cr-4Hamann und HerderHerder und die SpracheSprachkritischer Protestantismus    
 
SIEGFRIED J. SCHMIDT
Die Sprache als Werkzeug der Wissenschaften
bei Johann Gottfried Herder

- II -

Aus einer dunklen Wolke von Allgemeinem um uns das hellere Bild eines Besonderen zu schaffen, ist das Bestreben unsrer Sinne, unsrer Vernunft, unsres Verstandes.

"Der Mensch empfindet mit dem Verstande..."

HERDER hat in Bezug auf die Frage des Zusammenhangs von Sprechen und Denken kein geschlossenes System entwickelt und differierende Aussagen dazu gemacht, die einer einheitlichen Linie zu entbehren scheinen.

Wie bereits gesagt beschreibt HERDER den Vorgang der ersten  Wortung  mit  Artikulation;  und das in doppeltem Sinne:
  • Artikulation als Sistieren des Bewußtseinsstroms durch Aufmerken, Richtung der Aufmerksamkeit und Ausgliedern von Merkmalen;
  • Artikulation als Umsetzen des bewußt gehaltenen Merkzeichens in ein artikuliertes Lautgebilde.
Zu diesem Schema sind noch einige Erläuterungen HERDERs nachzutragen.

Im Bereich der sinnlichen Erfahrung liefern die Phänomene selbst weitgehend die dann vom Verstand auszusondernden Merkmale. Aber auch die Arbeit des Verstandes ist nicht ohne Merkzeichen möglich, d.h. ohne distinkte, gegliederte  Elemente,  an und mit denen die geistigen Operationen ausgeführt werden. Diese Gliederung des Bewußtseins- oder Verstandesraumes aber leistet die  Sprache. 

Diese analytische separierende Beschreibung von gedanklich-verstandesmäßigen und lautlich-sprachlichen Vorgängen darf aber nicht zu der Ansicht verleiten, HERDER greife hier nur das LOCKEsche Schema wieder auf. Der in der Analyse in zwei Aspekte zerfallende Prozess der Artikulation wird von HERDER durchaus in einer dialektischen Einheit gedacht, wie sich im Folgenden zeigen läßt.

Sprache und Vernunft legen über die Schicht der Sachen der  realen Welt  eine logoshafte Schicht von Charakterisierung (das scheint der plausible Sinn von  Merkmal  und  Artikulation  zu sein) und verbinden damit die Anschauung und eine gegliederte Sinnebene dergestalt, daß die Sinnebene auch für die Anschauung der wahrnehmenden Art konstitutiv, zu einer Vorbedingung wird. Ein Volk, so betont HERDER, "hat keine Idee, zu der es kein Wort hat: die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächtnis, der Rückerinnerung, dem Verstande, ja endlich dem Verstande der Menschen, der Tradition, einverleibet".

"Denkend erschafft sich die Seele fortgesetzt ein Eins aus Vielem...", durch identifizierende Charakterisierung, was nach dem bislang Gesagten heißt: der Verstand vereinheitlicht durch Typisierung die erfahrene Mannigfaltigkeit mittels abgezogener (durch sprachliche Abstraktivität realisierter) Merkmale zu einer sinnhaft-gestalthaften Einheit. "Durch Auflösen und Verknüpfen also erkennt der Verstand den Sinn des Gegenstandes, den er als ein geistiges Ganzes sich aneignet."

Was  Verstand  besagen soll, ist in dieser Interpretation nur operational, als Arbeit, nicht als Vermögen beschreibbar, wobei jede Beschreibung, daran läßt HERDER keinen Zweifel, von den  sprachlichen  Exponenten des Verstandes ausgehen muß; denn "Sprache ist der Charakter unserer Vernunft, durch welchen sie allein Gestalt gewinnt und sich fortpflanzt." Erkenntnis, als Anerkenntnis einer Sache, ist dann folgerichtig nur als beschreibbar als Namengebung; "denn im Grunde der Seele sind beide Handlungen eins".


Verstand und Vernunft

Wenn die terminologische Unterscheidung zwischen  Verstand  und  Vernunft  in den HERDERschen Überlegungen auch nicht streng durchgeführt ist, sollen die Ansätze dazu doch zusammengestellt werden, um das Gesagte zu ergänzen.

Dem Verstand weist HERDER das Feld der Erfahrung zu, der Vernunft das "weite Reich menschlicher Gedanken mittels der Rede". Vernunft bearbeitet alles, was mittels Zeichen "ausgedrückt, festgehalten, verständlich gemacht werden kann"; d.h. sie ist nicht zu beschränken auf raum-zeitliche Anschauung, sondern zu beschreiben als Behandlungsinstanz, als Operator mit sprachlichen Symbolen.

Damit wird noch einmal verdeutlicht, was HERDERs Dictum meint, Vernunft selbst sei und heiße Sprache; zugleich wird damit klar, daß die von HERDER herausgestellte unauflösliche Verbindung von Sprache und Denken sich auf die Vernunftarbeit im engeren Sinne beschränkt, d.h. auf den Umgang mit Repräsentanten (oder Symbolen) überhaupt. Beide, Vernunft und Sprache, leben "im Allgemeinen" mit dem Ziel, es sich verständlich zu machen. Ihre wichtigste Tätigkeit ist dabei die Abstraktion. "Ohne Abstraktion wäre weder Vernunft noch Sprache."

Sprache - so gesehen als Medium und Exposition der Vernunfthandlungen und Bedingung ihrer Möglichkeit - kann füglich das "Kriterium der Vernunft" genannt werden, die in ihrer Arbeitsweise durchschaute Sprache selbst aber "kritische" Sprache, und das bedeutet - immer gemäß dem  Pattern  - sie ist "bestimmt, bis zum Kriterium deutlich".

Das Logosartige der Verstandes- und Sprachcharakterisierung erweist sich für HERDER auch darin, daß die Kennzeichnungsarbeit den zu kennzeichnenden Gegenständen gegenüber notwendig heterogen ist (nämlich symbolisch), sich mit Hilfe willkürlicher Laute willkürlich vollzieht. "Unsere arme Vernunft ist nur eine bezeichnende Rechnerin... Und womit rechnet sie? Etwa mit den Merkmalen selbst, die sie abzog...? Nichts minder! Diese Merkmale werden abermals in willkürliche, ihnen ganz unwesenhafte Laute verfaßt, mit denen die Seele denkt... denn daß ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Sprache und den Gedanken, geschweige der Sache selbst sei, wird niemand glauben, der nur zwei Sprachen auf der Erde kennt..."

Der (funktional zu einem Gesichtspunkt der Charakterisierung) willkürlich gewonnene Name verbürgt durch Bekanntheit, Applizierbarkeit und Lehrbarkeit die Behandelbarkeit der Sache: Das ist HERDERs Formel für die  Vermittlungsfunktion  der Sprache wie die durch sie bedingte Vermitteltheit jeglicher Erkenntnis- und Verstandesleistung; denn nur durch die Vermittlung der Sprache "und durch sie allein ... war Wahrnehmung, Anerkennung, Zurückerinnerung, Besitznehmung, eine Kette der Gedanken möglich..."

Wie bei LOCKE erscheint auch hier wieder die Redeweise von der Sprache als unentbehrlichem Werkzeug der Vernunft zum "absondern" und "verknüpfen"; aber der Kontext dieser Redeweise ist anders, das interpretationsproduzierende Zentrum (der  Ansatz  samt dem dazugehörigen Voraussetzungsarsenal) hat sich gewandelt. Sprache erscheint bei HERDER eindeutig als dialektischer Begriff zu Vernunft, unableitbar aus ihr und zugleich sie selbst erst ermöglichend; man kann nicht über eins dieser Momente allein sprechen, es sei denn in dem Bewußtsein, künstlich einen Aspekt einer Gesamtheit (prozessualer Art) isoliert zu haben. Dazu noch einige Erläuterungen.


Der Begriff als "Sache des Verstandes".
Die Kategorisierung


Entsprechend seiner sprachgenetischen Konzeption hält HERDER daran fest, daß keine Sprache ein Abstraktum besitze, "zu dem sie nicht durch Ton und Gefühl gelangt wäre. Und je ursprünglicher die Sprache, desto weniger Abstraktionen, desto mehr Gefühle." Ursprünglich war Alles an der Sprache sinnlicher Ausdruck. "Die allgemeineren Begriffe wurden ihr also erst später durch Abstraktion, Witz, Phantasie, Gleichnis, Analogie usw. angebildet - im tiefsten Abgrunde der Sprache, den HERDER ansetzt, waren die Sprachen bilderreich und voller Metaphern.

Je vielfältiger nun die Wörter verwendet wurden, desto mehr wurden sie vom "Mannigfaltig-Sinnlichen entkleidet", um "Hauptmerkmale" deutlicher herauszustellen. Bei der Begriffsbildung handelt es sich für HERDER also um einen Abstraktionsvorgang; dennoch hält er auch für den rein abstrakten Begriff an der Anschaulichkeit (als Charakter  aller  Namen) fest. Das Bildhafte kann dem Begriff schon aus dem Grunde nie ganz genommen werden, da er "immer noch Eins im Mehreren darstellen muß".

Diese Andeutungen HERDERs bleiben undeutlich, solange man sie nicht vor dem Hintergrund seiner erkenntnistheoretischen Voraussetzungen sieht, die ihrerseits mit seiner anthropologischen Grundüberzeugung zusammengehen.

Danach findet sich der Mensch immer schon vor als Besonderes in einem Allgemeinen, als Einzelner in einem Universum, als Glied in einer Kette. (Der romantisch-organische Zug ist hier unverkennbar). Der Kontext des Universums bildet den faktisch a priori gegebenen Lebensraum des Subjekts, er liefert ihm die Objekte seiner Sinne und die "Materialien" der Vernunft. "In all unsern Erkenntnissen geht also ein Allgemeines dem Besonderen voraus."

Daraus zieht HERDER zwei Folgerungen:
  • die Möglichkeit der Erkenntnis liegt darin, daß jeweils schon ein Erkennbares, Allgemeines, zugleich ein Erfahrungs- und Erkenntnisraum gegeben ist. Erst an den Gegenständen möglicher Erkenntnisse, d.h. im sich selbst entfremdenden Be greifen,  kommt der Verstand als Verstand (im Selbstbewußtsein) zu sich.
  • Vernunfterkenntnis heißt also:  klar machen, läutern,  d.h. sich zurechtfinden mit Hilfe von Charakterisierung (-sebenen), Aussondern beobachtungswürdiger Gegenstände und deren Inbeziehungsetzen.
Diese Grundprozesse wirken auf allen Levels menschlicher Zur-Kenntnisnahme und Kenntnisverarbeitung. "Aus einer dunklen Wolke von Allgemeinem um uns das hellere Bild eines Besonderen zu schaffen, ist das Bestreben unsrer Sinne, unsrer Vernunft, unsres Verstandes."

Zum grundlegenden Verhalten des Verstandes gehört für HERDER das Partikularisieren aus einem Allgemeinen an Hand von Identitäten, Ähnlichkeiten und Unterschieden, das Sehen des Einzelnen im Allgemeinen. Dem entspricht auf sprachlicher Seite die Abstraktivität, die "Gemeinwörter" bildet, etwa  Baum  und  Herde,  die nicht zuletzt aber auch aus Gründen Ökonomisierung entstanden sind.

Demnach läßt sich der  Begriff  beschreiben als ein sprachlich fixierter Akt der anerkennenden Vernunft, die auf Grund ihrer Beschaffenheit das Eine im Vielen sieht und das Besondere dem Allgemeinen zurechnet mit dem Ziel, "im ungeheuren, unübersehbaren Weltall sich eine Welt zu schaffen, die für den  menschlichen  Gesichtskreis gehörte..."

Eine Schwäche der HERDERschen Konzeption liegt in der mangelnden Abgrenzung und Präzisierung der Termini voneinander. Vielleicht hätte sich seine Sprachphilosophie stärker ausgewirkt, wenn er seine Charakterisierungsmittel eindeutiger und konstanter verwandt hätte.

So fehlt etwa eine genaue Erläuterung dessen, was er mit  Begriff  bezeichnet. in "Verstand und Erfahrung" versucht er zwar, Sache, Wort und Begriff zu unterscheiden, aber man ist weiterhin auf ein vergleichende Interpretation angewiesen. "Unser Begriff macht die Sache nicht, weder möglich noch wirklich. Er ist nur eine Kunde derselben, wie wir sie haben können, nach unserm Verstande und unsern Organen. Das Wort macht sie noch weniger. Es soll nur aufrufen, sie kennen zu lernen, ihren Begriff festhalten und reproduzieren. Begriff und Wort sind also auch nicht ein und dasselbe. Dies soll die Andeutung jenes sein, sein Abdruck kann es und soll es nie werden."

Der Begriff ist demnach beschreibbar als das durch Merkmale Charakterisierte an einem Objekt der Erfahrung als Klasse/Element- Relation, die sprachlich vorliegt als das an Logoshaftem, was die erfahrene Sache zum artikulierten Gegenstand erhebt; m.a.W. die sprachlich identifizierte/ charakterisierte Sache qua bewußt verfügbarer Gegenstand.

Vielleicht ist eine funktionale Beschreibung des Begriffs zutreffender, um das Problem der dialektischen Einheit von Sprache und Vernunft ernsthafter zu berücksichtigen:  Begriff  bezeichnet die Form der Aneignung der Sache als ein "geistiges Ganzes" (als ein zu Operationen Verfügbares), das nicht unbedingt in vollem Umfang in die Begriffs bezeichnung  miteingehen muß, so daß der Begriff Stellvertreter seines Korrelates in der Realität und das Wort symbolische "Andeutung" des Begriffs wird, nicht Abdruck, ohne daß  Begriff  als platonische Wesenserkenntnis unabhängig von Sprache interpretiert werden könnte.

Der Begriff wird hervorgebracht durch eine Handlung des Verstandes, in dem Sinne, daß der Begriff ein Reflex der Konstitution des Verstandes zum "Kategorisieren" ist. Begreifen heißt für HERDER abstraktiv kategorisieren. "Sobald der menschliche Verstand begreift, muß er kategorisieren. Er tuts aber weder durch ein Addieren der Begriffe zu einander, noch durch eine Synthesis, die aus dem Gegebenen hinaus schreitet, sondern durch Erfassung, Distribution und Komprehension des Gegebnen."

"Synthese und Analyse sind Mittel". Ziel ist die "Anerkennung des Erkennbaren durch beide. Durch beide, wechselnd und zusammenwirkend, erwirbt er" (der Verstand) "sich sein Gut, den Begriff, und spricht:  Ich habe verstanden". 

Werkzeug dieser Vernunftarbeit ist die Sprache, und das in doppeltem Sinne:
  • vermittels der in der Sprache verfügbaren (gelernten und bekannten) Schematisierungen ordnet und bezeichnet die menschliche  Seele  ihre Gedanken, sondert Begriffe und knüpft sie aneinander;
  • Sprache ist zu betrachten als ein großer "Umfang von sichtbar gewordenen Gedanken, als ein unermeßliches Land von Begriffen."
Es darf nicht übersehen werden, daß damit die Sprache in ihrer Komplexheit bereits gesehen wird. Der nur zu leicht vordergründig abgetane Satz HERDERs: "Was heißt Denken? Innerliches Sprechen..." hat nach den bisherigen Erläuterungen einen durchaus plausiblen Sinn, der sich aus der Struktur seiner Beschreibung ergibt:  Denken  und  Sprechen  gehören unlösbar zusammen, weil sie nur verschiedene Aspekte ein- und derselben Struktur (oder strukturgleicher) geistiger Handlungen bilden, m.a.W. Äußerungen ein und desselben spezifisch menschlichen Verhaltens darstellen, sich angesichts der Vorgegebenheit eines ungegliederten Ganzen, Allgemeinen, mittels merkmalgesteuerter Charakterisierung zurechtfinden, eine  menschliche Welt  zu konstitutieren, zu artikulieren und mitzuteilen. Das aber ist nur möglich mit Hilfe der Sprache, die nicht nur artikuliert, sondern das Artikulierte auch speichert und der Erinnerung bereithält: eine Voraussetzung jeder Kultur.

Der Ansatz, Sprache und Denken als strukturähnliche und funktionell aufeinander bezogene Prozesse zu sehen, führt dazu, daß alle Bemühungen um eine Kennzeichnung des Verhältnisses zwischen beiden Faktoren primär  Metafragen  sind, Fragen der Formulierung, des entsprechenden Ausdrucks, Probleme  so  zu beschreiben, daß in jeder Aussage die  ganzheitliche,  stets zugleich  im Rücken liegende,  Bedingung der Möglichkeit jeder Charakterisierung mitgesehen und mitgesagt wird.

Dieser Schwierigkeit war sich HERDER zweifellos bewußt; daß er sie nicht auflösen konnte veranlaßte ihn zeitweilig, eine Physiologie der Verstandeskräfte an die Stelle der notwendigen transzendental-analytischen Betrachtung zu setzen. Bei allen Schwankungen aber ist daran festzuhalten, daß er in der Struktur seiner Aussagen über Sprache und Vernunft ein Modell entworfen hat, das - angefangen bei HUMBOLDT - bei allen Sprachphilosophen des 19. Jahrhunderts wiederkehrt und die bedeutsamste Gegenposition zum LOCKEschen Modell bildet.
LITERATUR, Siegfried J. Schmidt, Sprache und Denken als sprachphilosophisches Problem von Locke bis Wittgenstein, Den Haag 1968