiner letzten Reise wirkte Herr Friedrich verändert. Obwohl er keinerlei Andeutungen machte, vermutete Brigitte, daß er mit der Höchstperson eine entscheidende Unterredung geführt haben müsse. Der Zeitpunkt schien gekommen, die Bevölkerung über Sinn und Absichten des IFE (Institut für Europa) aufzuklären.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich eines Tages das Gerücht, es werden vor der "Glocke" ein Film gedreht. "Was soll das schon sein", meinten die Menschen, "die Nihilisten machen sich wichtig." Aber dann stellte sich heraus, daß tatsächlich eine Wagenkolonne vor dem Platz aufgefahren war, daß Leute mit Sonnenbrillen Kabel ausbreiteten, Gleitschienen legten, Scheinwerfer und große Silberblenden, die das Licht reflektieren sollten, vor dem Gasthaus aufstellten.

Waren die Menschen auch an Überraschungen gewöhnt, so stutzten sie doch, als sie die eifrig hantierenden Techniker und Arrangeure in eben jenen dunkelblauen Trainingsanzügen umherlaufen sahen, die den ausländischen Angehörigen des Instituts eigentümlich waren. Als Frau Metten später auf einem Plateauwagen drei weibliche Gestalten entdeckte und weiter beobachtete, daß Herr Friedrich, der wie Monsieur Denis eine Baskenmütze trug, den Kameraleuten bestimmte Anweisungen für die Aufnahmen erteilte, zweifelte sie keinen Augenblick mehr daran, daß das Institut hier eine neue Aktion einleitete. Vielleicht, dachte sie, sollten die theoretischen Ergebnisse, die die statistische Akademie zur Erforschung des menschlichen Mechanismus gesammelt hatte, jetzt praktisch illustriert werden.

Während der Vorbereitungen begab sich Herr Friedrich mit einigen Herren des Regiestabs zu der "Glocke", wo er die Nihilisten, die in gespielter Lässigkeit herumsaßen, mit einigen Worten ermunterte, sich möglichst ungezwungen zu benehmen. Man wolle, erklärte er ihnen, Aufnahmen für das Kulturarchiv des IFE machen. Es wäre hübsch, wenn sie beispielsweise die Zeremonie mit den Stühlen wiederholen könnten. Sie brauchten auch nicht vor Naheinstellungen zu erschrecken. Auf das, was sie redeten, käme es nicht so genau an, denn es läge in der Statistischen Akademie genügend Wortsalat für geeignete Einblendungen vor, außerdem werde der Film später für fremde Sprachen eingerichtet und synchronisiert. Herr Friedrich ließ auch Frau Metten bitten, später einmal ein Tablett mit Wassergläsern zu servieren, und veranlaßte den Wirt mit dem dekorativen Knebelbart, auf ein bestimmtes Zeichen hin verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen.

Inzwischen hatte man den Platz mit Seilen abgesperrt, weil sich immer mehr Außenstehende herandrängten. Gar zu gern hätten jetzt viele der nihilistischen Jugendgruppe angehört, die in das Scheinwerferlicht der großen Welt rückte. Einige versuchten sogar, indem sie sich das aschgraue N auf die Stirn malten, sich als Neu-Nihilisten unter die alten zu mischen.

Gedreht wurde in der Regel nur für wenige Minuten. In den langen Pausen, die sich zwischen die Kameraarbeit einschoben, diskutierten die Drei Damen mit den Herren des Filmstabs. Frau Metten hatte ihnen das Stammtischzimmer reserviert, damit sie sich dorthin jederzeit zu einer kleinen Stärkung, einem Imbiß, einer ungestörten Besprechung zurückziehen konnten.

Während Monsieur Denis nach dem Mittagessen erklärte, Herr Friedrich lasse viel zu viele Einzelheiten aufnehmen - schon jetzt zeige sich, daß mehr als neun Zehntel weggeschnitten werden müßten, weil die Gruppe der Nihilisten in dem Gesamtfilm nur eine winzige Episode bedeute -, War das Direktorium der Meinung, es könne für die rechte Auswahl gar nicht genug Material vorliegen. Die Drei Damen wiesen den französischen Experten darauf hin, daß man von Anfang an es bei allen Aufnahmen so gehalten habe, beispielsweise bei der umständlichen Verständigungsszene des Herrn Icks, auch bei den Versuchen, die die Panzerwagen mit der ausschwenkbaren Kamera in der Rohrverkleidung unternommen hätten. Bei einem Dokumentarfilm, der Europa zum Schauplatz habe, sei von vornherein damit zu rechnen, daß bis zu neunundneunzig Prozent des anlaufenden Materials unverwendet blieben.

Herr Friedrich stimmte den Drei Damen lebhaft bei. In gleicher Weise habe er auch das Manuskript seines Drehbuches angelegt, um den Improvisationen des Augenblicks genügend Raum zu lassen.

Die Drei Damen versicherten, sie würden keine Mühe scheuen, die Schneidearbeit künftig selbst vorzunehmen, und es sich nicht verdrießen lassen, durch immer wieder neue Schnite die getreueste Wirkung herauszuholen.

Erst kurz vor Mitternacht wurden die Aufnahmen vor der "Glocke" beendet. Herr Friedrich war zufrieden. Als die Wagenkolonne aus der Stadt zum Gelände des Palastes zurückfuhr, legte sich eine dünne Wolkenschicht über den Mond.

Nachdem die Nihilisten in den nächsten Tagen vergebens auf eine Fortsetzung der Aufnahmen gewartet hatten, schmolz die resignierte Gruppe rasch zusammen. Auch die Bevölkerung wandte ihre Aufmerksamkeit Vorgängen zu, die für sie viel aufregender waren.

Wie elend die Menschen auch aussahen, begannen sie doch herzhaft zu lachen, als es ihnen nach einer Weile wie Schuppen von den Augen fiel, daß alle Anstrengungen nur einem Filmunternehmen gegolten hatten. Sie lachten über ihre eigene Torheit. Denn Kummer und Sorgen, alle Mühen und Schrecken bildeten gar nicht den Inhalt ihres Lebens, wie sie angenommen hatten, sondern verfolgten nur den Zweck, die Wirklichkeit in bloßen Schein aufzulösen. Selbst das abgewetztke K leid war nur ein Kostüm. Wenn sie es nachträglich bedachten, reimte sich vieles zusammen, das zunächst so befremdend gewirkt hatte, angefangen mit den Plakaten, den Fragebogen, bis zur Einteilung in die verschiedenen Gruppen der Mitspielenden. Die Kategorie D, die bisher als Reserve in Ruhe stand, fühlte sich jetzt, da der Plan des ganzen offenlag, zu aktiver Erscheinung aufgerufen.

Die Leute mit den Sonnenbrillen und den blauen Anzügen, die der Volksmund bald die Kameraden oder auch die Kinoten nannte, streiften mit ihren Aufnahmewagen durch Stadt und Land. Der letzte Rest von Mißtrauen verlor sich, als von einem auf den andern Tag die Rationierung der Lebensmittel und Handelswaren aufgehoben wurde. Die Hausfrauen wollten es nicht glauben, daß es fast alles wieder gab, was ihnen so lange vorenthalten worden war. Das Magazin des IFE füllte Läden und Geschäfte auf. Schon boten die Schaufenster wieder mehr Üppigkeiten an, asl der Geldbeutel zu kaufen gestattete.

"Wer hätte das für möglich gehalten", sagten die Menschen. Selbst die Kleider und Anzüge und was ihnen sonst einmal abgenommen und beschlagnahmt worden war, konnten sie wieder in Besitz nehmen. Bei der Rückgabe ließen sich Irrtümer und Verwechslungen nicht vermeiden, aber eine sofort eingerichtete Stelle sorgte dafür, alle Schäden wiedergutzumachen. Da diese Einrichtung weder unter staatlicher noch unter anderer behördlicher Kontrolle stand, vielmehr aus einer karitativen Absicht entsprang, brauchte sie auchnicht nach Paragraphen zu entscheiden, sondern konnte sich nach dem gesunden Menschenverstand richten.

Sogar die Reisebeschränkungen wurden aufgehoben und die Grenzsperren gelockert. Jetzt, da sich niemand daran gehindert sah, das verfängliche Gebiet zu verlassen, machte kaum einer davon Gebrauch. Viel lockender schien allen die Aussicht, in jedem Augenblick gefilmt werden zu können und für alle Welt als Bild bewahrt zu bleiben.


In wenigen Wochen jährte sich der Tag, an dem sich Herr Icks dem Institut verschrieben hatte.

"Jeder Mensch", sagte er zu Brigitte, "macht sich so seine Gedanken. Man will schließlich mit sich ins reine kommen. Aber daß der ganze Aufwand nur einem Film dienen soll -"

Er führte den Satz nicht zu Ende.

"Man darf nur nicht aus der Rolle fallen", sagte Brigitte, um die Gesprächspause zu füllen.

"Und eigentich bin ich ein gläubiger Mensch", sagte Icks.

"Das", sagte Brigitte, "ist wohl Voraussetzung zum Leben."

Icks wand sich wie ein Wurm.

Die Tür öffnete sich. Herr Friedrich steckte den Kopf durch den Spalt. "Wollen Sie mir nicht ein Weilchen Gesellschaft leisten, Herr Icks?"

Icks ging in Herrn Friedrichs altes Büro. Später, als Brigitte ihnen eine Tasse Kaffee gebracht hatte, deutete Herr Friedrich an, daß das Amt eines Museumsleiters eine Verwendung als Assistent, als Regieassistent, um es bei dem rechten Namen zu nennen, nicht ausschließe.

"Warum nicht?" sagte Icks. "Nachdem sich mir langsam die Hintergründe entschleiern, kann ich auch in den Vordergrund treten."

"Es steuert auch sonst alles dem Höhepunkt zu", sagte Herr Friedrich.

Er erläuterte ihm, daß die sogenannten Festspiele die letzte Produktionsphase des Unternehmens bedeuteten. Wenn auch im Laufe des Jahres in aller Stille und Heimlichkeit beträchtliche Episoden gedreht worden seien, bliebe noch eine Reihe ergänzender Aufnahmen nachzuholen, die sich jetzt in aller Öffentlichkeit leichter durchführen ließen. Sobald die gesamte Bevölkerung begriffen habe, daß all ihr Tun und Lassen einem Kulturfilm gelte, werde sie auch über diese und jene Belastung hinwegkommen. Das Gelingen der Idee setze ein wohlwollendes Verständnis bei allen voraus, die die Komparserie bildeten.

Icks mochte mit Fragen nicht lästig fallen. Dennoch bat er Herrn Friedrich um einige Aufklärungen, damit er für seine neue Tätigkeit gewappnet sei. Warum habe man der Bevölkerung die großen Einschränkungen auferlegt und sie dann wieder aufgehoben?

Herr Friedrich lächelte nachsichtig.

"Unsere Aufgabe", sagte er, "bestand und besteht darin, den Zustand Europas aller Welt als Film vor Augen zu führen." Dazu gehörte es auch, Hunger und Unsicherheit, Armut und Angst sichtbar zu machen. Da sich die Verhältnisse der ersten Nachkriegszeit in dem uns zur Verfügung stehenden Kreis bereits normalisiert hatten, mußten die Voraussetzungen für eine echte Elendslage, wie sie noch anderswo besteht, künstlich geschaffen werden. Vielleicht" räumte er ein, "hat die Statistische Akademie einen zu großen Aufwand getrieben, um die Krisen- und Panikstimmung zu erzielen. Ich habe mich um die konkreten Vorbereitungen nur wenig kümmern können, weil ich genötigt war, das Drehbuch des Europafilms nach den Weisungen der Zentrale ständig zu ändern. Denn das IFE - der Internationale Film-Export - brachte immer wieder neue Wünsche vor."

"Internationaler Film-Export!" wiederholte Icks erlöst. "Klingt nicht schlecht. So also heißt die Firma, für die wir uns hier anstrengen."

"Gewiß", sagte Herr Friedrich. "Wäre aber der Name vorzeitig bekannt geworden, hätte niemand die kritische Lage ernst genommen. Dann wäre der gewohnte Kinozauber entstanden, die Illusion eines Lebens, das es gar nicht gibt. Deshalb verzichteten wir auch auf alle Atelieraufnahmen, auf die üblichen Tricks, auf künstliche Attraktionen. Darum konnten wir auch kein Stars gebrauchen, keine sogenannten Kinohelden. Die Voraussetzung für uns bietet eine zuverlässige Komparserie, die aus ahnungslosen Menschen besteht."

"Aber", wandte Herr Icks ein, "jetzt wissen doch alle Leute, daß es sich um einen Film handelt."

Das sei, meinte Herr Friedrich, nach Ansicht der höchsten Instanz im gegenwärtigen Zustand für sie das beste.

"Es gibt", sagte Icks, "also doch einen Auftraggeber?"

"Wir leben in einer realen Welt", sagte Herr Friedrich. "Was die Leinwand einmal zeigen soll, sind Ausschnitte des ungeschminkten Lebens."

"Eine unheimliche Idee", gestand Icks.

Herr Friedrich sah ihn spöttisch an. "Finden Sie einen Kontinent", sagte er, "der sich in einer ziemlich kritischen Lage befindet, nicht interessant genug, um ihn rechtzeitig in einem Filmdokument zu bewahren, wenn es auch Opfer kostet?"

"Vermutlich", erkundigte sich Icks, "ein abendfüllendes Werk?"

"Mindestens. Möglicherweise bringt man später das Ganze auch in mehreren Teilen."

"Verspricht sich", frage Icks weiter, "der Internationale Film-Export von diesem Objekt ein gutes Geschäft?"

"Das Geschäftliche", sagte Herr Friedrich, "dürfte wohl kaum ausschlaggebend sein. Hinter Projekt steht eine internationale Organisation, die durch freiwillige Beiträge einer großen Anzahl von Staaten, über fünfzig, soviel ich weiß, finanziert wird. Nein", ereiferte er sich, "eher liegt dem Unternehmen daran, mit diesem Film eine moralische Absicht zu bekunden. Ein letzter Versuch, das Gewissen der Beteiligten aufzurütteln."

"Ein merkwürdiges Experiment", sagte Herr Icks. "Wer weiß, was noch alles dahintersteckt!" Dann wollte er wissen, ob der Plan des Museums dadurch überholt sei.

Herr Friedrich versicherte, daß der Hominine Garten die Grundidee des Films bleibe, das Kernstück sozusagen.

Plötzlich stöhnte er auf. Er schluckte rasch zwei Kapseln, massierte mit den Händen den Unterschenkel, schlug ein paarmal ungeduldig sich auf das Herz. Sein Gesicht wurde fahl.

"Entschuldigen Sie", sagte er mühsam, "ein Gefäßkrampf."

Icks rief Brigitte aus dem Nebenzimmer.

"Soll ich eine Spritze machen?" frage sie. Herr Friedrich winkte ab.

"Es geht schon vorüber", sagte er. "Aber bitte starken Kaffee." Er streckte sich auf der Couch aus. "Mit einem Fragment", sagte er nach einer Weile, "könnte die Nachwelt wenig anfangen. Oder", wandte er sich an Herrn Icks, "würden Sie es sich zutrauen, den Film zu Ende zu bringen?"

"Kaum", sagte Icks.

Nachdem sich Herr Friedrich erholt hatte, erhob er sich und fuhr zum Palast, um sich den Streifen anzusehen, den die Drei Damen aus den letzten Aufnahmen inzwischen zurechtgeschnitten hatten.


Der Lokalsender unterrichtete seine Hörer laufend über die Vorbereitungen zu den Festspielen. Im Programm dieser Tage seien auch kriegsmäßige Manöver vorgesehen, die, wie jedermann zugeben werde, in einem Europafilm der Gegenwart nicht fehlen dürften.

Das Stadtoberhaupt war bestrebt, den veränderten Verhältnissen Rechnung zu tragen. Er hatte sich einen Plan ausgedacht, der dem Filminstitut einen lohnenden Stoff bieten konnte. Außerdem versprach sich das Stadtoberhaupt davon eine wirkungsvolle Reklame für den Fremdenverkehr.

So erblickte man eines Tages einen feierlichen Aufzug, der sich aus der Stadt auf der Landstraße zum Fluß hin bewegte. Hinter einer Blaskapelle, einem Wald von Vereinsfahnen, fuhr ein mit vier Ackergäulen bespannter Leiterwagen, der einen umfänglichen schwarzen Sarg trug. Eine neugierige Menge folgte, die immer wieder mit Schmunzeln die Inschrift des Sarges las: "Hier ruht der Geist des alten Europa."

Herr Icks kam mit einem Aufnahmewagen gerade zurecht, als der Zug die Flußbrücke erreichte. Die Kamera verfolgte sechs Jünglinge, die den Sarg auf ein Traggestell luden und bedächtig zur Mitte der Brücke trugen. Das Stadtoberhaupt betonte in einer Ansprache, daß das überlebte Europa mit seiner streitsüchtigen Kleinkrämerei in einem symbolischen Akt für alle Zeiten in die Tiefe des Wassers versenkt werden solle. "Wohlan!" rief er aus, "überantwortet den Sarg dem Fluß, damit ein neuer neuropäischer Geist in alle Herzen einziehen und darin Fuß fassen kann!" Mit diesem etwas ungeschickt gewählten Bild schloß das Stadtoberhaupt die sonst wohlgelungene Rede.

Er lüftete den Zylinder etwa zwanzig Zentimeter, und alle Anwesenden richteten sich danach. Das ergab eine stimmungsvolle Aufnahme. Dann schoben die Jünglinge die Attrape des Sarges über das Brückengeländer immer weiter vor. Durch die schräge Lage rutschten die im Innern der hölzernen Kiste liegenden Steine nach vorn, und dieser jähen Gewichtsverlagerung waren die Bodenbretter nicht gewachsen. Sie gaben nach, und die Feldsteine, die den schwarzen Kasten beschweren sollten, plumpsten vor ihm in das hoch aufspritzende Wasser. Die von ihrer Last befreite Hülle schaukelte, unter dem Gelächter der Zuschauer, mitten auf dem Fluß. Die Blaskapelle intonierte geistesgegenwärtig, von Baßtuba und Bombardon klangvoll unterstützt, die Melodie des Liedes "Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus", wie es sich für die Ausfahrt eines Schiffes geziemte.

Wenn sich auch, erklärte das Stadtoberhaupt sofort in einem Kamerainterview, die bildhafte idee nicht restlos habe verwirklichen lassen, bestehe an der redlichen Absicht mitzuwirken wohl kein Zweifel. Damit wies er auf die Motorboote hin, die dem ungeratenen Sarg nachjagten und das Treibgut wenn auch nicht zum Erliegen, so doch zum Abschleppen und damit außer Sicht brachten.

Als die Kopie dieser Szene in den nächsten Tagen Herrn Friedrich vorgespielt wurde, fand er sie zwar technisch gut durchgeführt, glaubte aber, daß die Oberste Zentrale sie später ausscheiden werde.


Aus dem Ausland trafen neue Gäste ein, eine illustre Reihe von Männern und Frauen, die sich mit dem bisher vorliegenden Material des Europafilms beschäftigen oder auch bei den letzten Aufnahmen mitarbeiten sollten. Experten aus aller Welt, so aus Indien, Kanada, China, Südafrika, Neuseeland, eine Delegation aus der Sowjetunion, ein Produktionsleiter aus Italien, ein schwedischer Regisseur, ein Vertreter des Verleihs für Südamerika. Die prominenten Beobachter wurden in den Pavillons der statistischen Akademie untergebracht, einige auch in den für diese Zwecke reservierten Zimmern des Landhauses. Die flogen nach zwei Tagen wieder heimwärts, nachdem sie in dem unterirdischen Laboratorium des Palastes Probeausschnitte angesehen und mit den Drei Damen erörtert hatten. Über die bisher geleistete Arbeit äußerten sie sich zurückhaltend. Sie stellten ihrerseits Aufnahmen von Streikunruhen, Hungerkrawallen, Zwangsdeportationen zur Verfügung, aber Herr Friedrich lehnte dieses Material ab, weil die Idee dadurch verfälscht werde.

"Es kam darauf an", führte er vor der kleinen Schar der Sachverständigen aus, "in einem mehr oder minder zufälligen Gebiet die allgemeine Problematik um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts aufzuzeigen. Darum wollen wir uns auch auf die Mittel und Kräfte dieses Kreises beschränken. Der Bevölkerung müssen wir den Glauben an eine Auswahlmannschaft des überall blühenden Homininen Gartens lassen, sonst könnten die Menschen mit Recht einwenden, über den Sinn ihrer Aufgaben getäuscht worden zu sein."

Herr Friedrich kamm dann auf das Besondere dieses Films und seine therapeutische Bedeutung zu sprechen. Das Neuartige beruhe ähnlich wie in modernen Romanen darauf, das Material unmittelbar der Gegenwart zu entnehmen, aber den Gehalt in überzeitlicher Form herauszustellen. Insoweit die Bilder zugleich als Sinnbilder der Realität aufzufassen wären, forderten sie Phantasie und Deutungslust des Zuschauers heraus. Der äußere Ablauf der Handlung sei bei diesem Kaleidoskop weniger entscheidend. Sobald nämlich der Zuschauer entdecke, daß die Abenteuer auf der Leinwand seine eigenen Gedanken und uneingestandenen Empfindungen spiegeln, werde die Parallele mit der Wahrheit hergestellt. Nicht der Film als Leben, sondern das Leben als Film könne das Kino zu einer Stätte der Wandlung machen, zu einer Station der Erkenntnis, zu einer neuen Stufe des Seins.

Wenn auch nur wenige Zuhörer den ironischen Sinn heraushörten, blieb doch die eine und andere Wendung haften.

Bei dem gegenwärtigen Film, sagte Herr Friedrich, ein Wort Brigittes zum Schluß aufnehmend, läge die Schwierigkeit darin, den Zustand der Komik, der höheren Komik zu begreifen, in dem sich fast alle Menschen und Institutionen befänden. Jede Komik aber trage Züge des Grausamen - vom betrogenen Ehemann bis zum betrogenen Volk.

Diese Ausführungen ergänzte Herr Friedrich noch am Abend im Landhaus vor einem größeren Kreis, zu dem auch Herr Icks gehörte.

Bei dieser Gelegenheit hieß Herr Friedrich einen neuen Gast aus Übersee willkommen, eine Frau in einem modernen Gesellschaftskleid mit halblangem, tütenartigen Rock, mit kastanienbraunen geringelten Haaren, einem schmalen, ebenmäßigen Gesicht, deren junger Mund einen spürbaren Anflug von Müdigkeit, einen Zug von Melancholie preisgab. Sie wurde mit aller erdenklichen Ehrerbietung begrüßt und von Herrn Friedrich als "Miss Europa" vorgestellt. Icks war überzeugt, daß er der Großen Unbekannten gegenüberstand, der legendenumwobenen Höchstperson - oder wie sie auch immer heißen mochte. Flüsternd machte er Brigitte auf diese Möglichkeit aufmerksam; sie warnte ihn, sich vorschnell festzulegen.

Herr Friedrich gab bekannt, daß die Frauenausschüsse sämtlicher an dem Internationalen Film-Export beteiligten Staaten aus einer Anzahl von Kandidatinnen nach sorgfältigen Vorbereitungen mit Zweidrittelmehrheit die Wahl einer Freien Miss Europa vollzogen hätten, um damit den Bemühungen um eine Renovierung der Alten Welt einen sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Mit dem hohen Amt sei die Bedingung verbunden, sich aller Äußerungen zu enthalten und in völligem Schweigen die Repräsentanz zu vollziehen. Miss Europa sei infolge eines Traumas stumm.

Diese Mitteilung erweckte übereinstimmendes Mitleid mit dem hohen Gast und bei Herrn Icks auch ein ehrliches Bedauern darüber, daß sich dieser Mund nie zu einem erlösenden Wort, zu einer Botschaft öffnen würde.

"Sie ist es bestimmt", sagte er zu Brigitte, nachdem Miss Europa, von Herrn Friedrich begleitet, die Gesellschaft wieder verlassen hatte, "denn nur höchste Instanzen pflegen zu schweigen."

Brigitte gab ihm zu verstehen, daß sie künftig auch den Mund zu halten wissen werde. "Vielleicht bin ich dann in deinen Augen die Hauptperson."

Aber Icks war nicht zu Scherzen aufgelegt. Er spürte die verhaltene Nervosität, die der Internationale Film-Export verbreitete, von Tag zu Tag stärker. Ohne daß es ihm bewußt wurde, begann er alles, was sich im täglichen Leben abspielte, mit dem Auge der Kamera zu sehen. Jeden Vorgang nahm er nur noch im Hinblick auf seine Bildwirkung wahr. Alle Menschen wurden ihm zu Leinwandfiguren.

Allmählich füllten sich auch die Kojen des Homininen Gartens. Während einige Figuren noch zu Hause wohnten und ihre Glaskäfige nur für die vorgesehenen Stunden der Besichtigung aufsuchten, waren die meisten schon in das Fremden- und Verkehrsamt übersiedelt, wo ihnen im Dachgeschoß für die Freizeit Gemeinschaftsräume zur Verfügung standen. Im Beisein von Herrn Icks nahmen Filmleute sämtliche ausgestellten Personen in Bild und Ton auf. Dabei zeigte sich, daß wohl alle glücklich und erleichtert waren, weil sie sich keine Sorgen um den Alltag und keine Gedanken mehr darüber zu machen brauchten, was außerhalb des Glaskäfigs vor sich ging.

Icks beneidete die Objekte um diese Geborgenheit, in der sie jeder Entscheidung und jeder Verantwortung enthoben waren.

Er stieg in seinen Wagen, fuhr langsam durch die Straßen und hielt vor der Drogerie am Postplatz. Es war am späten Nachmittag, kurz vor Geschäftsschluß. Lächelnd begrüßte er Frau Kabis.

Er komme nur eben so vorbei, meinte er und erinnerte daran, wie er vor einem Jahr ihr Geschäft zum erstenmal aufgesucht habe, damals noch in dem Glauben, Reisender für luxuriöse Parfümerieartikel zu sein. Aber das, was sie ihm damals erzählt hätte, habe sicher dazu beigetragen, daß er hier hängengeblieben sei. Ob es gut oder schlecht, günstig oder irrtümlich gewesen sei, wolle er offenlassen.

Frau Kabis, wie immer im sauberen weißen Kittel, ließ den Rolladen vor der Tür herunter und setzte sich auf einen Schemel zu Herrn Icks vor den Ladentisch.

"Ich bin nicht mehr die gleiche", sagte sie, "nach der Geschichte mit meinem Sohn."

"Wie geht es ihm?"

Es gehe ihm besser, erwiderte sie, Dr. Lattig tue im Krankenhaus für ihn, was er nur könne. Aber der Krampf im Kopf, den er sich durch die Vergiftung im Schulungslager zugezogen habe, scheine zu bleiben.

Icks versuchte sie damit zu trösten, daß andere, die damals auch erkrankten, wie der Volksbibliothekar oder der Friseur Tiedke, inzwischen wieder gesund geworden seien. Aber es sei natürlich betrüblich, daß der Rudolf jetzt, da der große Film das Leben bestimme, nicht dabei sein könne.

Frau Kabis schüttelte den Kopf. Sie sei froh, daß er damit nichts zu tun habe. Sie stehe dem Institut sehr skeptisch gegenüber - denn so nenne sie das böse Unternehmen noch immer, wenn es sich auch jetzt als internationale Filmgesellschaft aufzöge. Ihr bleibe nicht verborgen, daß hinter dieser Fassade etwas Ungreifbare seine Tatzen ausstrecke, die noch alle hier zerreißen würden. Er möge nur an das Sinnbild der Sphinx denken.

Herr Icks fand diese Ansicht übertrieben.

Die Sphinx, erläuterte er ihr, sei das Markenzeichen der Firma. Wie beispielsweise eine andere Filmgesellschaft der von ihr gedrehten Wochenschau als Zeichen einen Löwen voranstelle, der in einer lustigen Trickaufnahme seine gewaltige Mähne schüttele und brüllend den Rachen aufreiße, so pflege der Internationale Film-Export seiner Produktion eine Sphinx voranzustellen, die dann ein paarmal mit den Tatzen zuzuschlagen hätte, ohne eine Miene zu verziehen. Das nehme sich sehr gut aus.

"Kann sein oder nicht", sagte Frau Kabis, "mir reicht's! Das alles meint nichts als Menschenfang, Zeitfang, Weltenfang! Der liebe Gott lacht darüber, wie die Menschen vergeblich nach einem Ausweg aus dem Irrgarten suchen!"

"Götter spotten immer gern", sagte Herr Icks und dachte bei dieser Äußerung unwillkürlich, ob die Statistische Akademie wohl dieses Wort noch seinen "Gesammelten Aussprüchen" hinzufügen werde.

"Wir wollen nicht philosophieren", sagte sie. "Man glaubt oder glaubt nicht. Man heuchelt mit Worten oder macht es stumm durch sein Leben ab. Wie die Rechnung aufgeht, weiß keiner."

Icks hätte in diesem Augenblick alles in der Welt für ein Mikrophon gegeben; aber er hoffte, daß eine der vermutlich auch hier eingebauten Geheimvorrichtungen das Gespräch auf Band festhielt.

"Gibt es von Ihnen, Frau Kabis", erkundigte er sich, "schon Großaufnahmen?"

"Nicht daß ich wüßte."

"Das werden wir morgen nachholen", sagte er. "Damit nichts verlorengeht. Die Techniker setzen dann später Ihre Worte ein."

"Ich verstehe davon nichts", sagte sie. "Aber es trifft schon zu, daß unsereins nur Einzelheiten behält, Szenen, Aufregungen, die im Grunde nie gelohnt haben, Erwartungen, Enttäuschungen, die später nur belanglose Pannen waren. Das geht jedem so, und wenn einer alt genug ist, weiß er es, und wenn einer weise ist, setzt er es im Leben um."

"Sie könnten meine Mutter sein", sagte er.

"Aber Sie, Herr Icks, höchstens mein Schwiegersohn, und da ich keine Tochter habe, besteht dafür wenig Aussicht."

"Es gibt", sagte Icks schlagfertig, "auch Adoptivkinder."

"Schmeichelei in Ehren", sagte sie und lenkte das Gespräch auf jene Lebewesen, die auf das Konto von Professor Harrits Wissenschaft kämen. "Er nimmt", sagte sie, "einen Irgendjemand, der nun wie ein Abraham dazu verhilft, ungezählte Nachkommen anonym in die Welt zu setzen. Sonst jedenfalls kamen immer Mädchen und Frauen zu mir in die Drogerie gelaufen, als ob ich die Hilfsquelle wäre, und fragten nach einem Tee, einem Absud, einem Pülverchen, das sie von den Folgen befreit. Einmal so, einmal so. Da soll sich einer mit der Weiblichkeit auskennen!"

Aus ihren Andeutungen ging für Icks hervor, daß auch Dorothee Mey auf diese Weise nachholte, was der seit so vielen Jahren als vermißt gemeldete Verlobte ihr als Daseinsbeweis schuldig geblieben war. Niemals hätte die Lehrerin, ein nüchtern-wissender Mensch, so schwatzte Frau Kabis, sich einem anderen Mann hinzugeben vermocht; sie wollte nur das Erbe rechtfertigen; insofern treffe die neue Methode oft das Rechte. Auch bei Martha läge es ähnlich. Der Glockenklöppel schiene unfruchtbar zu sein. Alle Wallfahrten hätten nichts genutzt. Sonst wisse sie nicht, wer beteiligt worden sei. Für junge Mädchen, wie die kleine Sandner Elke, sei es nur Mode gewesen. Sie habe sich inzwischen schon bei ihr nach Tees erkundigt. "Warum dann erst das Kunststück", sagte sie. "Nun, alles was man tut oder läßt, ist ein Lotteriespiel. Das Leben besteht aus Zufallsprodukten."

"In der Filmsprache", belehrte Icks geflissentlich, "bezeichnet man solche Einfälle als Gags."

Frau Kabis stand auf.

"Womit", fragte Icks beim Abschied, "werden Sie Ihre Schaufenster zum bevorstehenden Volksfest dekorieren?"

Das habe sie sich noch nicht überlegt, meinte sie. Aber es werde ihr schon etwas einfallen.

Nachdem sich Herr Icks noch eine Tüte Hustenbonbons gekauft hatte, ging er, zufrieden vor sich hin pfeifend, von dannen. Einmal auf dem Wege durch die Stadt, fuhr er noch zur "Glocke".

"Ich dachte", begrüßte ihn Frau Metten, "Sie wären längst in den Aufregungen des Films ertrunken, weil Sie sich gar nicht mehr haben sehen lassen."

"Wofür halten sie mich?" fragte Icks. "Sie waren doch der Stein des Anstoßes, über den ich hier hereingestolpert bin."

"Mit Maßen", sagte sie, sich über die Schürze streichend, "denn ich übersah die Auswirkungen nicht."

Der Knebelbart, griesgrämig an der Theke, hörte scheinbar unbeteiligt zu.

"Es geht wieder aufwärts", sagte Icks zu ihm. "Die Nihilisten sind fort."

"Aber nicht das Unheil", sagte der Wirt. "Ich habe meine Order zum Stichtag, Herr Icks."

Er sprach ganz ruhig. Er hatte nicht getrunken. Aber die Ruhe wirkte künstlich und gekrampft.

Der Stammtisch war wieder gut besucht. Aufgeregt erzählte der Schneidermeister, daß gestern seine Werkstatt gefilmt worden sei. "Höchst lehrreich, sage ich euch."

"Zu mir wollen sie auch kommen."

"Sie stecken überall ihre Nase hinein."

"Aber dadurch wird doch die Kultur verbreitet."

Herr Icks begrüßte die alten Bekannten, nahm aber in der Runde nicht Platz. Sein Viertel Wein trank er am Privattisch in der Nische. Martha setzte sich zu ihm und vertraute ihm an, daß sie bald verreisen werde. Sie habe bereits den Antrag gestellt und solle dieser Tage den Grenzschein erhalten. "Sobald die Volksspiele beginnen, fahre ich fort. Der Trubel ist jetzt nichts für mich."

Icks zeigte Verständnis dafür. Es tue ihr sicher gut, einmal auszuspannen.

Ihr Mann, flüsterte sie, ahne nichts davon. Sie werde es ihm auch erst bei der Abfahrt mitteilen. Sie gab Icks ihre Adresse in einem Vorort der Landeshauptstadt. "Für alle Fälle", sagte sie.

"Hab es gut", sagte er.

Als er sich verabschiedete, sah ihm der Wirt zornig nach.

LITERATUR - Hermann Kasack, Das große Netz, Ffm 1952