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FRITZ MAUTHNER
Beschränkung der Sinne
I -21

"Alle Begriffsbildung oder Namengebung ist Klassifikation oder Aufmerksamkeit auf Ähnlichkeiten. Alle Aufmerksamkeit auf Ähnlichkeiten oder Klassifikation ist eine Funktion unserer Sinnesorgane."

Wir besitzen fünf oder vielmehr sechs Sinne. Durch Vergleichung ihrer Mitteilungen untereinander gelangen wir zu der Einsicht, daß jedes einzelne von den Sinnesorganen nur einen beschränkten Teil des Gebietes wahrnimmt, welches wir durch dieses Sinnesorgan zu beherrschen glauben. Die Tatsache ist am auffallendsten beim Gehörsinn, aber auch für andere Sinne nachgewiesen.

Ein C von sechzehneinhalb Schwingungen etwa bildet die unterste Grenze der Wahrnehmung für das Ohr. Die Musik umfaßt von diesem tiefsten Ton an sieben Oktaven. Das menschliche Gehör umfaßt darüber hinaus noch drei, im ganzen etwa zehn Oktaven; es geht von sechzehneinhalb bis etwa zu sechzehneinhalbtausend Schwingungen. Es ist aber offenbar, und es ist sogar sichtbar zu machen, daß es Vibrationen von geringeren und von höheren Schwingungszahlen gibt. Man könnte diese Vibrationen (analog den unsichtbaren Strahlen des Sonnenlichts) unhörbare Töne nennen; diese unsinnige Bezeichnung würde auch sofort, wie die analoge es in der Optik tut, den Wortaberglauben der Menschen verraten. Weil der Mechanismus unseres Ohrs uns die subjektive Empfindung von Tönen vermittelt und weil unser Auge die "objektive" Ursache dieser Töne als Schwingungsbewegungen erkannt zu haben glaubt, so möchten wir gar zu gern auch diejenigen Schwingungen, die die subjektive Empfindung der Töne nicht erzeugen, Töne nennen. Weil unser Auge oder vielmehr der entsprechende Teil des Gehirns bestimmte Vibrationen einer anderen Art als Farben empfindet, darum sind wir geneigt, die benachbarten Vibrationen dieser anderen Art ebenfalls mit optischen Worten zu bezeichnen. Wir möchten gar zu gern  corriger la fortune  (das Vermögen verbessern) unserer Zufallssinne, in unserer Sprache nämlich.

Bringen wir also einen elastischen Gegenstand, z.B. die Luft, dergestalt in Schwingungen, daß die Schwingungszahl in der Sekunde von einmal bis zu hunderttausendmal steigt, so werden wir anfangs gar nichts hören, dann nacheinander sämtliche Töne vom niedrigsten bis zum höchsten; nachher werden wir wieder nichts hören. Die Schwingungen unter und über der Grenze der Hörbarkeit können wir nur durch das Gesicht oder durch den Tastsinn wahrnehmen.

Das Gesicht umfaßt bekanntlich auf dem Gebiete, das es zu beherrschen scheint, ebenfalls nur einen kleinen Ausschnitt. Nach der geltenden Hypothese sind es Ätherschwingungen von ungeheurer und unvorstellbarer Schwingungszahl, welche im Auge oder vielmehr im Gehirn die subjektive Erscheinung von Licht und Farben hervorrufen. Eine Farbe, in welcher sich die Farben aller dieser optisch wirksamen Vibrationen mischen, nennen wir weiß. Durch das Prisma kann man diese angenommenen Vibrationen nach ihrer Schwingungsdauer hintereinander ordnen und hat nun, ebenso wie in der Musik, ein Farbenband von unendlich vielen Tönen vor sich, von rot bis violett, welches Band aber für ästhetische Zwecke längst - wann? von welchem Volke zuerst? - in etwa sieben Gruppen zerlegt worden ist. Die Strahlen, welche man überrote und überviolette nennt, werden nicht sichtbar. Sie lassen sich aber durch Wirkungen auf das Thermometer und auf die photographische Platte indirekt durch List sichtbar machen.

Wir können diese Erscheinung so ausdrücken, daß irgend ein relativ zufälliger Umstand die Aufmerksamkeit der Organismen just auf diese Schwingungszahlen gerichtet hat, daß diese Aufmerksamkeit das Sinnesorgan des Gesichts zur Folge gehabt hat (ähnlich wie beim Gehör) und daß die Wirkung dieser Art von Vibrationen sich in unserer Sprache als Farbenempfindung differenzierte. Die Einübung unserer Zufallssinne auf die Unterscheidung dieser Vibrationen ist so instinktmäßig stark, unsere Sinne sind so sehr nichts als eben die Einübung auf bestimmte Vibrationsarten (Energien), daß wir uns einen Organismus ohne solche Einübung gar nicht ausdenken können. Wie wir uns unser Leben ohne Lungenatmung nicht denken können. Und doch hat (nach der Entwicklungslehre) die Lungenatmung einmal ihren Anfang gehabt; hat ihren Anfang bei jedem Kinde nach der Geburt.

Diese Auffassung des Gesichtssinns, seit KANT erkenntnistheoretisch vorstellbar und gegenwärtig die allgemeine Vorstellung der Optik, wird nun für unseren Gedankengang weit fruchtbarer, seitdem auch die Wärmeempfindungen auf die gleiche Quelle zurückgeführt worden sind. Man nimmt jetzt an, daß jeder Lichtstrahl zugleich ein Wärmestrahl sei; auch die Wärmestrahlen werden von ebenen und konkaven Spiegeln zurückgeworfen, auch Wärmestrahlen werden durch das Prisma gebrochen. Genauere Berechnungen sollen dargetan haben, daß es ein Irrtum war, diejenigen Strahlen, die den unsichtbaren ultraroten entsprechen, für die wärmsten zu halten; man hat die durch stärkere Brechbarkeit erfolgte stärkere Zerstreuung der helleren Strahlen in Ansatz gebracht und so gezeigt, daß die hellsten Strahlen auch die wärmsten sind.

Nun bedenke man zweierlei: erstens daß durch die Untersuchungen von HERTZ wiederum eine gewisse Identität zwischen Licht und Elektrizität nachgewiesen worden ist, zweitens daß wir für Wärmeempfindungen kein so differenziertes, ich möchte sagen mathematisches Instrument besitzen wie für Lichtempfindungen. Dazu erinnere man sich, wie dieselbe Vibration einer Darmsaite, die unserem Tastsinn als ein Schwirren, unserem Gesichtssinn als eine elastische Bewegung erscheint, allein für unseren Gehörsinn als eine von diesen Empfindungen durchaus verschiedene, durchaus nicht vergleichbare differenzierte Empfindung, als Ton erscheint; daß wir langsame Vibrationen, die wir noch nicht hören, doch sehr deutlich tasten und sehen, daß wir sehr schnelle Vibrationen, die wir nicht mehr hören, immer noch tasten.

Die lichterzeugenden Vibrationen, welche man gegenwärtig mit unvorstellbar großen Schwingungszahlen am unvorstellbaren Ätherstoff haftend denkt, und welche man mit Wärme erzeugenden und mit Elektrizität erzeugenden Strahlen mehr und mehr identifiziert, müßten nun ebenfalls auf dreierlei Art wahrnehmbar sein, wenn die, menschlichen Sinne der Wirklichkeitswelt entsprächen und wenn - wie die Skepsis hinzufügen muß - diese Vibrationen in der Wirklichkeitswelt vorhanden wären. Diese letzte Bemerkung ist aber nur eine sprachliche Nebenfrage. Immerhin ist herausgebracht worden, daß Licht, Wärme und Elektrizität nur verschiedene Erscheinungen des gleichen Ding-an-sich sind und nur je nach dem Tore, welches sie passieren müssen, verschiedene Wirkungen bei uns hervorrufen. Da ist es nun doch höchst beachtenswert, daß wir für diejenigen Schwingungszahlen der Molekularbewegungen, welche zwischen der äußersten Kälte und der Rotglühhitze liegen, keine Gesichtsempfindung haben, wohl aber eine modifizierte, wenn auch nur grob modifizierte Wärmeempfindung. Wie wir aus der Schwingungsreihe der tönenden Körper nur den verhältnismäßig kurzen Ausschnitt zwischen sechzehn und sechzehntausend Schwingungen hören können, so können wir aus der ganz anderen Reihe der hohen Schwingungszahlen der leuchtenden Körper (die aber doch unter anderen Umständen auch tönen können) nur den kurzen Ausschnitt sehen, der zwischen rot und violett liegt. Kein Geringerer als NEWTON hat sich durch diese vielleicht nur zufällige Ähnlichkeit bestimmen lassen, auch die Farbenskala in sieben Oktaven einzuteilen.

Einen besonderen Wärmesinn nimmt weder unsere Umgangssprache, noch die ältere Psychologie an; man begnügt sich damit, mit kindlicher, ja fast tierischer Vergleichung von Unvergleichlichem dem Tastsinn nebenbei noch die Aufgaben des Wärmesinns zuzuweisen. Die Aufstellung eines besonderen Temperatursinns hat eigentlich erst HERING verlangt. Und noch später, noch jetzt, möchte man Tast- und Temperaturempfindungen, (die doch verschiedener sind als Geruch und Geschmack, die so verschieden sind wie Ton und Farbe) einem gemeinsamen Sensorium, dem brutalen "Hautsinn" überweisen, - weil Anatomie und Histologie vom Wärmesinn nichts weiß. Der Umgangssprache ist so etwas zu verzeihen. Der nächste Grund für ihre Unsicherheit mag darin liegen, daß dieselben sehr empfindlichen Hautstellen, wie die Finger, die uns Druckempfindungen vermitteln, auch die bequemsten sind zur Vermittlung von Wärmeempfindung. Dazu mag noch kommen, daß die Wärmeempfindungen sehr bald (unter 0 Grad und über 55 Grad) Schmerzen verursachen, also ein Gemeingefühl, das für Wahrnehmungen der Außenwelt sehr ungeeignet ist. In der Nähe der menschlichen Eigenwärme ist unser Wärmesinn allerdings ausreichend, auch kleine Temperaturunterschiede, bis zu einem Fünftel Grad und weniger, wahrzunehmen; aber wir besitzen in unserem Wärmesinn keine genaue Wärmeskala, wie wir sie in der Tonskala unseres Ohres und in der Farbenskala unseres Auges besitzen. Ein Thermometer mißt genauer als unsere Haut, aber ein feines Ohr, ein scharfes Auge mißt viel genauer als ein Präzisionsthermometer.

Also auch der Wärmesinn nimmt eigentliche Wärmeunterschiede nur innerhalb eines ganz kleinen Ausschnittes der durch Hilfswerkzeuge wahrnehmbaren Wärmegrade wahr. Eine Temperatur, die bedeutend über oder unter diesem Ausschnitt liegt, erzeugt zunächst Schmerz ohne distinkte Wahrnehmung (sehr kalte Körper brennen) und vernichtet endlich sehr rasch den Organismus, genau so, wie derselbe Organismus durch übersteigende Druckempfindungen vernichtet wird.

Für die dritte Wirkung dieser Vibrationen, für die sogenannte Elektrizität, haben wir in der Sprache unserer Psychologie gar keinen Sinn. Und auch nicht in unserer Gemeinsprache. Obwohl die Elektrizität bekanntlich physiologische Wirkungen erzeugt, und obwohl ein geübter Mechaniker jetzt schon durch die bloße physiologische Empfindung bis zu einem gewissen Grade die Höhe einer elektrischen Spannung wird messen können. Was lehrt uns das, daß wir für die Elektrizität keinen Sinn zu haben glauben? das heißt, daß kein Interesse die sich entwickelnden Organismen zur Ausbildung eines besonderen Elektrizitätssinns genötigt hat? Das kommt doch offenbar daher, daß es in der Natur, soweit sie nicht von Menschen beeinflußt worden ist, nur solche wichtige elektrische Erscheinungen gibt, deren Ähnlichkeit untereinander und deren Bedeutung für unser Leben nicht leicht zu erkennen war. Alle Begriffsbildung oder Namengebung ist Klassifikation oder Aufmerksamkeit auf Ähnlichkeiten. Alle Aufmerksamkeit auf Ähnlichkeiten oder Klassifikation ist eine Funktion unserer Sinnesorgane. Aber unsere Sinnesorgane selbst sind doch höchst wahrscheinlich erst dadurch entstanden (von ihren Uranfängen in der Amöbe bis zu den menschlichen Sinnesorganen, wie wir trotz aller gegen den dogmatischen Darwinismus gerichteten Skepsis annehmen müssen), daß unsere Aufmerksamkeit, also der Wille zum Vergleichen, durch ein organisches Interesse mehr und mehr auf bestimmte Bewegungsgruppen in der Außenwelt, wie z.B. auf die Bewegungsgruppen der Töne und der Farben, gelenkt worden ist.

Welches Interesse aber hatte der Naturmensch an elektrischen Erscheinungen? Oder welches Interesse konnte gar in vormenschlicher Zeit ein Tier an den für das Tier unklassifizierbaren elektrischen Erscheinungen haben? Die elektrischen Erscheinungen in den Muskeln und Nerven des menschlichen Körpers gehen ebenso unbewußt vor sich wie die chemischen Erscheinungen bei der Blutbereitung. Die Nerven haben keine besonderen Organe zur Beobachtung der Nerven. Erst auf einem ungeheuern Umwege konnte man auf die Vermutung kommen, andere elektrische Erscheinungen mit der Tätigkeit der Nerven zu vergleichen. Der Blitz hätte allerdings das Interesse der Menschen wachrufen können. Man suchte aber als seine direkte Ursache eine Gottheit, wenn das Gewitter nicht gar überhaupt erst die Götterfurcht oder Gottesfurcht hervorgerufen hat. Und wenn man sich dabei auch nicht beruhigt hätte, so wäre es doch kaum angegangen, die furchtbare Erscheinung des Blitzes und die niedliche Erscheinung am geriebenen Bernstein ohne weiteres unter einen gemeinsamen Begriff zu klassifizieren. Just für das Elektrische am Blitze hatten wir ja eben kein Organ, also keinen Sinn. Es übersetzte sich in die Sprache des Gesichts, des Gehörs, des Geruchs, des Tastsinns (indirekt, weil der Blitz Bäume und Felsen zerschlug). Aber wer konnte ahnen, daß das nur Übersetzungen waren? Wer, dem eben der Blitz selbst eine Übersetzung fürs Gesicht war wie unsere Glühlampe? Hätte der Bernstein, das Elektron, nicht zufällig die Elektrizität der Beobachtung und dem Experimente jedes Kindes dargeboten, die Kraft der Elektrizität wäre bis heute vielleicht nicht entdeckt, und dann besäßen wir allerdings bis heute nicht einmal indirekt die Möglichkeit, Elektrizität zu erkennen. Hätten einzelne Stücke des natürlich vorkommenden Magneteisensteins nicht den Leuten in der Nähe des Fundortes die Erscheinung gezeigt, daß der Magneteisenstein Eisenteile anzieht, so wüßten wir wahrscheinlich, so wüßten wir gewiß noch heute nichts vom Magnetismus. Hätte es in der Natur weder Bernstein noch Magneteisenstein gegeben, so hätte FARADAY seine Entdeckungen auf dem Gebiete des Elektromagnetismus nicht gemacht, und daß Bild des gegenwärtigen Verkehrslebens wäre für uns nicht vorhanden; unsere Sinne würden uns nichts vom Telegraphen und von der elektrischen Eisenbahn erzählen. Die Menschen sind so töricht, nach jeder neuen Entdeckung (Elektron, Magneteisenstein, Helium, Radium) schwindelnd zu rufen: Jetzt endlich wissen wir alles! Anstatt jedesmal neu zur Einsicht zu kommen: Also nicht einmal das haben wir bisher gewußt! Auf der Erdoberfläche, weil sie rund ist, können wir einmal mit makroskopischen Entdeckungen fertig werden und über Amerika nach Europa, über den Nordpol zum Äquator zurückkommen. Die übrige, die nicht oberflächliche Natur, ist uns zu erforschen versagt - wie das Erdinnere. Wir haben keine Organe für das Innere der Welt.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906