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HUBERT SCHLEICHERT
Kritische Betrachtungen
über Mauthners Sprachkritik

(und nicht nur seine)
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"...näherte sich darum mitunter dem erlösenden Gedanken, daß die Irrtümer der Menschen (ich würde sagen: die Unmöglichkeit der Erkenntnis) den Mängeln der Sprache zuzuschreiben seien."

Im Folgenden soll paradigmatisch anhand der MAUTHNERschen Sprachkritik die Problematik philosophischer Sprachkritik schlechthin dargestellt werden. Paradigmatisch deshalb, weil das, was gegen MAUTHNERs Sprachkritik vorgebracht werden kann, auch allen seinen Nachfolgern entgegengehalten werden könnte.


Der Skeptizismus

Will man MAUTHNERs Wüten gegen die Sprache richtig verstehen, so muß man mit einer kritischen Analyse seines Begriffes von Erkenntnis beginnen. Denn hinter seiner Sprachkritik steht als letzte Position eine umfassende Skepsis: Es gibt keine Erkenntnis, Erkenntnis ist nicht möglich. Im "Wörterbuch" sagt MAUTHNER zustimmend:
    "Die Stimmung unserer Gegenwart ist nicht mehr rationalistisch, eigentlich nicht mehr aufklärerisch (...) Ich glaube nicht zu irren, wenn ich diese antirationalistische Stimmung der Gegenwart in Verbindung bringe mit den sprachkritischen Ideen, welche schon im ganzen letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in der Luft lagen (...) Die Kritik der Sprache, wie ich sie verstanden wissen möchte, ist darum eine Kritik des Rationalismus, eine Kritik des Aberglaubens an den absoluten Wert des diskursiven Denkens."
MAUTHNER begründet seine Skepsis manchmal mit dem Hinweis auf die "Zufallssinne" des Menschen, die eine Erkenntnis nicht zulassen:
    Der Begriff der Zufallssinne ist nichts weiter als der vorläufige Ausdruck für die trübe Gewißheit (...) daß (...) ganz sicher Kräfte in der Wirklichkeitswelt wirken, die niemals Sinneseindrücke bei uns hervorrufen können, und daß darum - weil nichts im Denken sein kann, was nicht vorher in den Sinnen war - unser Denken schon deshalb allein niemals auch nur zu einem ähnlichen Bilde von der Wirklichkeitswelt gelangen kann. Der Begriff der Zufallssinne ist der vorläufig letzte Ausdruck der Resignation.
Nun ist die Wissenschaft aber längst über die durch unsere Sinnesorgane gesetzten Schranken hinweggekommen und hat viele Bereiche erschlossen, für die der Mensch kein unmittelbares Organ besitzt. MAUTHNER bestreitet das nicht, ist damit aber nicht zufrieden:
    Wir kennen die Röntgenstrahlen, wir kennen die Radien des Radiums gewissermaßen nur aus Übersetzungen; in ihrer Originalsprache verstehen wir sie nicht.
Er konzediert zwar, daß zwischen Wissenschaft und z.B. Glaubenssätzen ein erheblicher Unterschied besteht:
    darin eben besteht ja die Wissenschaft, daß sie alte Beobachtungen mit neuen verbindet, und daß sie der Religion raubt, was erst einmal beobachtet worden ist. Der Religion bleibt nichts erhalten, als was sich der Beobachtung entzieht.
Aber auch die Wissenschaft liefert, und dies ist MAUTHNERs ständiger Einwand, keine  Erkenntnis,  sondern nur immer genauere Beobachtungen. Sie beobachtet aber immer nur  Erscheinungen: 
    Über unsere Welt der Erscheinungen kann die Beobachtung nicht hinausdringen, vor der Wirklichkeit muß die Erkenntnis Halt machen und ewig die Wirklichkeit dem Glauben überlassen. Über die Welt der Erscheinungen hinaus kann die menschliche Sprache nicht dringen (...)

    Es bedarf nur eines Hinweises darauf, daß alle diese Beobachtung oder Wissenschaft nur die Erscheinungswelt betraft; (...) Was wir aber beobachten und unter dem Namen der Wissenschaft sammeln und ordnen, ist immer nur die Welt der Erscheinungen. Wir sitzen vor der Natur wie das Kind im Theater vor dem bunten Vorhang. Es staunt den Vorhang an und glaubt, er wäre schon die Sache (...) Die Wirklichkeitswelt hinter dem Vorhange beobachten wir nie.
Was MAUTHNER mit bemerkenswerter Deutlichkeit verficht, ist die These, daß die Menschen auch in den Wissenschaften immer nur Wahrnehmung von  Erscheinungen  haben können:
    Denn mögen sie sich bei ihren Experimenten drehen und wenden, wie sie wollen, sie kommen nicht über das Wahrnehmen von Erscheinungen hinaus, hinter denen dann das Wirkliche, die alte Frage, ungelöst bleibt.
Aber MAUTHNERs Idealbegriff von Erkenntnis bleibt ein unklares Phantom, das er allenfalls mit Metaphern umschreibt, die romantisch klingen, aber nicht das geringste erklären:
    Und die Natur ist vollends sprachlos. Sprachlos würde auch, wer sie verstünde. Wir haben keine Organe für das Innere der Welt.
sagt er, und nimmt dabei eine gewaltige Bedeutungsverschiebung von "Inneres" vor. Denn um das  Erdinnere  geht es ihm ja nicht. Es ist ein anderes, meta-physisches Inneres, von dem der nach wahrer Erkenntnis strebende MAUTHNER sich für immer ausgeschlossen meint und sich wie ein Zuschauer vor dem Vorhang der Wirklichkeit fühlt. Es ist eine Sehnsucht nach einem unbekannten Ideal, das man nicht einmal richtig beschreiben kann. Merkwürdig, aber eine für MAUTHNER typische Rücknahme ist, wie er seine skeptische Position am Ende wieder für inhaltsleer erklärt. Er versucht nämlich (nicht unbedingt überzeugend) darzulegen, daß sich die Bedeutung des Wortes "erkennen" allmählich verändert habe. Zunächst
    hat das Wort in seiner gemeinsprachlichen Bedeutung  wiedererkennen  einen rein sinnlichen Inhalt; man  erkennt  etwas, was man früher gesehen oder gehört hat,  an  einem sinnlichen Merkmale (...)

    Der heutige Sprachgebrauch, natürlich besonders in Schriften geistigerer Art, benützt das Wort für eine gesteigerte, gedankliche Erfahrung (...)

    Ich glaube also, daß die gegenwärtige Tendenz des Sprachgebrauchs dahin führen wird, unter  Erkenntnis  eine Sehnsucht zu verstehen, die an der Grenze des relativen Wissens ein absolutes Wissen gewinnen möchte.

    Eine Erkenntnis in diesem Sinne, eine absolute Erkenntnis, ist unmöglich (...)
Was MAUTHNER dann als Beispiel anführt, paßt aber ohne weiteres zu dem gewöhnliche Ideal der Wissenschaft:
    Nicht einmal das Mikroskop zeigt uns etwa die Beschaffenheit des Blutes oder die Tätigkeit der Nerven bis auf die letzten Ursachen. Zu einer absoluten Erkenntnis des Organismus würde aber noch mehr gehören, nämlich die fast unvorstellbare Kenntnis des Lebensvorgangs, der zugleich Blut auf die Nervenbahnen und die Nerven auf die Blutbahn wirken läßt. Und so in unzähligen Fällen.
Sicherlich will die Wissenschaft gerade dies: die Phänomene in ihrer ganzen Komplexität immer genauer erfassen. Dem Skeptiker scheint dies aber nicht zu genügen; er will eine "letzte Ursache" - nur: hat dieses Wort noch einen Sinn? MAUTHNER bestreitet es:
    Wir können bis zu den letzten Gründen der Natur nicht vordringen (...) da kommen wir denn zu einem beschämenden Geständnisse, in welchem ein klein wenig Humor den Einschlag bilden mag. Erkenntnis aus den letzten Gründen ist nur ein Wort der Sehnsucht. Das andere Wort der Sehnsucht, Gott, ist nun ebenfalls ein Ausdruck für die letzte Ursache alles natürlich Gewordenen. Ein frommer Scholastiker (...) könnte mit diesem Ergebnis zufrieden sein (...) Nur daß er nicht zufrieden wäre mit der Behauptung, beide Worte seien gleich arm.

Die Verwechslung von Erleben und Erkennen

Es ist zu vermuten, daß MORITZ SCHLICK (1882-1936), eine der großen Gestalten des Wiener Kreises, MAUTHNER gelesen hatte, als er 1920 seine "Allgemeine Erkenntnislehre" schrieb und darin der Präzisierung des Begriffes "Erkenntnis" breiten Raum widmete. Denn es findet sich hier und in SCHLICKs späterer Unterscheidung zwischen Erleben und Erkennen eine direkte Begegnung auf die MAUTHNERsche Position, allerdings ohne daß MAUTHNER allerdings irgendwo namentlich erwähnt wird.

SCHLICK charakterisiert Erkenntnis zunächst durch Wiedererkennen, in weiterer Folge aber vor allem durch das Registrieren von Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Beobachtungsdaten. Für den so gefaßten Erkenntnisbegriff ist der Zusammenhang mit der Sprache klar: Erkenntnis, wie sie im Alltag wie in der Wissenschaft tatsächlich zustandekommt, ist vollständig sprachlich ausdrückbar und mitteilbar, sie ist eine (systematische) Beschreibung der Wirklichkeit.

Gelegentlich sagt MAUTHNER etwas Ähnliches:
    Was wirklich gewußt wird, ist sprachlichen Ausdrucks fähig. An den Grenzen der Wissenschaft stehen stumme Fragen; mit Worten zu antworten, ist Pfaffengeschwätz.
Stumme Fragen sind jedoch gar keine Fragen, nicht einmal der Fragende selbst versteht sie. Aber derselbe MAUTHNER, der hier ganz nahe bei der SCHLICKschen These liegt, daß Erkenntnis ihrem Wesen nach immer mitteilbar sei, schreibt an anderer Stelle etwa (und dies ist weit ehre für ihn typisch):
    So wirkte DESCARTES wie ein echter Philosoph, sprachreinigend da und dort, und näherte sich darum mitunter dem erlösenden Gedanken, daß die Irrtümer der Menschen (ich würde sagen: die Unmöglichkeit der Erkenntnis) den Mängeln der Sprache zuzuschreiben seien.
Die eigentliche Ursache für MAUTHNERs Skepsis und schließlich auch Mystik dürfte in dem liegen, was SCHLICK die Verwechslung von Erleben und Erkennen genannt hat. Was wir durch unsere Sinnesorgane bzw. durch die von MAUTHNER so genannten Zufallssinne aufnehmen, liefert zunächst ein individuelles, persönliches  Erlebnis,  aber noch keine  Erkenntnis.   Erleben  kann man tatsächlich nur, wofür man Sinnesorgane besitzt, Röntgenstrahlen kann der Mensch nicht erleben.

 Erkennen  heißt, die Gesetzmäßigkeit der Welt beschreiben, d.h. in einer geeigneten Sprache ausdrücken. Der Beschreibung liegen letzten Endes Erlebnisse zugrunde, aber diese sind nicht dasselbe wie Erkenntnis. Die Art der Erlebnisse hängt von den "Zufallssinnen" ab; aber das ist für die wissenschaftliche Erkenntnis längst nicht mehr wichtig. Ob man Gesetzmäßigkeiten direkt durch Sinnesorgenae registrieren kann, oder indirekt durch physikalische Apparate, ist nicht wesentlich. Manche Wellenlängen lassen sich mit dem Auge wahrnehmen, manche nur durch die Wärmeempfindung der Haut, andere nur durch das Ablesen von Meßgeräten. Für die Erkenntnis der elektromagnetischen Schwingungen ist das ohne Belang.

MAUTHNER beklagt, daß wir für manche Phänomene keine Sinnesorgane besäßen, was sicherlich stimmt. Aber dieser Mangel bedeutet bloß, daß wir z.B. Röntgenstrahlen nicht  erleben;   erkennen  lassen sie sich trotzdem. MAUTHNER sagt einmal, daß
    nicht nur die hörbaren und sichtbaren Erscheinungen der unbekannten Elektrizität, daß am Ende gar alles, was uns umgibt als Schall und Licht, nur die stammelnde Übersetzung unserer Sinne sei, aus einer fremden, fremden Welt.
Entkleidet man diese Bemerkung ihres poetischen Schmuckes, so besagt sie einfach, daß mein Erleben der Welt nicht dasselbe ist, wie die Welt selbst - was richtig, aber trivial ist. Worum es aber in MAUTHNERs Philosophie geht, ist die Frage, ob man die Welt  erkennen  könne.

Eine ähnliche Verwechslung liegt wohl auch vor, wenn MAUTHNER so beredt klagt, daß wir nie aus der Sprache herauskönnten, daß wir mit der Sprache die Wirklichkeit nicht fassen könnten etc. Sprache soll die Wirklichkeit aber auch nicht  ersetzen,  sondern  beschreiben.  MAUTHNERs Klage
    könnten wir mit Begriffen und Urteilen der armen Menschensprache an die Stoffe und Kräfte der Natur heran, dicht heran, zum Greifen nahe, daß wir die Erscheinungen mit den Zangen unserer Worte fassen könnten, - ja, dann besäßen wir freilich ein adäquates System der Welterkenntnis durch Sprache.
suggeriert ein falsches Bild. Die Natur ist einfach etwas anderes als die Beschreibung der Natur. Es gibt keinen Abstand zwischen Sprache und Welt, der verringert werden müßte, bis man der Natur "zum Greifen nahe" gekommen ist. Es gibt nur bessere oder schlechtere, genauere oder ungenauere Beschreibungen. MAUTHNER wäre nicht MAUTHNER, wenn er nicht irgendwann auch an den Unterschied zwischen Erleben und Erkennen gedacht hätte. In Kritik von SCHOPENHAUERs Willensmetaphysik schreibt er:
    Ewig wiederholt SCHOPENHAUER das Apercu [geistreiche Bemerkung - wp], daß uns unser Selbst von innen intimer und besser bekannt sei als von außen. Er übersieht, daß diese Intimität der Selbstbekanntschaft erkauft ist mit einem absoluten Mangel an Erkenntnis. (...) Ahnung, Sehnsucht, Glück, Religion meinetwegen läßt sich darauf begründen, nur eines nicht: nur Erkenntnis nicht.
Aber das ist eben nur ein seiner vielen Rücknahmen, im Grunde will MAUTHNER gerade die von ihm kritisierte "Intimität" mit der Natur. Schon im Vorwort der "Beiträge" spricht MAUTHNER von seinem Gedanken,
    daß Welterkenntnis durch die Sprache unmöglich sei, daß eine Wissenschaft von der Welt nicht sei (...)
Nach dem bisher Gesagten beruht dieser Vorwurf aber bloß darauf, daß MAUTHNER den üblichen Erkenntnisbegriff ablehnt, an seine Stelle aber keinen anderen setzen kann, sondern bloß ein inhaltsleeres "Wort der Sehnsucht". Es ist keine "Armseligkeit der Menschensprache", sondern ein Wesenszug jedes Bezeichnungssystems, daß es mit dem Bezeichneten nicht identisch sein kann. Am Ende der "Drei Bilder der Welt" liest man:
    Überall, wo echte Kunst waltet - vielleicht selbst wieder ein unerreichbares Ideal, dem die Größten sich nur annähern können -, begreift ein Genie die eine Welt ohne Begriffe, ohne Sprache. Vielleicht gibt es auch im echten Denken, der sogenannten Philosophie, solche Weihestunden des wortlosen Begreifens. Morgenstunden des Erwachens, wo plötzlich der Schleier des Tages fällt und wie in tagheller Nacht der Zugang zu dem Geheimnisse des All-Einen offen steht. Der Zugang schließt sich wieder, sobald der Sucher den ersten Schritt auf dem geschauten Wege zu gehen wagte. Die Helle wird wieder dunkel, sobald er die Augen öffnet. Das Begreifen zerfällt, sobald er es für sich oder andere in Begriffe oder Worte bannen will. Das All-Eine war nur im schweigenden Ich verbunden; beim ersten lauten Worte verschwindet herabstürzend jede Einheit, auch die des Ich. Nichts läßt sich mehr sagen.
Angenommen, das, was MAUTHNER hier zu umschreiben versucht, kommt wirklich vor, dann zeigt MAUTHNERs poetische Schilderung plastisch, daß hier ein spezielles  Erlebnis  vorliegt - und sonst nichts, insbesondere keine Erkenntnis. Es fehlt nicht an Worten, sondern es gibt nichts zu sagen. Allerdings ist MAUTHNERs Erguß bereits irreführend formuliert, denn "Begreifen" bedeutet gewöhnlich dasselbe wie "Erkennen", und gerade letzteres liegt nicht vor. Auch das Gerede vom "All-Einen" mit seinen "Geheimnissen" ist bestenfalls schlechte Poesie.

Ungefähr gleichzeitig mit MAUTHNERs "Beiträgen" und nicht gänzlich unbeeinflußt davon schrieb HUGO von HOFMANNSTHAL einen fingierten Brief, in dem ein gewisser Lord Chandos sich kunstvoll und sehr wortreich darüber beklagt, daß ihm der Gebrauch bzw. die Bedeutung der Wörter verlorengegangen sei:
    Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in dieic wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.
Solcherart klagt der arme Lord, um aber zugleich mitzuteilen, daß er mitunter eine besondere Art der Offenbarung erlebe, die auszudrücken freilich alle Worte zu arm seien:
    Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden.
Und er sagt von dieser Offenbarung, daß sie
    mich mit einer solchen Gegenwart des Unendlichen durchschauert, von den Wurzeln der Haare bis ins Mark der Fersen mich durchschauert, daß ich in Worte ausbrechen möchte, von denen ich weiß, fände ich sie, so würden sie jene Cherubim, an die ich nicht glaube, niederzwingen (...) Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen; ich könnte dann ebensowenig in vernünftigen Worten darstellen, worin diese mich und die ganze Welt durchschwebende Harmonie bestand.
Am Ende seiner Bekenntnisse schreibt der Lord:
    Ich fühlte (...), daß ich auch im kommenden und im folgenden und in allen Jahren dieses meines Lebens kein englisches und kein lateinisches Buch schreiben werde (...) weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische noch die italienische und spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist.
Vielleicht erleben manche Menschen manchmal wirklich Derartiges, etwa bei starker Ermüdung oder zufolge einer Erkrankung oder Verletzung des Gehirns. Käme es oft vor, so gäbe es dafür ein Wort; da es selten ist, besitzen wir dafür keinen eigenen Ausdruck. So oder so aber hat diese Erlebnislage nicht mit einem Mangel der Sprache zu tun. Wenn sich etwas nicht auf Englisch oder Latein sagen läßt, läßt es sich auch in keiner anderen Sprache sagen, einfach weil es dann nichts zu sagen gibt. Das  Erlebnis,  um das es hier geht, würde eventuell auch einen Cherubim erschüttern; aber auch ein Cherubim könnte daraus keine  Erkenntnis  machen, und daran hat die arme Sprache keine Schuld.


Idiolekt und Bedeutungswandel

Eine simple logische Theorie der Sprache lehrt, daß die Erklärungen (Definitionen) eines Begriffs von allen übrigen Sätzen, in denen dieser Begriff vorkommt streng zu unterscheiden seien. Erstere sind trivialerweise wahr, aber inhaltsleer; letztere enthalten echte Informationen, können aber auch falsch sein.

MAUTHNER akzeptiert eine solche Theorie nicht. Tatsächlich weiß in den meisten Fällen auch kein Mensch genaue, welche Eigenschaftfen, bzw. Sätze für einen Begriff definierend sind und welche echte Informationen enthalten. Wir wissen viele Sätze über den Hasen - aber welche davon gehören zu seiner Definition? Wir kennen viele Sätze, in denen die Wörter "Denken", "Erleben" oder "Bewußtsein" vorkommen - aber welche dieser Sätze sind informativ, welche gehören nur zur Begriffserklärung?

Dies führt zu einer neuen "globalen" Theorie der Bedeutung. Die Bedeutung eines Begriffes hängt danach für jeden einzelnen Menschen von der Gesamtheit seines Wissens bzw. der Gesamtheit der ihm bekannten Sätze ab, in denen dieser Begriff vorkommt. Eine solche Sicht der Dinge kommt der Ansicht sehr nahe, die später WILLARD van ORMAN QUINE so nachdrücklich vertreten hat. Nach der globalen Theorie haben Begriffe eine von Mensch zu Mensch schwankende Bedeutung. Jeder Mensch hat sein eigenes Begriffssystem, seine eigene Sprache (Idiolekt). Dies ist auch MAUTHNERs Ansicht.
    So wenig zwei Menschen das gleiche Leben gelebt haben, so wenig sprechen sie die gleiche Sprache. (...) die Sprache ist auch zwei Menschen nicht gemeinsam, weil auch bloß zwei Menschen niemals das gleiche bei den Worten sich vorstellen.
Da der Mensch im Laufe seines Lebens immer neue Erfahrungen macht, ändern sich demgemäß die (globalen) Bedeutungen der Begriffe für ihn:
    Wir müssen endlich einsehen, daß niemals noch ein Mensch zweimal mit demselben Worte die ganz gleiche Vorstellung verbunden hat.
In der zweiten Auflage hat MAUTHNER diese weitreichende These bezeichnenderweise wieder abgeschwächt. Der Satz lautet nun:
    Wir müssen endlich einsehen, daß ein Mensch gar häufig nicht zweimal mit demselben Worte die ganz gleiche Vorstellung verbunden hat.
Auch eine extreme Globaltheorie der Bedeutung läßt sich sicherlich widerspruchsfrei entwickeln, steht aber der wirklichen Sprache mit ihren reichhaltigen, geschmeidigen und erstaunlich gut funktionierenden Verständigungsmöglichkeiten ziemlich fern. MAUTHNER wußte selbstverständlich um das Funktionieren der Sprache im Alltag Bescheid, unternahm es aber niemals, die Beziehung zwischen seiner Theore des "Idiolekts", d.h. der individualistischen Globaltheorie der Sprache einerseits, und dem tatsächlichen "Gebrauchswert", d.h. dem effektiven Funktionieren der Sprache in der Kommunikation andererseits, zu klären.

Eher gefällt er sich in abschätzigen Äußerungen über den "bloßen Gebrauchswert". Dabei liegt das Problem nicht so sehr in der Globaltheorie als solcher, sondern darin, daß MAUTHNER einen wesentlichen Umstand außer Betracht läßt. Zwei Menschen mögen immerhin unter ein. und demselben Wort bzw. Begriff Unterschiedliches verstehen; sie sind aber grundsätzlich immer imstande, sich über diesen Unterschied sprachlich zu verständigen. Es mag vielleicht sinnvoll sein, zu behaupten, daß mit der Sprache "eine Gedankenübertragung ohne Rest nicht möglich sei". Aber dieser Rest läßt sich mit den Mitteln der Sprache je nach Bedarf beliebig klein machen.

Neben den individuellen Bedeutungsunterschieden erwähnt MAUTHNER auch den allmählichen Bedeutungswandel der Begriffe im Laufe der Sprachgeschichte als Grund dafür, daß Sprache keine Erkenntnis liefern könne:
    Es ist unmöglich, den Begriffsinhalt der Worte auf die Dauer festzuhalten; darum ist Welterkenntnis durch Sprache unmöglich. Es ist möglich, den Stimmungsgehalt der Worte festzuhalten; darum ist eine Kunst durch Sprache mögliche, eine Wortkunst, die Poesie.
Ob sich tatsächlich der "Stimmungsgehalt" der Wörter historisch nicht ändert, kann bezweifelt werden, interessiert uns hier aber nicht. Dagegen ist es richtig, daß wir die in alten Texten formulierten Mitteilngen nicht mehr so verstehen, wie ihr Autor sie meinte, wenn sich inzwischen die Bedeutungen der benützten Wörter verändert haben sollten. Käme das sehr häufig und sehr kurzfristig vor, so würde die Sprache unbrauchbar.

In den wirklichen Sprachen liegen die Verhältnisse aber nicht so; dadurch ist es mögliche, innerhalb einer Sprache und mit den Mitteln dieser Sprache Bedeutungsveränderungen einzelner Wörter zu erfassen, mitzuteilen und damit sozusagen zu neutralisieren. Wir können ohne weiteres mitteilen, daß "Dirne" in früherer Zeit kein anrüchiger Ausdruck war; dadurch lassen sich Mißverständnisse bei der Lektüre alter Texte, in denen dieses Wort vorkommt, ausschalten. Diese Fähigkeit zur "semantischen Selbstkorrektur" ist eigentlich höchst bemerkenswert.
LITERATUR - Hubert Schleichert, Kritische Betrachtungen über Mauthners Sprachkritik, in Leinfellner/Schleichert (Hrsg), Fritz Mauthner - Das Werk eines kritischen Denkers, Wien/Köln/Weimar 1995