Vergleichende Sprachwissenschaft II-06
Die vergleichende Sprachwissenschaft der Gegenwart ist also wie gesagt - nichts anderes als die Ausführung des Apercus [geistreiche Bemerkunen - wp] , daß zahlreiche Stammsilben des Sanskrit mit Stammsilben vieler europäischer Sprachen Ähnlichkeiten haben und daß man ein Recht habe, alle diese Sprachen miteinander zu vergleichen. Die Geschichte dieses Apercus ist die Geschichte der modernen Sprachwissenschaft. Solche Apercus sind oft gemacht worden, wie z.B. bei der Vergleichung des Hebräischen und des Lateinischen; sie stellten sich als lächerliche Einfälle heraus. Die Ähnlichkeit zwischen dem Sanskrit und den europäischen Sprachen ist zum erstenmal ebenfalls schon im 16. Jahrhundert (von PHILIPPO SASSETTI) gesehen worden. Er bemerkte die Ähnlichkeit einiger Zahlwörter. Er muß ein feines Gehör dafür gehabt haben; denn die griechischen Reisenden, Soldaten, Handelsleute oder Forscher, welche zur Zeit ALEXANDERs des Großen vielfach von der damaligen Sprache der Inder Kenntnis erlangten, machten diese naheliegende Bemerkung nicht. Von SASSETI bis zu Ende des 18. Jahrhunderts wird die Aufmerksamkeit auf diese Ähnlichkeiten immer wieder hingelenkt, ohne daß eigentlich schon das wissenschaftliche Apercu zustande käme. Die Ähnlichkeit wurde bald überschätzt, bald unterschätzt. Es gab einen Mann, welcher lehrte, es hätten die alten Inder gewissermaßen lateinisch gesprochen; und es gab einen anderen, übrigens sehr geistreichen Mann, welcher das ganze Sanskrit als eine Fälschung der Brahmanen, als eine nach dem Muster des Griechischen und Lateinischen verfaßte künstliche Sprache betrachten wollte. Der Unterschied zwischen der früheren und der gegenwärtigen Zeit liegt darin, daß man früher die Ähnlichkeiten zwischen dem Sanskrit und den europäischen Sprachen als Kuriosität betrachtete, als einen unerklärlichen Zufall, und daß man jetzt allgemein einen inneren Zusammenhang annimmt, den man, als ob sich das von selbst verstünde, "Verwandtschaft" nennt. Will man einen Namen besonders hervorheben, auf welchen die jetzt übliche Behandlung der Sache zurückgeht, so muß man unseren FRIEDRICH von SCHLEGEL nennen. Durch die Engländer, welche mit den Indern praktisch zu tun hatten, war die Kenntnis des Sanskrit und damit die Möglichkeit einer genauen Vergleichung nach Europa gekommen. Mehr und mehr näherten sich die Kenner des Sanskrit dem Apercu, daß die Zufallsvergleichung der Sprachen keinen Wert habe, daß die innere Struktur der Sprachen erst ein Recht auf ihre Vergleichung geben müsse. Es versteht sich von selbst, daß die Theorie erst abstrahiert werden konnte, nachdem man instinktmäßig die rechten Sprachen verglichen hatte. Man mußte neben der Ähnlichkeit der Stämme auch die Ähnlichkeit der Bildungssilben bemerkt haben, bevor man diese in den Vordergrund stellen konnte. Immerhin hat das FRIEDRICH von SCHLEGEL zuerst getan und zuerst den Ausdruck "vergleichende Grammatik" gebraucht, in seiner Schrift "Über die Sprache und Weisheit der Indier" (1808). Das kleine Werk gilt mit Recht für epochemachend, wenn man jedes Apercu in jeder Disziplin für den Anfang einer Epoche hält. Die heutigen Sanskritisten lächeln über die zahlreichen Irrtümer des Meisters, der in Deutschland ihre Wissenschaft begründet hat; sie deuten SCHLEGELs Ausspruch, daß Sanskrit die Muttersprache gewesen sei, dahin um, daß es der indoeuropäischen Ursprache am nächsten stehe. Wir nehmen uns heraus, wieder über die heilige Überzeugung von der Auffindbarkeit einer indoeuropäischen Ursprache zu lächeln. Wir werden aber, wenn auch nicht die Leistung, so doch die Anregung FRIEDRICHs von SCHLEGEL am schönsten würdigen, wenn wir sagen, daß er mit romantischer Keckheit das Programm einer ungeheuren Sprachvergleichung aufgestellt hat, daß die folgende Zeit (sie beginnt mit BOPPs Konjugationssystem 1816) es mit der Gewissenhaftigkeit der historischen Methode zwar weiter geführt hat, aber für irgend welche geistige Fragen nicht bedeutender gewesen ist als der erste Anlauf SCHLEGELs. Der wesentlichste Erfolg der indischen Philologie in England und Deutschland bestand darin, daß nach Veröffentlichung der indischen Sanskritgrammatiken die Mangelhaftigkeit unserer alten, auf griechischem Boden erwachsenen Grammatik langsam erkannt werden mußte. Es wurde allmählich eine Unmasse Material zusammengetragen, das Fragmente wirklicher Sprachgeschichte darstellte und die logischen Kategorien der griechischen Grammatik sprengte. Die Fehler der griechischen Grammatik, welche eine Verlegenheitslogik, der Sprache war, und die Fehler der Inder, welche eine blinde Sprachgenealogie trieben, verbesserten einander so sehr, daß mancher Einblick in das Leben und das Wachstum der Sprache möglich wurde. Die großen Meister der Sprachforschung, insofern sie eine deutsche Wissenschaft ist, sind JAKOB GRIMM und BOPP. JAKOB GRIMM müßte uns, auch wenn er vergebens gearbeitet hätte, schon verehrungswürdig sein durch seine schöpferische Liebe zu unserer deutschen Muttersprache, BOPP bewunderungswürdig um seines Scharfsinns willen. Will aber die Sprachkritik sich mit einem Worte klar machen, was diese beiden Männer fast gleichzeitig auf ihrem Arbeitsfelde geschaffen haben, GRIMM mit seiner historischen deutschen Grammatik, BOPP mit der vergleichenden Grammatik der indoeuropäischen Sprachen, so müßten wir sagen, daß sie zuerst eine Methode des Etymologisierens aus winzigen Anfängen zu einer stattlichen Disziplin ausgebildet haben. Die Hervorhebung der grammatischen Formen gegenüber den sinnbedeutenden Wortbestandteilen führte dazu, in den Bildungssilben mehr und mehr alte Worte zu suchen und mitunter zu finden. Allgemein anerkannt ist gegenwärtig ihre etymologische Methode. Es wurden Gesetze des Lautwandels aufgestellt, die jeder Jünger sich zu merken hatte; wer heute Etymologie treiben will, muß diese Gesetze des Lautwandels vor Augen haben wie der Richter die Paragraphen des Gesetzbuches. Bekanntlich hat die neueste Schule, die der Junggrammatiker, diesen Anspruch noch übertrieben, indem sie von allen Lautgesetzen ausnahmslose Geltung forderte, was freilich - da die bereits entdeckten Lautgesetze diesem Ideal nicht entsprechen wollten - einer Auflösung der ganzen Disziplin beinahe ähnlicher sah als einer Verbesserung. Die neue vergleichende Methode ändert aber nichts an der Tatsache, daß ein gewisser Takt des Forschers bei allen Fragen entscheidend ist. Auch die strenge vergleichende Methode kann bis zum Wahnsinn auf die unzusammengehörigsten Sprachen ausgedehnt werden; kein geringerer als BOPP selbst hat das Musterbeispiel einer solchen Verirrung gegeben, da er die Verwandtschaft der polynesischen Sprachen mit den indoeuropäischen nachweisen wollte. Man sah nachher ein, daß zwei Sprachen erst einem genialen Instinkte als "verwandt" erscheinen müssen, bevor man die vergleichende Methode auf sie anwenden darf. Für die vergleichende Methode selbst ergibt sich daraus eine Lehre, die für die vermeintlich mathematische Sicherheit dieser Disziplin nicht gerade günstig ist; die Lehre nämlich, daß alle Lautgesetze immer nur die Ordnung historisch nachgewiesener Lautveränderungen sind, Merkzeichen für beobachtete Ähnlichkeiten, nützliche Hilfen für die Erinnerungen des Sprachforschers, nicht aber Gesetze, weder Naturgesetze, die die Wirklichkeit beherrschen, noch logische Formeln für solche Naturgesetze, Formeln, aus denen sich weiter schließen ließe. Für unseren Sprachgebrauch würde es beinahe genügen, das so auszudrücken: es seien die sogenannten Lautgesetze eben auch nur Worte, also Erinnerungszeichen und nicht reale Mächte. Auch diese abstrakte Betrachtung führte uns dahin, wohin wir auch noch auf anderem Wege gelangen werden, daß wir nämlich nicht glauben, es lasse sich mit Hilfe der neuen vergleichenden Methode jemals eine natürliche Klassifikation aller Sprachen der Erde oder auch nur ein irgendwie wahrscheinlicher Stammbaum der indoeuropäischen Sprachen aufstellen. Läßt sich aus den sogenannten Lautgesetzen nichts erschließen, so auch nicht aus den Ähnlichkeiten, die erst durch diese Lautgesetze vermittelt werden. Achtet man auf den Gebrauch des Wortes "verwandt" in den älteren sprachwissenschaftlichen Schriften, so wird man das Wort immer bildlich angewendet finden, nicht viel anders wie dasselbe Wort zuerst in der modernen Chemie auftritt. Allmählich schlich sich jedoch die Vorstellung ein, daß solche Sprachen wirklich verwandt seien, was genau genommen ganz unmöglich ist. Sprachen, von denen die eine unbedingt von der anderen abstammt, wie z.B. die althochdeutsche und die neuhochdeutsche Sprache, sind ja gar nicht verwandt zu nennen; es ist vielmehr eine und dieselbe Sprache, genau so wie wir ja auch den dreijährigen und den gleichen fünfzigjährigen Menschen, die dreijährige und die gleiche fünfzigjährige Eiche nicht verwandt nennen. Wo eine Vermischung zweier Sprachen vorliegt, wie in den romanischen Sprachen und noch auffallender im Englischen, da wird das Bild von der Blutsverwandtschaft noch schiefer angewendet. Und bezüglich der Ähnlichkeit zwischen dem Slawischen und dem Griechischen ist es offenbare Willkür, eine unkontrollierbare Hypothese, wenn man von Verwandtschaft spricht und dabei, mit Zuhilfenahme irgend einer entfernteren Ursprache sich unter dieser Verwandtschaft doch etwas wie die ldentität des Althochdeutschen und des Neuhochdeutschen vorstellt. Man sollte überall, wo Sprachgut auf ein jüngeres Geschlecht übergeht, von Erbschaft reden, nie von Verwandtschaft. Die Lautgesetze der neuen vergleichenden Methode sind also keine Schlüssel für die wichtigen Fragen der Sprachwissenschaft, solange wir nicht wissen, welche Ursache der Lautwandel im einzelnen hat. Sind diese Ursachen, wie anzunehmen, unendlich komplizierter Art, gehen sie auf physiologische, auf klimatische Einflüsse zurück, spielen gar Zufallsunterschiede bei der Übernahme von Lehnworten mit, so ist es eine trügerische Hoffnung, in den Lautgesetzen jemals etwas anderes zu besitzen als eine übersichtliche Tabelle beobachteter Ähnlichkeiten, welche nicht das mindeste dafür beweisen, ob die ähnlichen Worte oder Wortelemente in letzter Instanz identisch sind durch sogenannte Verwandtschaft oder identisch durch gemeinsame Entlehnung, ob endlich analog durch Lehnübersetzung. Einen so betrübenden Eindruck haben die Sprachwissenschaftler der Gegenwart von ihren Prinzipien nicht; mit bewußtem Stolze arbeiten sie bataillonsweise daran, die Hypothese von einer Verwandtschaft innerhalb der Sprachstämme und die weitere Hypothese von einer Verwandtschaft verschiedener Sprachstämme auszugestalten. Die Arbeiter auf diesem Felde sind von dieser festen Idee einer Verwandtschaft unterjocht. Es scheint ihnen nur eine Frage der Zeit zu sein, z.B. auf dem Gebiete der indoeuropäischen Sprachen das ungeheure Sprachgut jeder einzelnen Sprache methodisch zu sammeln und bis auf die letzten literarischen Denkmäler historisch darzustellen, sodann aus diesem Material die Grundsprache oder gar die Grundsprache der Grundsprachen zu erschließen und so endlich dazu zu gelangen, daß wir für die indoeuropäischen Sprachen mit Sicherheit den Stammbaum ermitteln, dessen Existenz so allgemein vermutet wird und über dessen Gestaltung nur bis heute nichts Gewisses bekannt sein soll. Ungeheuer wie das Material ist der Scharfsinn, der an seine Bearbeitung gewandt wird; keiner der Forscher scheint zu begreifen, wie unsicher schon der erste Schritt ist, der über die lebendige Sprache und die Sprachdenkmäler hinausführt, und wie jeder weitere Schritt nur mit sich steigernder Unsicherheit gemacht werden kann. Die ersten Schritte können noch zu Hypothesen führen, die weiteren zu Phantastereien. Das Bewußtsein von dieser Sachlage haben die arbeitsamen Forscher kaum, wohl aber mitunter das Gefühl, für unbekannte Zwecke ihrer Wissenschaft ziellos und alexandrinisch auf irgend einem verlorenen Fleck mit Aufbietung aller Kräfte arbeiten zu müssen. Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906 |