ra-2W. Beckervon TreitschkeC. FrantzL. Hartmann    
 
JOHANN CASPAR BLUNTSCHLI
(1808-1881)
Charakter und Geist
der politischen Parteien

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"Im Mittelalter war der naive Glaube an die Erleuchtung der Hierarchie noch in den Gemütern, heute ist derselbe wenigstens in den gebildeten Kreisen der Bevölkerung erloschen. Im Mittelalter war der Anspruch des Papsttums getragen vom Bedürfnis der germanischen Welt nach römisch-kirchlicher Erziehung und Kultur. Heute bedarf die reifere Welt jener Erziehung nicht mehr, sondern verlangt eine reichere und verständigere Geistesnahrung als die Kirche zu bieten vermag. Damals war die Politik der Kurie oft vom fortschreitenden Geist jener Zeit durchweht und vielfältig unterstützte siedie Befreiung des Bürgerstandes und der unteren Volksklassen. Heute ist die Erneuerung jener Macht erfüllt vom Geist des Hasses gegen allen Fortschritt der Zeit, der Reaktion in ein entschwundenes Zeitalter und der Unterdrückung aller freieren Regung."

III.
Die ultramontane Partei

Unter den religiös-politischen Parteien der Gegenwart ist die sogenannte  ultramontane  oder wie sie sich selber zu nennen vorzieht, die  katholische  Partei ohne Zweifel die bedeutendste und einflußreichste. Sie verdient daher vor allen anderen eine nähere Betrachtung.

Die ultramontane Partei unterscheidet sich von den eigentlichen politischen Parteien dadurch, daß ihr Geistesprinzip  außerhalb des Staates  liegt und daß sie ebendeshalb sich wesentlich vom Staat unabhängig fühlt. Wenn sie Forderungen an den Staat stellt und im Staat geltend zu machen sucht, so beruft sie sich dabei vornehmlich auf ihren  religiösen Glauben  und ihre  kirchliche Pflicht,  auf die  Autorität der Hierarchie.  Wenn sie angegriffen und von Staats wegen genötigt wird, das Staatsgesetz zu befolgen, so zieht sie sich immer zurück in die  Unantastbarkeit ihrer Religion  und des  göttlichen Gebots  und klagt über Gewissensdruck. Sie will nicht dem Staat dienen, sondern sie will, daß der Staat der Kirche diene, für deren Interessen und Absichten sie kämpft. Sie ist daher zunächst eine  religiös-kirchliche  und erst in zweiter Linie eine politische Partei. Ihre politische Stellung wird beherrscht von ihrer religiösen Meinung und ihrer kirchlichen Gesinnung. Um sie zu verstehen, muß man daher auf ihren Glauben zurückgehen.

Die ultramontane Partei behauptet vorzugsweise  katholisch  zu sein. Sie versucht es sogar, sich mit dem  Christentum  zu identifizieren. Sie erklärt, daß das ewige Gesetz ihres Lebens und Handelns kein anderes als die christliche Religion sei.

Die ganze weltgeschichtliche Entwicklung seit Jahrhunderten hat im Gegensatz zur Höhe des Mittelalters die Emanzipation des modernen Staates von der kirchlichen Vormundschaft, die Ablösung des Rechtsbegriffs und der ganzen Rechtsordnung von der Bedingung eines bestimmten religiösen Glaubens, die Entfaltung des menschlich-freien Selbstbewußtseins und die ausschließlich und volle Souveränität des Staates in allen Verhältnissen der rechtlichen Gesamtordnung und des politischen Gemeinlebens zur unabweisbaren Folge gehabt. In schroffem Gegensatz zu dieser ganzen Entwicklung will die ultramontane Partei von religiösen Ideen aus und im Dienste kirchlicher Autoritäten den Staat und das politische Leben bestimmen und leiten. Der ultramontane Gedanke ist daher wohl in Harmonie mit der  mittelalterliche  Überordnung der römischen Kirche über den germanischen Staat, aber in einem unversöhnlichen Widerspruch mit der ganzen Existenz und Richtung des  modernen  Staates und der  modernen  Kultur.

Wäre die Behauptung wahr, daß das ultramontane Prinzip gleichbedeutend sei mit Christentum und Katholizismus, so hätten die heutigen Völker nur die Wahl zwischen Christentum und modernen Staat und müßten, wenn sie bisher katholisch waren, entweder die katholische Kirche verlassen oder den modernen Staat aufgeben. Welches von beiden in dieser Alternative sie wählen würden, das könnte für die Völker von selbständigem Charakter und freiem Geist nicht zweifelhaft sein. Sie würden eher noch sich vom Christentum lossagen und eher die katholische Kirche innerhalb ihres Machtbereichs gänzlich anschaffen als auf den modernen Staat und die moderne Kultur verzichten. Die ultramontane Partei gefährdet deshalb nicht etwa nur, was am meisten in die Augen fällt, den heutigen Staat, sondern nicht minder die religiösen und kirchlichen Interessen selber, als deren Vertreter und Vorkämpfer sie sich ausgibt.

Jene Behauptung ist aber nicht wahr. Wenn der Ultramontanismus fordert, daß der Staat von der Religion bestimmt und von der Kirche beherrscht und geleitet werde, so ist diese Forderung eher  jüdisch-theokratisch  als  christlich.  Sie erklärt sich nur aus dem Irrtum, den freilich schon die Jünger CHRISTI geteilt haben, daß CHRISTUS, der jüdische Messias sei, welcher ein neues JEHOVAH geweihtes Weltreich stiften werde. JESUS selber hat diese Meinung bei jeder Gelegenheit zurechtgewiesen, indem er seinen Jüngern alle Aussicht auf Herrschaft streng benommen hat, indem er jede an ihn gerichtete Zumutung, das Recht und den Staat zu ordnen, sein Vaterland von der Herrschaft des römischen Kaisers zu befreien und sich der öffentlichen Gewalt zu bemächtigen, entschieden abgelehnt hat, indem er sich selber auch der ungerechten Behandlung und Verurteilung durch die jüdische und die römische Staatsgewalt widerstandslos unterworfen und seinen Gehorsam gegen die Obrigkeit mit seinem Tod besiegelt hat. Die christliche Religion, welche lehrt,  dem Kaiser  zu geben,  was des Kaisers ist, wie Gott, was Gottes ist,  hat also nichts gegen das Prinzip des modernen Staates einzuwenden, welches ebenso wie das des alten Römerreiches, von welchen CHRISTUS sprach, sein Recht und seine Politik  menschlich  und  volksmäßig  begründet. Sie verwirft vielmehr die ultramontane Vermengung des Reiches Gottes mit dem Staat des Kaisers und will nicht, daß die religiösen Gefühle zu politischen Zwecken mißbraucht werden.

Eher noch gelingt es der ultramontanen Partei, den Schein hervorzubringen, daß ihr Prinzip und der  Katholizismus eins sei.  Ihr Ideal eines von der Hierarchie beherrschten Gottesreiches stimmt in der Tat in seinen wesentlichsten Zügen mit dem Ideal GREGORs VII. und INNOZENZ III. überein. Diese beiden großen Päpste aber sind unzweifelhaft, wie die eigentlichen Begründer der päpstlichen Weltherrschaft, so auch die Hauptrepräsentanten des mittelalterlich-römischen Katholiszismus mit seinen hierarchischen Ansprüchen. Der römisch-katholische Klerus hat sich während Jahrhunderten hoch über der Laienwelt gedacht und das Papsttum hat in der Tat bald geradezu auf Umwegen und mittelbar eine Weltherrschaft angestrebt, in welcher selbst den Kaisern nur die Rolle von päpstlichen Vasallen zugestanden wurde. Diese ganze Weltansicht der mittelalterlichen Kirche hat sowohl im kanonischen Recht, als auch im päpstlichen Zeremoniell einen festen Ausdruck gewonnen, der heute noch eine gewisse Autorität behauptet. Die Kirche hat überdem in ihren Ämtern und Orden Organe geschaffen, welche der Behauptung solcher Macht dienstbar sind. Die Erhebung des Papsttums über das Kaisertum im Mittelalter und die ganze stolze Organisation der römisch-katholischen Kirche bilden den großen geschichtlichen Hintergrund, auf den sich der Ultramontanismus beruft.

Dennoch ist auch diese Gleichstellung falsch. Es widersprechen ihr sowohl die  ältere  Geschichte der katholischen Kirche als die  neuere  Entwicklung der Weltgeschichte.

Es ist ebenso unbestreitbar, daß die katholische Religion und Kirche während vieler Jahrhunderte bestanden hatte und in innerem Wachstum begriffen war, bevor die Päpste es wagten, sich den Kaisern überzuordnen. Nicht bloß den altrömischen Kaisern, welche zumeist in Konstantinopel residierten, galten die Bischöfe der alten Hauptstadt Rom noch durchaus wie die anderen Bischöfe des Reichs als römische Bürger und Untertanen. Auch die fränkischen Kaiser und sogar die deutschen der ersten Jahrhunderte, welche in den römischen Bischöfen die höchste geistliche Würde verehrten, betrachteten die Päpste doch noch als ihre, wenn auch bevorzugten Untergebenen. Die Päpste behaupteten damals als oberste Priester und Träger des Primats den höchsten Rang innerhalb der kirchlichen Hierarchie, aber sie erhoben noch keinen ernsten Anspruch auf Weltherrschaft. HEINRICH III. noch setzte Päpste ein und ab und selbst der stolze HILDEBRAND wagte es noch nicht, ihm den Gehorsam zu kündigen.

Ebenso entschieden widerspricht jener Annahme die spätere weltgeschichtliche Entwicklung. Es ist den Päpsten doch niemals gelungen, eine wirkliche Weltherrschaft, wie sie in der kirchlichen Theorie verlangt wurde, herzustellen. Obwohl auch das deutsche Kaisertum schließlich im Wettkampf unterlag, sein Widerstand hinderte dennoch die Begründung einer vollen Theokratie in Europa; und bald erwiesen sich die Könige von Frankreich, die italienische Republik und die deutschen Kurfürsten stark genug, auch der päpstlichen Hierarchie zu trotzen. Seit dem fünfzehnten Jahrhundert unternahmen es die Fürsten und Völker wieder, beleuchtet von den Ideen des Altertums, die staatliche Selbständigkeit und Hoheit wieder aufzurichten. Die Kirchenreform führte weiter, was die Renaissance vorbereitet und eingeleitet hatte. Auch in den Ländern, welche nach der deutschen Kirchenreform katholisch geblieben sind, ist die Hierarchie aus ihrer mittelalterlichen Herrschaft verdrängt und den Staatsgesetzen unterworfen worden. Der katholische Klerus selbst fing im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert an, sich der nationalen Richtung zu und von Rom abzuwenden. In Frankreich, in Italien, in Deutschland versuchten es die Bischöfe der katholischen Kirche, eine von der Römerherrschaft unabhängigere vaterländische Stellung einzunehmen. Trotzdem hat sich der Katholizismus als Religion und Kirche auch damals erhalten.

Der Ultramontanismus ist also nicht gleichbedeutend mit dem Katholizismus, sondern nur mit  der Partei innerhalb des Katholizismus,  welche in unserer Zit die mittelalterlichen Prätensionen [Wichtigtuereien - wp] der römischen Kirche und des römischen Klerus erneuern will. Bekanntlich ist dies das Streben voraus des  Jesuitenordens,  der in unseren Tagen mit größerem Erfolg als seit Jahrhunderten sich der Leitung der Kirche zu bemächtigen gewußt hat. Der Ultramontanismus unternimmt es, die moderne Welt wieder zurückzutreiben und zurückzuführen in die kirchlich-politischen Zustände des Mittelalters. Eben deshalb ist er unverträglich mit der ganzen Geistesbildung der Neuzeit.

Im Mittelalter hatte die Oberherrlichkeit des Papstes und die Überordnung der katholischen Priester noch ein gewisse innere Berechtigung, weil wirklich das Papsttum dem Kaisertum und der Klerus den Laien an Charakter und Bildung überlegen war. Heute hat sie keine innere Berechtigung mehr, weil heute umgekehrt die weltliche Bildung und sittliche Tatkraft der priesterlichen überlegen ist. Zwar wird das von den Ultramontanen geleugnet. Aber wer die Entwicklung irgendeiner Wissenschaft oder Kunst während der letzten Jahrhunderte überschaut oder die Schöpfungen der Humanität und der allgemeinen Wohlfahrt, welche wir der staatlichen und weltlichen Arbeit verdanken, mit den Werken vergleicht, welche durch Impulse der katholischen Kirche entstanden sind, wird die Wahrheit jener Erfahrungssätze bestätigt finden. Im Mittelalter war der naive Glaube an die Erleuchtung der Hierarchie noch in den Gemütern, heute ist derselbe wenigstens in den gebildeten Kreisen der Bevölkerung erloschen. Im Mittelalter war der Anspruch des Papsttums getragen vom Bedürfnis der germanischen Welt nach römisch-kirchlicher Erziehung und Kultur. Heute bedarf die reifere Welt jener Erziehung nicht mehr, sondern verlangt eine reichere und verständigere Geistesnahrung als die Kirche zu bieten vermag. Damals war die Politik der Kurie oft vom fortschreitenden Geist jener Zeit durchweht und vielfältig unterstützte sie die Befreiung des Bürgerstandes und der unteren Volksklassen. Heute ist die Erneuerung jener Macht erfüllt vom Geist des Hasses gegen allen Fortschritt der Zeit, der Reaktion in ein entschwundenes Zeitalter und der Unterdrückung aller freieren Regung. Damals war die Herrschaft der Hierarchie Kraft und Leben, heute ist sie ein Gespenst, das die Welt anwidert.

Trotz ihrer Unnatur hat aber die ultramontane Partei noch eine nicht zu unterschätzende Macht und ist durchaus nicht ohne Gefahr für den heutigen Staat. Der große geschichtliche Hintergrund, auf welchen sie sich beruft, gibt ihr eine Autorität, welche nicht allein die zur Romantik geneigten Individuen mächtig anzieht und beherrscht, sondern auch auf die zahlreichen Volksklassen einen herkömmlichen starken Einfluß übt. Die römisch-katholische Kirche mit ihrer wohlgeordneten Hierarchie, mit der eingeschulten Unterwürfigkeit der Pfarrer unter die Bischöfe, der Bischöfe unter die päpstliche Kurie, mit den zahlreichen durch alle Länder verzweigten Orden, welche einem einheitlichen Regiment dienen und bald den Klerus selber kontrollieren und stacheln, bald einzelne Laien zu gewinnen verstehen, die Kirche mit ihren mystischen Heils- und Gnadenmitteln und mit ihrer Kunst, auf das geängstigte Gemüt durch die Hinweisung auf die Gefahren des Todes zu wirken und die Phantasie mit grausamen Bildern des Fegefeuers und der Hölle zu schrecken, gewährt der ultramontanen Richtung fast überall willige Unterstützung und dient ihr zu einer sicheren Zuflucht vor der zürnenden Staatsgewalt. Indem die ultramontane Partei das religiöse Gefühl der Menschen und besonders der Frauen, leidenschaftlich aufzuregen und in ihrem Sinne zu stimmen weiß, treibt sie die Wurzeln ihrer Macht in die Tiefe der Menschenseele hinein und zieht daraus eine Fülle von Kräften an sich. Sie ist nicht leicht anzugreifen. Mit Vernunftgründen ist sie nicht zu überzeugen, denn sie achtet den unwiderleglichen Glaubenseifer für höher als das folgerichtige Denken. Über die Macht des irdischen Staates erhebt sie die Autorität der himmlischen Kirche. Sogar die Gesetze und Pflichten der Sittlichkeit und der Humanität gelten ihr wenig, wenn ihre Interessen damit in Konflikt kommen. Sie rechtfertigt sich immer wieder durch den wirklichen oder den geheuchelten Glauben an ihr göttliches Recht und an die heiligste Autoritä der Kirche, die über alle Vernunft und über alle andern Gesetze der Staates und der Welt erhaben sei.

Die ultramontane Partei wird geleitet von einem kleinen Verband, von einer Sekte von Menschen ohne Vaterland und ohne Familie, deren Sinnen und Trachten ausschließlich der Herrschaft der Hierarchie gewidmet sind. Die Organisation des  Jesuitenordens  bildet den festen Kern, an den sie sich anschließt. Wie dieser Orden ist sie beharrlich in ihrem Prinzip, rücksichtslos in ihren Mitteln und kühn in ihren Zielen. Sie wird nicht durch die Schranken eines Landes oder einer Nationalität eingeengt. Sie ist universell und findet in allen Ländern und unter allen Völkern ihre Getreuen und ihre Freunde. Sie hat auch in den heutigen Staaten manche politische Siege durch schleichende Intrige erlistet, zuweilen auch durch einen wilden Sturmlauf der fanatischen Menge erzwungen. Sie wirkt bald insgeheim durch die "frommen" Frauen auf die schwachen Männer, bald offen durch die aufgeregten Massen. Sie schleicht sich vornehmlich in die Kreise der vornehmen Gesellschaft ein und baut ihre Nester mit Vorliebe in den Schlössern des Adels und an den Höfen der Fürsten. Sie beutet die verborgenen Schwächen und die heimlichen Sünden der Machthaber aus, um ihre Gewalt über dieselben zu befestigen. Geschickt verbindet sie weltmännische Nachsicht mit kirchlicher Strenge. Seit einem halben Jahrhundert, besonders aber seit der Reaktion des Jahres 1851 gegen die Revolution von 1848 hat sie in allen Ländern Europas starke Fortschritte gemacht. Wenn sie im einen Land eine Niederlage erfuhr, so erholte sie sich und rächte sich dafür in einem andern Land. Sie agiert als ein grßer über die einzelnen Staatsgebiete hinausragender Körper. Sie führt den Kampf als eine  universelle Partei  und unternimmt es, den Widerstand der besonderen Staatsparteien durch das Schwergewicht einer  Weltmacht  zu überwinden.

Was sind die Früchte ihrer Siege, die Wirkungen ihrer Fortschritte? Die Geschichte läßt uns nicht im Zweifel darüber. Sie sind überall, wo wir sie erfahrungsmäßig wahrnehmen, in Frankreich und in Italien, in Belgien und in der Schweiz, in Spanien und in Österreich, in den norddeutschen Rheinlanden und im süddeutschen Bayern wesentlich dieselben. Soweit die Macht des Ultramontanismus reicht, wird der Geist der Nation verdüstert, die allgemeine Volksbildung gehemmt, die Bildung der höheren Klassen durch geistliche Abrichtung verdorben, aller wirtschaftliche Fortschritt erschwert, alle Vervollkommnung der industriellen und technischen Gewerbe gebunden, in den Familien Unfrieden und Mißtrauen ausgesät, die Seelen bald durch geistlichen Hochmut aufgebläht bald mit banger Sorge geängstigt, das Selbstvertrauen der Völker und der Einzelnen geknickt und gedemütigt, jede freie Regung des Geistes unterdrückt, die Wissenschaft in unwürdigster Weise von der Kirche geknechtet, der Staat entmannt und entwürdigt, das moderne Leben versumpft und erstickt. Jeder Sieg der ultramontanen Partei bedeutet eine Niederlag der menschlichen Kulturentwicklung und der Zivilisation. Nur die Orden und die Klöster werden reich, nur die Hierarchie mächtig; das Volk verarmt und verdummt und der Staat versinkt.

Für Deutschland ist der Ultramontanismus umso gefährlicher, je mehr die deutsche Nation des konfessionellen Friedens bedarf und diesen nur in der religiösen Freihei und in der Unabhängigkeit des Staatslebens von den kirchlichen Einrichtungen finden kann. Er ist das größte Hindernis der deutschen Einigung und der fröhlichen Entfaltung des deutschen Geistes. Die deutsche Nation war und ist weltgeschichtlich berufen, die Welt von der absoluten Herrschaft Roms zu befreien und der persönlichen Freiheit der Einzelnen und der Völker, welche von Rom früher staatlich später kirchlich niedergedrückt ward, Luft und Licht zu ihrem Wachstum zu verschaffen. Dieser Lebensaufgabe der deutschen Nation arbeitet die ultramontane Partei in blindem Eifer entgegen. Ihre Sünde ist die Sünde gegen den heiligen Geist, welcher die Menschheit bewegt.

Wenn aber der Ultramontanismus eine so gefährliche und schädliche Macht ist, so verdient die Frage, wie demselben zu begegnen sei, eine nähere Prüfung.

Solang die ultramontane Partei die staatliche Rechtsordnung nicht verletzt, kann und darf die Staatsgewalt ihr nicht strafend entgegentreten. Der moderne Staat gewährt auch dem Irrtum Freiheit und unterdrückt niemals den religiösen Glauben, auch nicht, wenn er denselben für törichten Aberglauben hält. Eine staatliche Verfolgung der Ultramontanen als solcher, etwa ihre Verbannung, wäre daher im Widerspruch mit dem humanen Geist und dem Rechtsbewußtsein des modernen Staates, wenngleich in prinzipiellem Einklang mit dem System der römisch-katholischen Kirche, welche heute noch die mittelalterliche Forderung, alle Häretiker auszurotten, ihrerseits festhält.

Damit soll aber nicht gesagt sein, daß auch das Verbot des  Jesuitenordnes  und die Nichtzulassung der Jesuiten zu öffentlichen Funktionen in der Kirche oder Schule ungerechtfertigt sei; denn der Jesuitenorden ist notorisch als eine staatsfeindliche Macht organisiert und gehorcht blindlings - auch aller Staatsordnung und allen bürgerlichen Gesetzen zum Trotz - den Befehlen einer auswärtigen Autorität, des in Rom residierenden Generals und seiner Unterbeamten. Der Jesuitenorden ist eine organisierte Verschwörung gegen den konfessionellen Frieden und gegen den geistigen Fortschritt der Welt. Seine Gemeingefährlichkeit ist durch die Erfahrungen der Geschichte erwiesen. Als er von Papst CLEMENS XIV. im Jahr 1773 endlich, seiner verderblichen Wirksamkeit wegen aufgehoben wurde, fühlte auch das katholische Europa sich von dem drückenden Alp erlöst, welcher seinen Atem beschwert hatte. Seitdem er durch den Papst PIUS VII. im Jahr 1814 wieder hergestellt wurde, zeigten sich in Bälde überall dieselben schädlichen Folgen, wohin sein Netz ausgespannt ward. Man darf daher dem modernen Kulturstaat ebensowenig zumuten, daß er diesen offenbaren Feind in seinem Innern gewähren lasse, als dem Kulturland, daß es die Wölfe ertrage. Dem Individuum freilich bleibt es in einem freien Staat unverwehrt, auch eine jesuitische Gesinnung und sich selbst als Jesuiten zu bekennen. Wenn er aber die militärisch-politische Organisation des Ordens, seine Residenzen, Prozeßhäuser, Kollegien, Schulen, Konvikte, duldet und seine Missionen zuläßt, so nährt er eine Schlange an seinem Busen und gefährdet damit seine eigene Gesundheit und Wohlfahrt. FRIEDRICH der Große konnte ohne erhebliche Gefahr dem Jesuitenorden eine Zuflucht gewähren, als derselbe aus allen katholischen Staaten vertrieben wurde, indessen ist dieselbe Großmut dem russischen Zaren doch mit schwarzem Undank vergolten worden. Für das Wachstum des heutigen deutschen Staates aber ist die Ausbreitung des Jesuitenordens in den katholischen Provinzen Preußens eine der größten Gefahren, weil derselbe den konfessionellen Hader schürt und die gemeinsame nationale Gesinnung und Bildung, so weit sein Einfluß reicht, verhindert. Der Friede von ganz Europa wird erst dann wieder gesichert sein, wenn eine zweite päpstliche Aufhebungsbulle den Orden für immer auflöst oder die Staaten sich wieder insgemein entschließen, ihre schädliche Duldung dieser staatsfeindlichen Anstalt aufzugeben.

Man darf ferner die Ultramontanen nicht als solche grundsätzlich ausschließen von den öffentlichen Stellen und Ämtern im Staat und in den Gemeinden. Einmal nämlich sind die bürgerlichen Wahlrechte und die Fähigkeit zu den Ämtern nicht abhängig von irgendeiner religiösen Meinung noch von einer politischen Parteirichtung. Sodann hat auch der Ultramontanismus eine relative Berechtigung teils insofern als er sich an eine Weltansicht anschließt, welche im Mittelalter geradezu die herrschende war und heute noch eine weltgeschichtliche Bedeutung hat, teils indem er im Gegensatz zu Irreligiösität und Frivolität auch die religiös-kirchliche Seite im modernen Volksleben nachdrücklich repräsentiert. Endlich pflegen die Menschen nicht konsequenz zu sein in ihren Handlungen. Es kann daher leicht vorkommen, daß ein Ultramontaner, der im Prinzip die ganze Existenz des modernen Staates bestreitet, trotzdem dem wirklichen modernen Staat als Verwaltungsbeamter oder Richter oder Offizier treu und willig dient und zugleich vortreffliche Dienste leistet. Der moderne Staat würde sich daher eines Teils seiner Kräfte selber berauben und die natürliche Rechtsgleichheit kränken, wenn er alle diese Individuen von den Ämtern ausschlösse.

Aber Vorsicht ist allerdings geboten bei der Besetzung der öffentlichen Ämter mit ultramontan gesinnten Personen. Der moderne Staat macht den Bock zum Gärtner, wenn er die politische Leitung den Ultramontanen überläßt. Im Mittelalter und sogar noch bin in die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hinein hatte man ohne große Bedenken und mit Vorliebe Kardinäle, Bischöfe, Äbte zu Staatsministern gemacht. Diese Gefahr, daß die Staatsgewalt in die Hände des Klerus gegeben werde, ist durch die Sitte der neuen Zeit glücklich abgewendet. Aber was viel schlimmer und viel gefährlicher für den modernen Staat ist, das geschieht heute noch oft: es werden ultramontane Laien, d. h. geistige Knechte des Klerus, zu Verwaltern der Staatsgewalt erhoben. Das Übel und die Gefahr sind deshalb größer, weil sich beide leichter verbergen und weniger beachtet werden. Gegenüber dem offenkundigen Priester wäre das Mißtrauen wach, daß er den Staat nach dem Willen der Kirche lenke, der ultramontane Laie ist nicht minder von der Hierarchie abhängig, aber entgeht leichter jedem Verdacht, daß er die staatliche Machtstellung im Dienste der Kirche mißbrauche.

Die Ultramontane partei ist demgemäß nach ihrer Natur und Tendenz für den modernen Staat  keine regierungsfähige  Partei. Sie ist vielmehr notwendig auf die  Oppositionsstellung  angewiesen.

Sehr schädlich wirkt im Kampf mit dem Ultramontanismus jede Zaghaftigkeit und jede Unsicherheit in der prinzipiellen Haltung der Staatsgewalt. Der Ultramontanismus ist zwar beschränkt in seinen Ideen und kurzsichtig auf seinen Wegen, aber er ist zugleich voll Zuversicht auf die Größe und Heiligkeit seiner Sach. Wo er daher ein unsicheres Tasten und Schwanken in den Maßregeln des Staates wahrnimmt, da schließt er rasch entweder auf ein schlechtes Gewissen der leitenden Staatsmänner oder auf ihre Schwäche und dieser Schluß ermutigt die Partei und reizt sie zu erhöhter Anstrengung.

Darüberhinaus müssen die Ultramontanen, die noch im Gedankenkreis der Vergangenheit zurückgeblieben sind, erst zum modernen Staat erzogen werden, der ihnen als etwas Fremdes unverstanden gegenübersteht. Für den Erzieher aber ist es dringend nötig, daß er sich vorerst Respekt verschaffe bei dem, die seiner Erziehung bedürfen. Diesen Respekt bringen die Ultramontanen keineswegs dem Staat entgegen. Vielmehr sind sie auch darin in mittelalterlichen Vorstellungen befangen, daß sie den Staat nur als leibliches und irdisches Reich kennen und ihn deshalb gering schätzen im Vergleich mit der Kirche, in der sie das geistige und ewige Reich Gottes verehren. Deshalb bedürfen sie vorerst gar sehr der  strengen und strammen Rechtszucht  des modernen Staates, welcher sie mit starker, eiserner Gewalt zwingt, der gesetzlichen Ordnung auch dann Folge zu leisten, wenn sie infolge ihrer kirchlich-religiösen Vorurteile derselben abgeneigt sind. Sodann muß ihnen die  Hoheit,  die  Weisheit  und die  Schöpferkraft  auch des  politischen Geistes  unabweisbar vor die Seele treten, damit sie die Überlegenheit des männlichen Staatsgeistes über den weiblichen Kirchengeist erkennen lernen und daher die Autorität des Staates ihnen in einem helleren Licht erscheine, als sie erwartet hatten, solange noch der Nebel überlieferter Irrtümer ihre Sinne umgab. Weil die ultramontane Partei hinter der Kultur- und Staatsentwicklung der neuen Zeit zurückgeblieben ist, so muß ihnen nun die staatliche Erziehung zu Hilfe kommen und ergänzen, was die kirchliche Erziehung versäumt hatte.

Die Religion und das religiöse Gesetz der Menschen ist die Quelle, aus welcher der Ultramontanismus seine Berechtigung und seine Macht ableitet. Daher meinen viele Gegner desselben, er werde nur dann gründlich besiegt werden, wenn die Macht der Religion in den Gemütern der Menschen vorerst gebrochen werde. Die radikale Meinung, welche alle Religion als Torheit verlacht und das Christentum als Aberglauben ausrotten will, hat in neuester Zeit manche und oft beredte und schlagfertige Verteidiger gefunden. Noch mehr ist die Ansicht verbreitet, daß der Ultramontanismus im Katholizismus anzugreifen sei und daß man die katholischen Lehren und Autoritäten stürzen müsse, wenn der Ultramontanismus gänzlich erliegen und verschwinden solle.

Diese Auffassung schließt einen gefährlichen Irrtum ein. Würde der Kapmf statt gegen den Ultramontanismus, der die religiösen Gefühle mißbraucht und mißleitet, gegen die Religion selbst unternommen, so würde das Gewissen der Menschheit verwundet und empört und der wahnwitzige Angriff auf die heiligsten Beziehungen der Menschen zu Gott würde jämmerlich zurückgeschlagen. Dem Ultramontanismus würden dann auch viele seiner Gegner zu Hilfe kommen. Es würden ihm alle die tatsächlich beistehn, denen die Religion als ein unschätzbares Gut teuer ist.

Aber selbst wenn der Angriff die Religion sorgfältig schonte, aber statt der ultramontanen Partei, welche doch nur eine extreme Richtung in der katholischen Kirche bedeutet, die ganze katholische Kirche in ihrer Existenz bedrohte, so würde auch ein solcher Kampf die Stellung des Ultramontanismus eher stärken als schwächen und könnte leichter zu vorübergehenden Siegen statt zu dauernden Niederlagen desselben führen. Die ganze freiere, national und human gesinnte Richtung innerhalb des katholischen Klerus, welche freilich zur Zeit von der jesuitisch-hierarchischen eingeschüchtert und niedergedrückt ist, würde dann wider Willen in das feindliche Lager gedrängt, es würden das Ehrgefühl, die Treue an der überlieferten Sitte und alle von der Jugend her anerzogenen und eingeimpften Vorurteile auch in der katholischen Laienwelt zu Widerspruch und Widerstand aufgeregt. Der Ultramontanismus würde seine Macht verzehnfacht sehen, wenn es ihm gelänge, sich den Nationen als Verteidiger der katholischen Religion und Kirche darzustellen, wenn er die Welt glauben machte, daß die Fortdauer derselben durch seinen Sieg, ihr Untergang durch seine Niederlage bedingt seien.

Das religiöse Bedürfnis ist unzerstörbar in den Herzen der Menschen lebendig und die katholische Kirche ist noch auf lange Zeit hin eine Weltmacht, welche auf viele Millionen Menschen, auf Hohe und Niedere einen mächtigen Einluß ausübt. Die politischen Parteien müssen daher in ihrem Kampf gegen den Ultramontanismus sogar den Schein mit äußerster Sorgfalt vermeiden, daß sie die Religion antasten und den Katholizismus vernichten wollen, wenn sie dem Mißbrauch jener und der Abirrung dieses entgegentreten.

Unter allen Umständen lassen sich die Interessen der Religion von denen des Ultramontanismus unterscheiden und es können sehr wohl jene gewahrt bleiben und dieser bekämpft werden. Aber nicht immer ist es möglich, während des Kampfes die katholische Kirche und die ultramontane Partei ebenso für jedermann deutlich zu trennen, dann nicht möglich, wenn die legitmen Vertreter der katholischen Kirche, wenn Papst und Bischöfe sich selber mit der ultramontanen Partei identifizieren. Das aber geschieht gegenwärtig auf dem ganzen Kampffeld. In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts standen in Frankreich, in Deutschland und teilweise auch in Italien die Bischöfe an der Spitze der freieren Richtung innerhalb der katholischen Kirche. In unseren Tagen hat sich beinahe der ganze hohe Klerus der jesuitisch-reaktiönären Richtung mit Eifer ergeben. Der Papst PIUS IX. selber, welcher in der ersten Zeit seiner Regierung noch als Freund der nationalen Befreiung Italiens von der Fremdherrschaft und politischer Reformen aufgetrete war, ist später ganz von der Jesuitenpartei umstrickt und auf die Wege der Reaktion getrieben worden. Seine  Encyclica  vom 8. Dezember 1864 und der sie begleitende sogenannte  Syllabus Errorum  sind zwei unzweideutige Kriegsmanifeste gegen die ganze moderne Geisteskultur, gegen die Prinzipien des modernen Staates und gegen alle liberalen Strebungen der Völker. Durch diese beiden Aktenstücke haben die Voraussetzungen und Ansichten der ultramontanen Partei großenteils eine amtliche Bestätigung erhalten und ihr Parteieifer ist durch diese Autorisation angeregt und gutgeheißen worden. Ausdrücklich wird im Namen des heiligen Stuhls erklärt, daß er der modernen Zivilisation, dem Fortschritt und dem Liberalismus unversöhnlich entgegenstehe (Error 80).

Wie wenig dieses päpstliche System heute noch durchführbar ist, wird freilich daraus klar, daß sich keine einzige Regierung diesen Aussprüchen und Forderungen des Papstes unterwarf, daß sogar die katholischen Regierungen wie die von Frankreich, Italien und Belgien geradezu der Anwendbarkeit der päpstlichen Sätze widersprachen und ihre Befolgung untersagten oder doch wie die österreichische erklärten, daß dieselben keine Änderung der bestehenden Rechtsordnung zur Folge und demgemäß keine den Staat bindende Wirkung haben. Aber es bleibt trotzdem eine sehr bedenklich Erscheinung, daß auch nicht  eine  Staatsregierung es unternahm, den päpstlichen Angriff von den Prinzipien der modernen Staats- und Rechtsbildung, der freien Wissenschaft und der persönlichen Gewissensfreiheit ebenso öffentlich, wie er unternommen war und ebenso grundsätzlich zurückzuweisen und die  Irrtümer des Papstes  offen als Irrtümer zu erklären.

Dieses lässige Verhalten der Staatsautorität, zunächst in vorzugsweise katholischen Ländern wurde von den Instinkten der Völker nicht als Geringschätzung der klerikalen Autorität noch als Schonung des greisen Papstes, sondern als eigene Unklarheit über die Tragweite des prinzipiellen Weltkampfs und als Schwäche ausgelegt. Die schüchterne Ablehnung von Seite der Staaten schreckte daher die ultramontane Partei durchaus nicht ab. Im Gegenteil nur umso kecker, rücksichtsloser und leidenschaftlicher wurden seither ihre Angriffe fortgesetzt und gesteigert. Die römische Kurie aber bereitete sich vor, die Haltung und Entscheidung des Papstes durch die Billigung und Förderung eines großen  ökumenisch  genannten  Kirchenkonzils  zu bestätigen und zu verstärken.

Wenn das Konzil dieses Jahres in der eingeleiteten Weise zustande kommen und die erstaunte Welt wie im Mittelalter Papst und Bischöfe wiederum zu Rom versammelt sehen wird als oberstes universelles Organ der römisch-katholischen Kirche, so wird an die modernen Staaten mit katholischer und mit gemischter Bevölkerung die ernste Alternative herantreten, ob sie sich, wie im Mittelalter, der Autorität der geistlichen Hierarchie in den Dingen des Geistes unterordnen oder ob sie, dem fortgeschrittenen Geist der Neuzeit entsprechend, die Unfehlbarkeit des Papstes und der Konzilien als Aberglauben grundsätzlich verwerfen und den Klerus nötigen werden, sich den Staatsgesetzen pflichtgemäß zu unterwerfen.

Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die moderne Kultur, die geistige Freiheit und der moderne Staat nochmals auf einen großen, hoffentlich letzten Weltkampf mit der ultramontanen Partei und mit der katholischen Hierarchhie gefaßt sein muß. Ein wirklicher und dauernder Friede ist nicht mehr möglich, bis die Kirche ihre erneuerten Prätensionen von Weltherrschaft gänzlich fallen läßt, bis sie die Hoheit und die Freiheit des Staates im gesamten Bereich der Rechtsbildung und des Volkslebens mindestens tatsächlich anerkennt, bis sie die Unabhängigkeit der Wissenschaft von ihrer Leitung respektieren lernt und die persönliche Gewissens- und Bekenntnisfreiheit auch der Individuen nicht mehr grundsätzlich verwirft und verletzt, bis der Klerus sich der allgemeinen Rechtsgleichheit fügt und auf die Anmaßung verzichtet, eine privilegierte Stellung über der Laienwelt einzunehmen. Dazu wird sich aber die katholische Kirche noch lange nicht verstehen und sie wird selbst vor der überwältigenden Notwendigkeit der wirklichen Machtverhältnisse sich nur widerstrebend und nur unter Protesten beugen. Für die nächste Zukunft ist daher kein Friede zu hoffen, sondern höchstens ein Wechsel zwischen offenem Hader und zeitweisen Waffenstillstand. Je jesuitischer der Nachwuchs des jungen Klerus gegenwärtig erzogen wird, umso wahrscheinlicher wird es, daß nicht einmal ein einstweiliger modus vivendi [Lebensart - wp] eine relative Waffenruhe sichere, sondern der fortwährende Streit zur unerquicklichen Regel werde.

So geneigt der moderne Staat ist, seinerseits der  Kirche  für ihre religiösen Verhältnisse  volle Freiheit  zu gewähren, so wird auch dadurch keine Friede gewonnen, weil die Kirche im Sinne der ultramontanen Lehre unter ihrer Freiheit  ihre bindende Herrschaft über andere  versteht und eben diese Herrschaft der Staat niemals zugestehen kann. Im Namen ihrer Freiheit fordert sie dann die Unterdrückung all dessen, was sie Irrlehre heißt, Ausrottung der Ketzer, unbedingte Unterwerfung unter ihre Glaubensgesetze, Ungültigkeit der Staatsgesetze, welche ihren Anmaßungen widerstreiten, ausgedehnteste Disziplinargewalt über die untere Geistlichkeit auf der Seite der Bischöfe und der römischen Kurie über die Bischöfe und die Kardinäle, die Leitung der Volksschule usw., alles Dinge, welche der Staat nicht zugestehen kann, weil er die Pflicht hat, die Freiheit aller zu schützen. Die Freiheit, welche ihr der Staat anbietet, ist wesentlich  dieselbe  Freiheit, welche er jeder Person gewährt und deshalb auch  gehalten  und  beschränkt  durch die  allgemeine Freiheit.  Die Freiheit, welche die Kirche anspricht, ist die  privilegierte Freiheit,  welche die Freiheit aller andern unterdrückt.

Auch die  Scheidung  von Staat und Kirche ist in unserem alten Europa nicht so leicht durchzuführen, wie in der neuen Welt von Amerika, weil überall in allen Familien, Körperschaften, Gemeinden und im ganzen Gemeinwesen staatliche und kirchliche Einrichtungen von Alters her mit einander verbunden und ineinander verflochten sind und sowohl die Sitten als oft auch die Interessen einer Ausscheidung erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Allerdings ist eine  grundsätzliche Sonderung  der staatlichen und kirchlichen Dinge ein Bedürfnis der Zeit und entspricht der  schärferen  Unterscheidung nach Grund und Zweck,' durch welche sich die moderne Rechtsbildung überhaupt von der mittelalterlichen in allen Institutionen unterscheidet. Sehr viel kleiner Streit wird dadurch abgeschnitten, daß das Gebiet abgesondert und abgegrenzt wird, in welchem die Kirche mit freier Selbstbestimmung nach ihrer eigenen Weise lebt, nicht gehindert, sondern geschützt vom Staat, der in seinem Gebiet ebenso mit Freiheit schaltet. Das ist der Sinn der modernen Forderung:  "Freie Kirche in freiem Staat".  Aber einmal sträubt sich die ultramontane Partei gegen diese Scheidung und PIUS IX. hat die "Sonderung von Kirche und Staat" unter den Irrtümern aufgeführt (Satz 55), die er verdammt. Ihr eigener Gedanke wird richtiger durch die Formel ausgedrückt:  "Unfreier Staat in freier Kirche".  Sodann gibt es doch eine Reihe von Berührungen der staatlich-rechtlichen Gewalt und der religiös-sittlichen Autorität auf demselben Gebiet. Indem sie dieselben Gegenstände von verschiedenen Standpunkten aus betrachten und sich darüber aussprechen, können sie leicht miteinander in Widerspruch geraten und es hilft nicht aus dem möglichen Konflikt heraus, daß jede der beiden Persönlichkeiten sich auf ihre Freiheit beruft.  Eben ihre Freiheit treibt den Konflikt hervor.  Die einzelnen Menschen können dann Zweifel haben, welcher von beiden Autoritäten sie folgen sollen; denn beiden zugleich zu willfahren ist unmöglich, wenn beide in entgegengesetzter Richtung auseinander treiben. Gerade darum ist ein fortgesetzter Streit zwischen dem Staat und der Kirche für beide schädlich und gefährlich, weil er die Harmonie des religiösen und des politischen Lebens in den Individuen und den Familien auflöst und überall in der Nation einen Zwiespalt der Köpfe und der Herzen hervorruft und unterhält.

In diesen unvermeidlichen Kämpfen muß sich der Staat bewußt bleiben, daß er nicht bloß die eigenen Interessen zu wahren, sondern zugleich die religiösen und sittlichen Güter zu schützen und zu erhalten hat, deren natürliche Vertreterin zunächst die Kirche ist und daß er es mit einem mächtigen Gegner zu tun hat, der jede Schwäche und jede leidenschaftliche Überhebung der Staatsgewalt mit schlauer Umsicht und erfolgreicher Energie zu seinen Gunsten ausbeutet. Wenn der Staat den Mann im Großen darstellt, so repräsentiert die Kirche die Frau im Großen und oft schon haben in der Weltgeschichte wie im häuslichen Leben die Tränen der Frau die Stärke des Mannes besiegt. Die katholische Kirche ist nun einmal eine sehr vornehme Dame, welche zwar nicht mehr wie im Mittelalter große Heere von Kreuzfahrern ins Feld führen kann, aber durch ihre stillen Einwirkungen im Generalbstab des mächtigen Staates selber Unruhe und Verwirrung zu stiften vermag. Die Bannstrahlen des Papstes, die Interdikte der Kurie schrecken nicht mehr, aber die heimlichen Intrigen an den Höhgen und die Aufwiegelung der ungebildeten Volksklassen bereiten dem Staat heute noch ernste Gefahren.

Während der Kämpfe der zwei letzten Jahrzehnte haben die Staaten nur selten die nötige Vorsicht mit der unentbehrlichen Energie verbunden und sind deshalb aus haltbaren Stellungen weggedrängt worden und haben manches Treffen verloren. Zuweilen haben sie die ererbten Schutzmittel großmütig aus der Hand gegeben. So haben sie in der Zeit der europäischen Revolution von 1848 auf das Placet gegen krichliche Erlasse verzichtet, ohne das Verfahren gegen den Mißbrauch der krichlichen Autorität (recursus ob abusum [Beschwerde wegen Mißbrauch - wp] zu regeln. Sie haben die Präventivmittel weggeworfen und zugleich die Repressionsmittel vernachlässigt. Sie haben der römischen Kirche volle Selbständigkeit und eine Fülle neuer Rechte gewährt und kaum darauf geachtet, daß dieselbe ihrerseits das Recht des Staates nicht anerkenne und die gewährten Mittel vorzüglich dazu gebrauche, die allgemeine Freiheit zu bestreiten. Zum Abschluß von Konkordaten seit dem Vorgang Österreichs von 1854 haben sich manche Staaten sogar in völliger Verkennng der eigenen Würde, vor der Kirche tief erniedrigt und sich schwachsinnig die Hände binden lassen. Das eine Mal vertrauten die Regierungen zu sehr der staatlichen Macht und verfuhren deshalb sorglos und verschwenderisch; das andere Mal wurden sie überängstlich und machten ohne Not ungebührliche Zugeständnisse. Wenn dereinst ein künftiger Geschichtsschreiber die Geschichte dieses Kampfes zwischen Staat und Kirche schreiben wird, so wird er auch in der staatlichen Kriegsführung sehr viele Fehler und Schwächen zu verzeichnen haben.

Eines darf der Staat nie außer Acht lassen, weder im Frieden noch im Krieg mit der Kirche. Niemals darf und kann er auf seine  Souveränität  verzichten, d. h. auf seine volle politische  Unabhängigkeit  von allen Geboten der Kirche und auf seine  Überordnung  auch über die Kirche, soweit das  öffentliche  und das  Privatrecht  in Frage sind. Er ist die  einzige oberste Rechtsautorität.  Er allein hat eine wahre gesetzgebende Gewalt, eine volle Regierungsgewalt, eine unbestreitbare Rechtspflege. Das Recht mit seinen äußerlich-zwingenden Mitteln ist seiner Natur nach Staatssache. Nur der Staat hat eine Rechtsmacht auch über Leib und Leben, über bürgerliche Freiheit und Vermögen der Individuen. Die Kirche dagegen hat ihrer Natur gemäß und nach Art ihrer religiösen und sittlichen Aufgaben nur geistige und moralische Mittel der Einwirkung, keinen äußeren Zwang. Wenn ihr  Autonomie  zukommt und wenn sie auch eine äußere Disziplinargewalt übt, so sind die Mittel, mit denen der Zwang verbunden ist, nur  innerhalb der Staatsgesetze  und nur  mit Zulassung  und  unter der Kontrolle des Staates  anwendbar. Freilich werden auch diese Prinzipien von der ultramontanen Partei und von der Hierarchie bestritten, aber doch nur mit unsicherem Mut, weil ihre eigenen Gesetze und ihre Traditionen der Kirche die Anwendung eines unmittelbaren Zwangs untersagen und sie sogar im Mittelalter sich der Hilfe des Staates zu diesen Zwecken bedienen mußte. Sie kann das entgegengesetzte Prinzip nur damit verteidigen, daß sie geradezu die  Überordnung  des "geistlichen Schwertes über das weltliche" behauptet und die zwingende Rechtsmacht des Staates zum Diener ihrer Herrschaft erniedrigt, eine Anschauung, welche den unwissenden Fürsten und Völkern des Mittelalters noch einigermaßen wahrscheinlich gemacht werden konnte, welche aber der heutigen Welt selbstverständlich als unwahr und unhaltbar erscheint.

Für den Kampf mit der ultramontanen Partei und der in ihrem Geist geleiteten Kirche ist die Stellung und Haltung der  katholischen Laien  von größter Bedeutung. Solange nur der Staat wider die Kirche oder der Protestantismus wider den Katholizismus den Kampf führt, solange ist der Ultramontanismus noch immer in der vorteilhaften Lage, in den Augen eines großen Teils der Nation als Vertreter der katholischen Religion zu gelten. Erst wenn innerhalb der katholischen Bevölkerung selber der Widerspruch gegen den Ultramontanismus laut wird, zerfließt dieser Schein und wird es jedermann klar, daß die ultramontane Partei nur eine extreme Partei sei in der katholischen Kirche.

Es ist schlimm genug, daß sich die katholischen Geistlichen seit mehreren Jahren fast nirgends mehr trauen, der Herrschaft dieser Partei entgegen zu treten, auch wenn sie dieselbe für verderblich halten. Die fanatischen und ehrgeizigen Kapläne, welche in den neuen Seminarien der Bischöfe erzogen worden sind, haben den älteren Geistlichen aus den liberaler gesinnten Schulen der vorhergehenden Generation das Leben allzu sauer gemacht und sie großenteils eingeschüchtert. Die bischöflichen Ordinariate haben überall Strafexerzitien eingeführt und schicken sehr willkürlich Geistliche, die nicht unbedingt den zelotischen [ereiferten - wp] Anweisungen folgen, auf Wochen hin in diese geistlichen Korrekturhäuser: alles Namens der kirchlichen Disziplinargewalt. Dennoch ist der Gegensatz der humanen und der jesuitischen Richtung noch innerhalb der katholischen Geistlichkeit vorhanden. Sogar innerhalb der hohen Würden ist er nicht völlig erloschen. Selbst zwischen den Kardinälen ANTONELLI und MERODE bestehen erhebliche Unterschiede in kirchlicher-politischer Hinsicht und größere noch zwischen dem Bischof von Nismes und dem Erzbischof von Paris oder zwischen der Richtung des Bischofs KETTELER von Mainz und des Abtes HANEBERG in München oder zwischen Theologen MOUFANG und DÖLLINGER. Es scheint sogar, als ob der überspannte Druck der jesuitischen Herrschaft innerhalb der katholischen Priesterschaft selbst einen entschlosseneren Widerstand hervorrufen und vielleicht eine neue Explosion veranlassen werde. Aber vorerst noch hat die absolutistisch-reaktionäre Richtung im katholischen Klerus ein so entschiedenes Übergewicht, daß ihre Überwindung nicht von den Geistlichen, sondern eher von den weltlichen Elementen zu hoffen ist.

Es ist eine der seltsamsten Erscheinungen, daß die  katholischen Laien  sich heute nocht gefallen lassen, von ihren Geistlichen wie Unmündige behandelt zu werden und sich einer kirchlichen Ordnung wenigstens der Form nach unterwerfen, bei deren Festsetzung und Verwaltung sie keine Stimme haben. Ganz dieselben Volksklassen, welche es für unwürdig und unerträglich halten, daß der Staat Gesetze ohne Mitwirkung ihrer Vertretung erlasse, welche an der Verwaltung der staatlichen Rechtspflege durch Geschworene und Schöffen einen selbsttätigen Anteil nehem, welche die ganze politische und wirtschaftliche Verwaltung der Staatsämter durch eine regelmäßige Kontrolle beschränken, welche auf die freie Gemeindeverfassung einen Wert legen und ihre Bürgermeister und Gemeinderäte selber wählen, ganz dieselben Volksklassen unterwerfen sich der unbeschränkten Autorität des Papstes und der Konzilien, der Bischöfe und ihrer Kapitel und wagen es nicht, eine Mitwirkung zu fordern bei der Bestimmung der kirchlichen Verfassung und Gesetze und der Handhabung der kirchlichen Disziplinargewalt, noch eine Kontrolle gegenüber der Tätigkeit der Kirchenämter. Sie lassen sich sogar die Pfarrer, im Widerspruch zum alten Kirchenrecht selber, ohne ihr Zutun von oben her in die Gemeinden setzen und scheinen schon zufrieden, wenn ihnen nur ein geringer Einfluß auf die Verwaltung des örtlichen Kirchen- und Stiftungsvermögens verstattet wird.

Diese unwürdige Stellung der Laien innerhalb der römisch-katholischen Kirche erklärt die despotische Herrschaft des Klerus, aber rechtfertigt sie nicht. Die Autorität des Klerus ist nur so lange eine absolute und kann nur insofern zur Tyrannei über die Laien gesteigert werden, als diese sich mit blinder, knechtischer Demut unterwerfen und sie wird von dem Augenblick an ermäßigt werden, in welchem die Laien ihr natürliches Menschen- und Christenrecht zu behaupten und die Ansprüche der heutigen Bildung den überlieferten Gebräuchen des Kirchenregiments entgegen zu setzen den Mut haben. Wenn die katholischen Laien in der Kirche wie im Staat als denk- und handlungsfähige Freie auftreten, so können sie nicht mehr wie Kinder und Hörige behandelt werden. Die katholischen Laien, mögen sie im übrigen der liberalen oder konservativen Richtung im Staat zugetan sein, werden genötigt sein, wenn sie ihre Laienehre und ihre Freiheit erfolgreich gegen die ultramontane Anmaßung schützen wollen, mit dem Absolutismus des Papsttums und der römischen Kurie zu brechen und eine  nationale Umbildung  der Kirchenverfassung zu fordern und durchzusetzen.

Dem  einzelnen  Katholiken wird es, unter dem Schutz des öffentlichen und weltlichen Rechts, wenigstens in den Städten, nicht mehr schwer, für sich selber die kirchliche Tyrannei anzuwehren. Schon seit langem wagt die Kirche nicht mehr, gebildeten Städtern gegenüber ihre Ansprüche auf Gehorsam ernstlich geltend zu machen. Als sie neuerlich ausnahmsweise im Lande Baden das Experiment der restaurierten Exkommunikation versucht hat, ist sie auf einen allgemeinen Protest gestoßen. Nur in den bäuerlichen Gemeinden geht sie mit mehr Strenge bequemer vor. Aber solange nur Einzelne sich der Knechtschaft entziehen, ist die Nation noch nicht frei geworden. Selbst in den Familien jener freieren Männer, auf die Frauen und Kinder derselben wirkt die alte Herrschaft oft noch in ungeschwächter Autorität fort. Die große Menge aber kann dem Druck der priesterlichen Autorität und der Macht der Gewohnheit nicht widerstehen. Da hilft nur das gemeinsame Vorgehen ganzer Gemeinden und ganzer Länder. Das einzelne Rohr wird leicht geknickt, das Rohrbündel zerbricht man nicht über dem Knie.

Über den endlichen Ausgang all dieser Kämpfe kann kein Zweifel sein. Weil der Ultramontanismus seinem Wesen nach der Vergangenheit angehört, ist er der Verwesung verfallen. Weil er die Entwicklung der neuen Zeit nicht versteht, kann er sie nicht überwinden; und weil er ihrem notwendigen Fortgang sich in den Weg stellt, wird das Rad der Weltgeschichte zermalmend über ihn hingehen. Dieses Ergebnis kann eine Zeit lang durch künstliche Mittel und mit Gewalt verzögert, aber es kann nicht auf die Dauer verhindert werden.
LITERATUR - Johann Caspar Bluntschli, Charakter und Geist der politischen Parteien, Nördlingen 1869