cr-4C. GrubeW. WalzW. EnochJ. KleinMFKH. Ruin    
 
GEORGE BERKELEY
(1685-1753)
Abhandlung über die Prinzipien
der menschlichen Erkenntnis

[5/5]

"Ist einmal die Materie aus der Natur ausgetrieben, so nimmt sie mit sich fort so manche skeptische und unfromme Vorstellungen, solch eine unglaubliche Zahl von Streitigkeiten und verwirrenden Fragen, die sowohl für Theologen wie auch Philosophen Dornen gewesen sind und den Menschen so viele fruchtlose Arbeit gemacht haben, daß, wenn die Gründe, die wir dagegen aufgestellt haben, nicht beweiskräftig gefunden werden (was sie meines Erachtens aber sind), ich doch dessen gewiß bin, daß alle Freunde der Erkenntnis, des Friedens und der Religion Grund haben zu wünschen, sie wären es."

"Wir halten aber dafür, daß es gewisse irrtümliche allgemeine Sätze gibt, die weiter reichen, als das Objekt der Mathematik, und die aus diesem Grund in dieser Wissenschaft durchgängig nur stillschweigend vorausgesetzt, aber nicht ausdrücklich erwähnt werden; wir glauben, daß sich die üblen Wirkungen jener verborgenen ungeprüften Irrtümer durch alle Zweige der Mathematik hindurch erstrecken. Um deutlich zu reden: wir vermuten, die Mathematiker sind ebensowohl, wie andere Menschen, an den Irrtümern beteiligt, welche aus der Lehre fließen, daß es abstrakte allgemeine Ideen gibt und daß Objekte außerhalb des Geistes existieren."

"Wer das Vorurteil hegt, daß abstrakte allgemeine Ideen existieren und wer dafür hält, daß die Sinnesobjekte außerhalb des Geistes existieren, wird vielleicht aufgrund hiervor zu dem Zugeständnis gebracht werden, daß eine Linie, die nur einen Zoll lang ist; unzählig viele Teile enthalten kann, welche wirklich existieren, obwohl sie zu klein sind, um unterschieden zu werden."

§ 89. Nichts scheint von größerer Wichtigkeit zur Begründung eines festen Systems gesunder und echter Erkenntnis zu sein, die probehaltig gegenüber den Angriffen des Skeptizismus befunden wird, als das Ausgehen von einer bestimmten Erklärung, was verstanden wird unter Ding, Realität, Existenz, denn vergeblich werden wir über die reale Existenz von Dingen disputieren oder irgendetwas darüber zu wissen behaupten, solange wir nicht den Sinn dieser Worte festgestellt haben, solange wir nicht den Sinn dieser Worte festgestellt haben. Ding oder Seiendes ist der allgemeinste Name; darunter fallen zwei völlig voneinander verschiedene und heterogene [ungleichartige - wp] Klassen, welche nichts mit einander gemein haben nämlich Geister und Ideen. Die ersteren sind tätige, unteilbare Substanzen, die anderen träge, vergängliche, abhängige Dinge, die nicht ansich existieren, sondern getragen sind von oder existieren in Geistern oder spirituellen Substanzen. Wir erkennen unsere eigene Existenz durch ein inneres Wahrnehmen (einen inneren Sinn) oder "Reflektion" und die Existenz anderer Geister durch Denken. Man darf sagen, daß wir in einem gewissen Sinn eine Kenntnis oder Vorstellung von unserem eigenen Gemüt, von Geistern und aktiven Dingen haben, wovon wir nicht Ideen im strengen Sinn besitzen. In gleicher Art kennen wir Beziehungen zwischen Dingen oder Ideen und haben eine Vorstellung von diesen Beziehungen, welche von den aufeinander bezogenen Dingen oder Ideen verschieden sind, sofern die letzteren von uns perzipiert werden können, ohne daß wir die ersteren perzipieren. Mir scheint, daß Ideen, Geister und Beziehungen in allen ihren Arten den Gegenstand der menschlichen Erkenntnis und das, wovon geredet wird, ausmachen, und daß der Ausdruck Idee nur uneigentlich in einem so weiten Sinn gebraucht werden kann, daß er zur Bezeichnung von allem dient, was wir erkennen, oder wovon wir nur irgendeine Vorstellung (notion) haben.

§ 90. Ideen, welche den Sinnen eingeprägt sind, sind wirkliche Dinge und existieren wirklich; dies leugnen wir nicht; aber wir leugnen, daß sie außerhalb der Geister, welche sie perzipieren, selbständig bestehen, oder daß sie Abbilder von Urbildern sind, welche außerhalb des Geistes existieren, da das wirkliche Sein einer Sinneswahrnehmung oder Idee in ihrem Perzipiertwerden besteht und eine Idee nur einer Idee ähnlich sein kann. Ferner mögen die durch die Sinne perzipierten Dinge äußere genannt werden mit Rücksicht auf ihren Ursprung, sofern sie nicht von innen her, durch den Geist selbst, erzeugt, sondern durch einen Geist, der von dem sie perzipierenden verschieden ist, diesem eingeprägt werden. Ebenso mögen sinnlich wahrnehmbare Objekte noch in einem anderen Sinn außerhalb des Geistes befindlich genannt werden, nämlich, wenn sie in irgendeinem anderen Geist existieren. So können, wenn ich meine Augen schließe, die Dinge, welche ich sah, noch existieren, aber sie müssen dann in einem anderen Geist existieren.

§ 91. Es wäre ein Mißverständnis, wenn man annähme, das hier Gesagte tue im Mindesten der Realität der Dinge Abbruch. Nach der herrschenden Doktrin wird anerkannt, daß Ausdehnung, Bewegung, mit einem Wort: alle sinnlichen Qualitäten eines Trägers bedürfen, da sie nicht für sich selbst substituieren können. Daß aber die sinnlich perzipierten Objekte nur Kombinationen von solchen Qualitäten sind und demgemäß nicht für sich subsistieren [unabhängig bestehen - wp] können, wird zugegeben. Insofern stimmen alle miteinander überein. Wenn wir also negieren, daß die sinnliche perzipierten Dinge eine von einer Substanz oder einem Träger, worin sie existieren, unabhängige Existenz haben, so entziehen wir nichts der herrschenden Annahme ihrer Realität und machen uns in dieser Hinsicht keiner Neuerung schuldig. Die ganze Differenz liegt darin, daß nach uns die undenkenden sinnlich perzipierten Dinge keine von ihrem Perzipiertwerden verschiedene Existenz haben, und daß sie demgemäß in keienr anderen Substanz existieren können, als in jenen unausgedehnten unteilbaren Substanzen oder Geistern, welche handeln und denken und sie perzipieren, wogegen die Philosophen in der Regel annehmen, daß die sensiblen Qualitäten in einer trägen, ausgedehnten, nicht perzipierenden Substanz, welche sie Materie nennen, existieren, in einer Substanz, der sie eine natürliche und selbständige Existenz aller denkenden Wesen zuschreiben, welche verschieden ist vom Perzipiertwerden durch einen Geist, welcher es auch immer sein mag, selbst durch den ewigen Geist des Schöpfers, in dem sie nur Ideen der von ihm geschaffenen körperlichen Substanzen voraussetzen, wenn sie überhaupt das Geschaffensein dieser Substanzen zugeben.

§ 92. Denn wie wir gezeigt haben, daß die Lehre von der Materie oder körperlichen Substanz die Hauptstütze und Säule des Skeptizismus gewesen ist, ebenso sind auch aus demselben Grund alle jene unfrommen Systeme des Atheismus und der Religionsverwerfung hervorgegangen. Ja, es ist als so schwierig erschienen zu begreifen, daß Materie aus Nichts geschaffen ist, daß selbst die berühmtesten derjenigen alten Philosophen, die das Sein eines Gottes annahmen, die Materie für ungeschaffen und gleich ewig mit ihm gehalten haben. Wie sehr die materielle Substanz den Atheisten aller Zeiten wert gewesen ist, bedarf nicht der Erwähnung. Alle ihre monströsen Systeme stehen in einer so offenbaren und notwendigen Abhängigkeit von ihr, daß, ist dieser Eckstein einmal weggenommen, das ganze Gebäude notwendig zusammenstürzen muß, so sehr, daß sich nicht länger der Zeitaufwand lohnen wird, eine besondere Betrachtung auf die Absurditäten einer jeden nichtswürdigen Sekte von Atheisten zu richten.

§ 93. Daß unfromme und weltlich gesinnte Personen leicht auf solche Systeme verfallen, welche ihre Neigungen begünstigen, indem sie die Annahme einer immateriellen Substanz verspotten und voraussetzen, die Seele sei teilbar und dem Untergang ebensowohl, wie der Körper unterworfen, Systeme, die alle Freiheit, Intelligenz und Absicht aus der Bildung der Dinge ausschließen und stattdessen eine von selbst existierende, stupide, nicht denkende Substanz zur Wurzel und zum Ursprung aller Dinge machen, daß sie auch solche horchen, die eine Vorsehung oder Aufsicht eines höheren Geistes auf die Dinge der Welt leugnen und die ganze Reihe der Ereignisse entweder einem blinden Zufall oder einer verhängnisvollen Notwendigkeit zuschreiben, die aus der Einwirkung der Körper aufeinander entspringt, - das alles ist sehr natürlich. Und wenn andererseits Männer von besseren Prinzipien bemerken, daß die Feinde der Religion ein so großes Gewicht auf eine nicht lenkende Materie legen, und daß sie alle so viel Mühe und Kunst aufwenden, alles auf dieselbe zu reduzieren, so sollte ich denken, jene müßten sich freuen, ihre Gegner ihres mächtigen Halts beraubt und aus jener einzigen Festung vertrieben zu sehen, außerhalb welcher die Epikureer, Hobbisten und ähnlich Denkende auch nicht einmal den Schatten eines Vorwands haben, sondern über sie auf das Einfachste und Leichteste der Sieg errungen wird.

§ 94. Die Existenz einer Materie oder unwahrgenommener Körper ist nicht nur die Hauptstütze der Atheisten und Fatalisten gewesen, sondern auf demselben Prinzip ruht ebenso auch der Götzendienst in allen seinen mannigfaltigen Formen. Möchten die Menschen nur erwägen, daß Sonne, Mond und Sterne und alle anderen Sinnesobjekte nur ebenso viele Wahrnehmungen in ihren Geistern sind, die keine andere Existenz als ihr bloße Perzipiertwerden haben, so würden sie gewiß nicht niederfallen und ihre eigenen Ideen anbeten, sondern vielmehr ihre Huldigung jenem ewigen unsichtbaren Geist darbringen, der alle Dinge hervorbringt und erhält.

§ 95. Dasselbe ungereimte Prinzip hat, indem er sich mit den Artikeln unseres Glaubens mischte, Christen nicht geringe Schwierigkeiten verursacht. Wieviele Zweifel und Einwürfe sind nicht z. B. in Bezug auf die Wiederauferstehung von Sozianianern und anderen erhoben worden! Aber hängen nicht die plausibelsten derselben von der Voraussetzung ab, daß ein Körper derselbe genannt wird nicht in Betracht seiner Form oder dessen, was durch die Sinne perzipiert wird, sondern der materiellen Substanz, welche unter mancherlei Formen dieselbe geblieben ist? Wird diese materielle Substanz hinweggenommen, um deren Identität sich der ganze Streit dreht, und wird unter Körper verstanden, was jede schlicht gewöhnliche Person unter diesem Wort versteht, nämlich das unmittelbar Gesehene und Gefühlte, was nur eine Verbindung von sinnlichen Eigenschaften ist, so reduzieren sich jene unbeantwortbaren Einwürfe auf nichts.

§ 96. Ist einmal die Materie aus der Natur ausgetrieben, so nimmt sie mit sich fort so manche skeptische und unfromme Vorstellungen, solch eine unglaubliche Zahl von Streitigkeiten und verwirrenden Fragen, die sowohl für Theologen wie auch Philosophen Dornen gewesen sind und den Menschen so viele fruchtlose Arbeit gemacht haben, daß, wenn die Gründe, die wir dagegen aufgestellt haben, nicht beweiskräftig gefunden werden (was sie meines Erachtens doch offenbar sind), ich doch dessen gewiß bin, daß alle Freunde der Erkenntnis, des Friedens und der Religion Grund haben zu wünschen, sie wären es.

§ 97. Neben der vermeintlichen äußeren Existenz der Sinnesobjekte ist eine andere reiche Quelle von Irrtümern und Schwierigkeiten in Bezug auf die Ideenerkenntnis die Lehre von den abstrakten Ideen, wie dieselbe in der Einleitung auseinandergesetzt worden ist. Die einfachsten Dinge von der Welt, mit denen wir aufs Genaueste vertraut sind, und die wir vollkommen kennen, erscheinen, wenn sie in einer abstrakten Weise betrachtet werden, auf eine seltsame Art schwierig und unbegreiflich. Zeit, Raum und Bewegung sind, wie sie im Einzelnen oder konkret genommen werden, einem Jeden bekannt; sind sie aber durch den Kopf eines Metaphysikers gegangen, so werden sie zu abstrakt und fein, um von Menschen mit gewöhnlicher Auffassungskraft verstanden zu werden. Sagt eurem Diener, er solle euch zu einer gewissen Zeit an einem gewissen Ort erwarten, so wird er sich nicht mit einer Überlegung aufhalten, was mit diesen Worten wohl gemeint ist; er findet nicht die mindeste Schwierigkeit darin, sich die einzelne Zeit und den Ort vorzustellen oder die Bewegung; durch welche er sich dorthin zu begeben hat. Wird aber Zeit mit Ausschluß all jener einzelnen Handlungen und Ideen, die Abwechslung in den Tag bringen, bloß als Fortsetzung der Existenz oder Dauer in abstracto genommen, dann wird es vielleicht auch einem Philosophen Mühe machen den Sinn zu erfassen.

§ 97. Jedesmal, wenn ich versucht habe, eine einfache, von der Ideenfolge in meinem Geist abstrahierte Idee der Zeit zu bilden, die gleichmäßig verfließt, und an der alle Dinge Teil haben, habe ich mich in unauflösbare Schwierigkeiten verwickelt und verloren. Ich habe überhaupt keinen Begriff von ihr und höre nur Andere sagen, sie sei ins Unendliche teilbar, und so über sie reden, daß ich zu wunderlichen Gedanken über meine Existenz veranlaßt werden, da diese Lehre ihrem Bekenner durchaus die Notwendigkeit auferlegt zu denken, entweder, daß er unzählige Zeitalter hindurch ohne einen Gedanken fortdauert, oder andererseits, daß er in einem jeden Augenblick seines Lebens vernichtet wird, was doch beides gleich ungereimt zu sein scheint. Da also die Zeit nichts ist, wenn wir absehen von der Ideenfolge in unserem Geist, so folgt, daß die Dauer eines endlichen Geistes nach der Zahl der Ideen oder der Handlungen abgeschätzt werden muß, die einander in eben diesem Geist oder Gemüt folgen. Hieraus ist eine offenbare Konsequenz, daß die Seele immer denkt, und in der Tat wird ein Jeder, der in seinen Gedanken oder durch Abstraktion die Existenz eines Geistes von dessen Denken abzusondern unternimmt, den Versuch, wie ich glaube, nicht leicht finden.

§ 98. Ebenso verlieren wir, wenn wir versuchen, Ausdehnung und Bewegung von allen anderen Eigenschaften abzulösen und für sich zu betrachten, dieselben aus dem Gesicht und verfallen in sehr ausschweifende Meinungen, was die Folge einer zweifachen Abstraktion ist, indem erstens vorausgesetzt wird, daß z. B. die Ausdehnung sich von allen anderen sinnlichen Eigenschaften abtrennen läßt, und zweitens, daß das Sein (die Entität) der Ausdehnung sich vor ihrem Perzipiertwerden durch Abstraktion trennen läßt. Aber ein Jeder, der nachdenken und Sorge tragen will zu verstehen, was er sagt, wird, wenn ich mich nicht irre, anerkennen, daß alle sinnlichen Qualitäten gleichermaßen Sinnesempfindungen und alle gleichermaßen real sind, daß, wo Ausdehnung ist, auch Farbe ist, d. h. in seinem Geist, und daß ihre Urbilder nur in einem anderen Geist existieren können, und daß die sinnlich wahrnehmbaren Dinge nichts anderes als verbundene, gemischte oder (wenn man so sagen darf) zusammengewachsene (konkrete) Sinnesempfindungen sind, von welchen allen keiner eine unperzipierte Existenz zugeschrieben werden darf.

§ 100. Was es heißt, jemand ist glücklich, oder ein Objekt ist gut, mag ein Jeder zu wissen glauben. Aber auf die Bildung einer abstrakten Idee von Glück, die von aller einzelnen Lust abgelöst wäre, oder von Güte, die von jeglichem Ding, das gut ist, abgesondert wäre, können nur Wenige Anspruch erheben. Ebenso kann Jemand gerecht und tugendhaft sein, ohne genaue Ideen von Gerechtigkeit und Tugend zu besitzen. Die Meinung, daß diese und ähnliche Worte für allgemeine Begriffe stehen, welche von allen einzelnen Personen und Handlungen abstrahiert sind, scheint die Sittenlehre schwierig und das Studium derselben für die Menschen weniger nützlich gemacht zu haben. Und in der Tat hat die Lehre von der Abstraktion nicht wenig dazu beigetragen, den nützlichsten Teil der Wissenschaft zu schädigen.

§ 101. Die beiden großen Abteilungen theoretischer Wissenschaft, die auf sinnlich gegebene Ideen und deren Relationen gehen, sind Naturbetrachtung (natural philosophy) und Mathematik. In Bezug auf jede derselben will ich Einiges bemerken, und zwar zuerst in Bezug auf die Naturbetrachtung. Auf diesem Gebiet triumphieren die Skeptiker. Der ganze Vorrat an Argumenten, welche sie vorbringen, um unsere Fähigkeit herabzusetzen und die Menschen als unwissend und schwach erscheinen zu lassen, ist besonders aus der Grundannahme geflossen, daß wir in Bezug auf die wahre und wirkliche Natur der Dinge von einer unbesiegbaren Blindheit sind. Dies urgieren sie und lieben es sich darüber zu verbreiten. Wir werden, sagen sie, auf eine klägliche Weise von unseren Sinnen irregeführt und getäuscht mit der bloßen Außenseite und Erscheinung der Dinge. Das wirkliche Wesen, die inneren Eigenschaften, und die Einrichtung eines jeden, auch des geringsten Objekts ist unserem Blick verborgen; es ist etwas in jedem Wassertropfen, in jedem Sandkorn, das zu ergründen oder zu begreifen die Kraft des menschlichen Verstandes übersteigt. Es ist aber aus dem Nachgewiesenen offenbar, daß all diese Klage grundlos ist, und daß wir nur unter dem Einfluß falscher Prinzipien zum Grad des Mißtrauens gegen unsere Sinne gelangen, daß wir glauben, wir wüßten nichts von den Dingen, die wir vollkommen begreifen.

§ 102. Uns selbst als unwissend über die Natur der Dinge zu bekennen, dazu liegt eine große Verleitung in der herrschenden Meinung, daß jegliches Ding in sich die Ursache seiner Eigenschaften trägt, oder daß in einem jeden Ding ein inneres Wesen ist, welches die Quelle seiner unterscheidbaren Eigenschaften bildet und wovon diese abhängig sind. Einige haben sich anheischig gemacht [angeboten - wp], Rechenschaft von den Erscheinungen durch verborgene Qualitäten zu geben, die aber schließlich meistens in mechanische Ursachen aufgelöst worden sind, d. h. in Figur, Bewegung, Gewicht und derartige Qualitäten unwahrnehmbarer Teilchen, während doch in Wahrheit es keine andere tätige oder wirkende Ursache gibt, als Geist, da es offenbar ist, daß Bewegung ebensowohl, wie alle anderen Ideen, durchaus träge ist (siehe § 25). Daher muß der Versuch, die Hervorbringung von Farben und Tönen durch Figur, Bewegung, Größe und Ähnliches zu erklären, notwendigerweise eine vergebliche Arbeit sein. Und demgemäß sehen wir, daß die hierauf abzielenden Versuche durchaus nicht befriedigen. Dies mag im Allgemeinen über jene Bezeichnung einer Idee oder Eigenschaft als der Ursache einer anderen gesagt sein. Ich brauche nicht zu sagen, wieviele Hypothesen und Spekulationen durch diese Lehre wegfallen und wie sehr das Naturstudium durch dieselbe vereinfacht wird.

§ 103. Das große mechanische Prinzip, welches jetzt in Ansehen steht, ist die Attraktion. Daß ein Stein zur Erde fällt oder die See zum Mond hin anschwillt, mag einigen hierdurch zureichend erklärt zu sein scheinen. Aber wie sind wir denn aufgeklärt, wenn uns gesagt wird, dies geschehe durch Anziehung? Zeigt dieses Wort die Weise des Strebens an, und bedeutet es, daß die Annäherung durch einen gegenseitigen Zug der Körper erfolgt, und nicht dadurch, daß sie zueinander hin gestoßen oder gedrängt werden? Aber es ist nichts über die Weise oder Tätigkeit festgestellt, und diese kann vielleicht (soviel wir wissen) mit gleicher Wahrheit als Impuls oder Fortstoßung, wie als Anziehung bezeichnet werden. Ferner sehen wir, daß die Teile des Stahls fest aneinander haften, und auch dies wird durch die Attraktion erklärt; aber in diesem Fall, wie in den übrigen, finde ich nicht, daß irgendetwas Weiteres, als der Erfolg selbst bezeichnet ist; die Art und Weise der Tätigkeit, wodurch derselbe hervorgebracht wird, oder die Ursache, welche ihn hervorbringt, wird dadurch nicht einmal mutmaßlich bestimmt.

§ 104. In der Tat können wir, wenn wir einen Blick auf die verschiedenen Phänomene werfen und sie miteinander vergleichen, einige Ähnlichkeit und Übereinstimmung zwischen ihnen finden. Zum Beispiel im Fall eines Steines auf den Boden, in der Erhebung der See gegen den Mond hin, in der Kohäsion [Haftung - wp] und Kristallisation ist etwas Ähnliches, nämlich eine Vereinigung oder gegenseitige Annäherung von Körpern, sodaß eine jede von diesen oder den ähnlichen Erscheinungen demjenigen nicht befremdlich oder überraschend sein mag, der genau die Naturwirkungen beobachtet und miteinander verglichen hat; denn dafür wird nur dasjenige gehalten, was ungewöhnlich oder ein für sich dastehendes und außerhalb des gewöhnlichen Verlaufs unserer Beobachtung liegendes Ding ist. Daß Körper zum Mittelpunkt der Erde hin streben, wird nicht für etwas Seltsames gehalten, weil es etwas ist, das wir in jedem Augenblick unseres Lebens beobachten. Daß sie aber eine gleiche Gravitation zum Mondmittelpunkt haben, wird den meisten Menschen als wunderlich und unerklärbar erscheinen, weil es nur bei Ebbe und Flut beobachtet wird. Aber ein Naturforscher, dessen Gedanken einen größeren Kreis von Naturvorgängen umfassen, hat eine gewisse Ähnlichkeit unter himmlischen und irdischen Erscheinungen beobachtet, welche bekundet, daß unzählige Körper eine Tendenz haben, sich einander zu nähern; diese bezeichnet er durch den allgemeinen Namen Attraktion und glaubt nun, daß von allem, was daraus zurückgeführt werden kann, eine genügende Rechenschaft gegeben ist. So erklärt er Ebbe und Flut durch das Angezogenwerden der Erdkugel zum Mond hin, welches ihm nicht als wunderlich oder gesetzlos erscheint, sondern nur als ein einzelnes Beispiel einer allgemeinen Regel oder eines Naturgesetzes.

§ 105. Wenn wir demgemäß den Unterschied, der zwischen Naturforschern und Anderen hinsichtlich ihrer Erkenntnis der Erscheinungen besteht, näher ins Auge fassen, so werden wir finden, daß derselbe nicht in einer genaueren Kenntnis der wirkenden Ursache, welche die Erscheinungen hervorbringt, besteht, denn diese kann nur der Wille eines Geistes sein, sondern nur in einer größeren Breite der Auffassung, wodurch Ähnlichkeiten, Harmonien, Übereinstimmungen in den Naturwerken entdekt und die einzelnen Erscheinungen erklärt, d. h. auf allgemeine Regeln zurückgeführt werden (siehe § 62), welche Regeln, gegründet auf die in der Hervorbringung der natürlichen Wirkungen beobachtete Ähnlichkeit und Gleichförmigkeit, dem Geist höchst befremdlich sind und von ihm gesucht werden, und zwar darum, weil sie unseren Blick über das hinaus, was gegenwärtig und uns nahe ist, erweitern und uns befähigen, sehr wahrscheinliche Vermutungen über Dinge aufzustellen, die sich in sehr weiten zeitlichen und räumlichen Entfernungen ereignet haben mögen, ebenso wie Zukünftiges vorauszusagen, und diese Art von Hinstreben zur Allwissenheit wird vom Geist sehr geliebt.

§ 106. Aber wir sollten vorsichtig bei solcher Forschung verfahren; denn wir sind geneigt, zu großes Gewicht auf Analogien zu legen und zum Nachteil der Wahrheit jenem ungestümen Drang des Geistes nachzugeben, seine Kenntnisse zu allgemeinen Theoremen zu erweitern. So sind z. B. Einige sofort geneigt, Gravitation oder gegenseitige Anziehung, weil dieselbe sich in vielen Fällen zeigt, für allgemein auszugeben und anzunehmen, daß das Anziehen und das Angezogenwerden durch jeden anderen Körper eine wesentliche Eigenschaft ist, die allen Körpern, welche es auch sein mögen, innewohnt. W0gegen es doch scheint, daß die Fixsterne keine solches Zueinanderstreben haben, und so weit ist jene Gravitation davon entfernt, den Körpern wesentlich zu sein, daß in einigen Fällen ein gerade entgegengesetztes Prinzip sich zu bekunden scheint, wie im Wachsen der Pflanzen nach oben und in der Elastizität der Luft. Es ist nichts Notwendiges oder Wesentliches in diesem Vorgang, sondern dieser hängt gänzlich vom Willen des herrschenden Geistes ab, der verursacht, daß gewisse Körper sich fest zusammenschließen oder zueinander hinstreben gemäß verschiedenen Gesetzen, während er andere in einer fixierten Entfernung hält, und einigen gibt er eine völlig entgegengesetzte Tendenz, auseinander zu fliehen, gerade wie er es passend findet.

§ 107. Nach dem Vorstehenden dürfen wir, denke ich, folgende Schlüsse ziehen: 1) Es ist klar, daß die Philosophen sich selbst fruchtlos täuschen, wenn sie eine natürliche wirkende Ursache suchen, die von einer Seele oder einem Geist verschieden ist. 2) In Anbetracht dessen, daß die gesamte Schöpfung das Werk eines weisen und guten wirkenden Wesens ist, sollte es als Aufgabe der Forscher gelten, ihre Gedanken (im Gegensatz zu dem, was Einige fordern) auf die Zweckursachen der Dinge zu richten, und ich muß gestehen, daß ich keinen Grund sehe, warum eine Aufzeigung der verschiedenen Zwecke, zu welchen Naturobjekte bestimmt sind, und denen gemäß sie uranfänglich mit unaussprechlicher Weisheit eingerichtet worden sind, nicht für eine gute Weise, Rechenschaft über sie zu geben, gelten soll, die eines Forschers durchaus würdig ist. 3) Aus dem Obigen kann kein Grund entnommen werden, warum fernerhin nicht die Naturgeschichte studiert und Beobachtungen und Versuche gemacht werden sollten; daß aber diese den Menschen zum Nutzen gereichen und uns befähigen, Schlüsse zu ziehen, ist nicht das Ergebnis irgendwelcher unveränderlicher Eigenschaften, oder Beziehungen zwischen den Dingen selbst, sondern allein der göttlichen Güte und Freundlichkeit gegen die Menschen in der Leitung der Welt (§ 30 und 31). 4) Durch eine sorgsame Beobachtung der in unseren Gesichtskreis fallenden Erscheinungen können wir die allgemeinen Gesetze der Natur erkennen und aus ihnen die anderen Erscheinungen herleiten, ich sage nicht als notwendig erweisen (deduzieren, nicht demonstrieren); denn alle Herleitungen (Deduktionen) dieser Art sind abhängig von der Voraussetzung, daß der Urheber der Natur stets gleichmäßig handelt unter beständiger Beobachtung jener Regeln, die wir für Prinzipien ansehen, und das können wir doch nicht mit Sicherheit wissen.

§ 108. Die, welche allgemeine Regeln aus den Erscheinungen entnehmen und hernach die Erscheinungen aus diesen Regeln ableiten, scheinen vielmehr Zeichen, als Ursachen zu betrachten. Jemand kann natürliche Zeichen wohl verstehen, ohne ihre Analogie zu kennen oder sagen zu können, nach was für einem Gesetz ein Ding so oder anders ist. Und gleich wie es sehr wohl möglich ist, inkorrekt zu schreiben und durch eine zu strenge Befolgung allgemeiner grammatischer Regeln, so ist es bei Schlüssen aus allgemeinen Naturgesetzen nicht unmöglich, durch eine zu weite Ausdehnung der Analogie zu irren.

§ 109. Wie beim Lesen anderer Bücher ein weiser Mann seine Gedanken vielmehr auf den Sinn richten und denselben sich zu Nutze zu machen streben, als dieselben zu grammatischen Bemerkungen über die Sprache verwenden wird, so scheint es bei der Lesung des Buches der Natur unter der Würde des Geistes zu sein, allzusehr nach Exaktheit in der Zurückführung jeder einzelnen Erscheinung auf allgemeine Gesetze oder im Nachweis, wie sie aus denselben folgt, zu streben. Wir sollten uns edlere Ziele stecken, unseren Geist erfrischen und erheben durch einen Blick auf die Schönheit, Ordnung, Fülle und Mannigfaltigkeit der Naturobjekte, dann durch richtig hierauf gebaute Schlüsse unsere Begriffe von der Größe, Weisheit und Güte des Schöpfers erweitern, und zuletzt die verschiedenen Teile der Schöpfung, so weit dies bei uns steht, den Zwecken dienstbar machen, zu welchen sie bestimmt sind, nämlich Gottes Ehre und Erhaltung und Schmückung des Lebens für uns und unsere Mitgeschöpfe.

§ 110. Daß den besten Aufschluß über die vorhin erwähnte naturwissenschaftliche Erkenntnis der Regelmäßigkeit in den Erscheinungen ein gewisser berühmter Traktat über die Mechanik (NEWTONs Philosophiae naturalis principia mathematica) gewährt, wird man zweifellos anderkennen. In der Einleitung dieses mit Recht bewunderten Traktats werden Zeit, Raum und Bewegung eingeteilt in die absolute und relative, wahre und anscheinende, mathematische und vulgäre; diese Unterscheidung setzt, wie ihr Verfasser dies ausdrücklich erklärt, voraus, daß jene Größen eine Existenz außerhalb des Geistes haben, und daß sie gewöhnlich in Bezug zu den sinnlichen Dingen betrachtet werden, zu welchen sie jedoch ihrer eigenen Natur nach überhaupt keine Beziehung haben.

§ 111. Was die Zeit betrifft, wie sie hier in einem absoluten oder abstrakten Sinn genommen wird, als die Dauer oder Beharrung der Existenz der Dinge, so habe ich dem nichts hinzuzufügen, was hierüber schon in § 97 und 98 gesagt worden ist. Übrigens hält dieser berühmte Schriftsteller dafür, es gebe einen absoluten Raum, der, als nicht durch die Sinne perzipierbar, ansich gleichförmig und unbeweglich bleibt, und einen relativen Raum, der das Maß des absoluten ist; dieser relative Raum sei beweglich und bestimmt durch seine Lage im Hinblick auf sinnlich wahrnehmbare Körper, werde aber gewöhnlich für den unbeweglichen Raum genommen. Den Ort definiert er als den Teil des Raumes, den ein Körper einnimmt. Ebenso, wie der Raum teils absolut, teils relativ sein soll, ist dies auch der Ort. Absolute Bewegung ist der Übergang eines Körpers aus einem absoluten Ort an einen anderen absoluten Ort, relative Bewegung der Übergang aus einem relativen Ort an einen anderen. Da die Teile des absoluten Raumes nicht in die Sinneswahrnehmung fallen, so sind wir genötigt, statt ihrer ihre sinnfälligen Maße zu gebrauchen, und somit Ort und Bewegung mit Rücksicht auf Körper zu bestimmen, welche wir als unbeweglich betrachten. Aber es wird gesagt, wir müssen in philosophischen Betrachtungen von unseren Sinnen abstrahieren, weil es sein kann, daß keiner von den Körpern, die zu ruhen scheinen, wirklich ruht, und daß dasselbe Ding, welches relation in Bewegung ist, in Wirklichkeit ruht. Ebenso kann ein und derselbe Körper in relativer Ruhe und Bewegung oder selbst gleichzeitig in entgegengesetzter relativer Bewegung sein, ja nachdem sein Ort verschieden bestimmt wird. Alle diese Vieldeutigkeit wird in den anscheinenden Bewegungen gefunden, aber durchaus nicht in der wahren oder absoluten Bewegung, welche demgemäß allein in der Philosophie betrachtet werden sollte. Die wahre Bewegung, wird uns gesagt, ist von den anscheinenden oder relativen Bewegungen durch folgende Eigenschaften zu unterscheiden: 1) In der wahren oder absoluten Bewegung nehmen alle die Teile, welche dieselbe Lage in Bezug auf das Ganze behalten, an den Bewegungen des Ganzen Teil. 2) Wird der Ort bewegt, so bewegt sich auch das darin Befindliche, so daß ein Körper, der sich an einem Ort bewegt, welcher selbst in Bewegung ist, an der Bewegung seines Ortes Teil nimmt. 3) Wahre Bewegung wird niemals anders erzeugt oder abgeändert, als durch eine auf den Körper selbst einwirkende Kraft. 4) Wahre Bewegung wird stets geändert durch eine auf den bewegten Körper einwirkende Kraft. 5) In einer nur relativen kreisförmigen Bewegung ist keine Zentrifugalkraft, die jedoch in der wahren oder absoluten Bewegung der Quantität der Bewegung proportional ist.

§ 112. Aber ungeachtet dessen, was hier gesagt worden ist, scheint mir keine Bewegung eine andere, als eine relative, sein zu können, so daß wir, um uns Bewegung vorzustellen, uns mindestens zwei Körper vorstellen müssen, deren Abstand oder gegenseitige Lage sich ändert. Hiernach könnte, wenn überhaupt nur ein Körper existiert, dieser unmöglich in Bewegung sein. Dies scheint einleuchtend zu sein, sofern die Idee, die ich von Bewegung habe, notwendig eine Beziehung in sich schließt.

§ 113. Aber obgleich es jeglicher Bewegung notwendig ist, mehr als einen Körper zu denken, so kann es doch geschehen, daß nur einer bewegt ist, nämlich der, auf welchen die Kraft wirkt, die den Wechsel des Abstandes verursacht, oder mit anderen Worten: der, auf welchen die Tätigkeit gerichtet ist. Denn wenn gleich Einige die relative Bewegung so definieren, daß darunter die Änderung des Abstandes eines Körpers von irgendeinem anderen Körper zu verstehen ist, mag die Kraft oder Tätigkeit, welche diese Änderung bewirkt, auf ihn gerichtet worden sein oder nicht: so scheint es doch, daß, da die relative Bewegung diejenige ist, welche sinnlich perzipiert und bei den gewöhnlichen Vorgängen im Leben beobachtet wird, Jedermann, der einen gesunden Menschenverstand hat, ebensowohl, wie der beste Philosophie weiß, was sie ist; nun frage ich einen jeden Beliebigen, ob nach dem Sinn, worin er Bewegung nimmt, die Steine, über die schreitet, wenn er durch die Straßen geht, bewegt genannt werden können, weil sie ihren Abstand von seinen Füßen ändern? Mir scheint, daß, obwohl Bewegung die Beziehung eines Dings auf ein anderes in sich schließt, doch nicht notwendig ist, daß jede veränderte Beziehung Bewegung genannt wird. Wie ein Mensch über etwas denken kann, was selbst nicht denkt, so kann sich ein Körper zu einem anderen Körper hin oder von demselben wegbewegen, ohne daß doch darum der letztere selbst in Bewegung ist.

§ 114. Wenn der Ort auf verschiedene Weise bestimmt wird, so ändert sich die auf ihn bezügliche Bewegung. Von einem Menschen, der in einem Schiff ist, kann man sagen, er ruhe in Bezug auf die Seiten des Fahrzeugs und bewege sich doch in Bezug auf das Land, oder er könne sich ostwärts in dem einen und westwärts in anderer Hinsicht bewegen. Im gemeinen Leben denken die Menschen niemals über die Erde hinaus, um den Ort irgendeines Körpers zu bestimmen; was in Bezug auf die Erde ruht, wird als absolut ruhend angesehen. Aber Forscher, die einen größeren Gedankenkreis umfassen und richtigere Begriffe vom Ganzen der Dinge haben, entdecken, daß auch die Erde selbst in Bewegung ist. In der Absicht also, ihre Gedanken zu fixieren, scheinen sie die körperliche Welt als begrenzt zu denken und sich deren äußerste unbewegte Grenz oder ihre Hülse als den Ort vorzustellen, wonach sie wahre Bewegungen abschätzen. Prüfen wir unsere eigenen Begriffe, so werden wir, denke ich, finden, daß all die absolute Bewegung, von der wir uns eine Idee bilden können, im Grunde nichts anderes ist, als eine in dieser Art bestimmte relative Bewegung. Denn wie schon bemerkt worden ist, absolute Bewegung ist, wenn man alle Beziehung auf Äußeres ausschließt, undenkbar, und auf diese Art relativer Bewegung passen, wie man, wenn ich mich nicht irre, finden wird, alle die oben erwähnten Eigenschaften, Ursachen und Wirkungen, welche man der absoluten Bewegung zuschreibt. Was das über die Zentrifugalkraft Gesagte betrifft, daß dieselbe nicht bei relativer Kreisbewegung vorkommt, so sehe ich nicht, wie dies aus dem Experiment folgt, welches zum Beweis beigebracht worden ist. Siehe Philosophiae naturalis principia mathematica, im Schol. zu Defin. VIII. Denn das Wasser im Gefäß hat zu der Zeit, wo ihm die größte relative Bewegung zugeschrieben wird, meiner Meinung nach gar keine Bewegung, wie aus dem vorigen Paragraphen hervorgeht.

§ 115. Denn um einen Körper bewegt zu nennen, ist erforderlich: 1) daß derselbe seinen Abstand oder seine Lage in Beziehung auf einen anderen Körper ändert, 2) daß die diese Änderung veranlassende Kraft oder Tätigkeit auf ihn gerichtet ist. Bleibt eine dieser beiden Bedingungen unerfüllt, so entspricht es, denke ich, nicht der gewöhnlichen Auffassung, noch auch dem Sprachgebrauch, einen Körper bewegt zu nennen. Ich gebe zwar zu, daß es uns möglich ist, einen Körper, den wir seinen Abstand von einem anderen ändern sehen, als bewegt zu denken, obgleich keine Kraft auf ihn gerichtet ist (in welchem Sinn anscheinend eine Bewegung vorhanden sein mag); dann aber geschieht dies darum, weil die Kraft, welche den Abstandswechsel verursacht, von uns als gerichtet oder bezogen auf den Körper vorgestellt wird, den wir als bewegt denken, was in der Tat zeigt, daß wir des Irrtums fähig sind, ein Ding, welches unbewegt ist, sei in Bewegung; das ist alles, was sich folgern läßt.

§ 116. Aus dem Gesagten folgt, daß die philosophische Betrachtung der Bewegung nicht das Dasein eines absoluten Raumes involviert, der verschieden wäre von dem durch die Sinne perzipierten und einen auf Körper bezüglichen Raum; daß dieser letztere nicht außerhalb des Geistes existieren kann, ist klar vermöge derselben Prinzipien, welche das Gleiche von allen anderen Sinnesobjekten beweisen. Und vielleicht werden wir bei genauer Untersuchung finden, daß wir nicht einmal eine Idee eines reinen Raumes mit Ausschluß aller Körper bilden können. Ich muß bekennen, daß mir dies als unmöglich erscheint, weil diese Idee höchst abstrakt wäre. Rufe ich eine Bewegung in einem Teil meines Körpers hervor und läßt sich dieselbe frei oder ohne Widerstand vollziehen, so sage ich, es ist dort Raum; finde ich aber einen Widerstand, so sage ich, es sei dort ein Körper, und in dem Maße, wie der Widerstand gegen die Bewegung geringer oder größer ist, sage ich, der Raum sei mehr oder weniger frei. Es muß also, wenn ich von einem freien oder leeren Raum spreche, nicht vorausgesetzt werden, daß das Wort Raum für eine Idee steht, die von Körper und Bewegung gesondert oder ohne diese denkbar wäre. Freilich sind wir geneigt zu glauben, daß jedes nomen substantivum eine bestimmte Idee vertritt, die von allen anderen gesondert werden kann, was unzählige Irrtümer veranlaßt hat. Wenn ich also annehme, die ganze Welt werde vernichtet außer meinem eigenen Körper, so sage ich, es bleibt noch der bloße Raum; hiermit ist nichts anderes gemeint, als daß ich es als möglich denke, daß sich die Glieder meines Leibes nach allen Seiten hin ohne den geringsten Widerstand bewegen; wäre aber auch noch mein Leib vernichtet, dann könnte keine Bewegung und folglich kein Raum sein. Vielleicht glauben Einige, der Gesichtssinn liefere ihnen die Idee des bloßen Raumes; aber es geht aus dem, was wir anderweitig gezeigt haben, klar hervor, daß die Ideen Raum und Entfernung nicht durch diesen Sinn erlangt werden. Siehe den Versuch über das Sehen.

§ 117. Das hier Vorgetragene scheint alle jene Disputationen und jene Bedenken aufzuheben, die sich unter den Gelehrten in Bezug auf die Natur des leeren Raumes erhoben haben. Der Hauptvorteil aber, der daraus hervorgeht, besteht darin, daß wir von jenem gefährlichen Dilemma befreit werden, in welches Einige, die ihre Gedanken auf diesen Gegenstand gerichtet haben, sich selbst verstrickt glauben, nämlich entweder annehmen zu müssen, daß der reale Raum Gott ist, oder andernfalls, daß es etwas von Gott Verschiedenes gibt, das ewig, ungeschaffen, unendlich, unteilbar, unveränderlich ist; und beide Vorstellungen scheinen doch verderblich und ungereimt zu sein. Es ist gewiß, daß nicht wenige Theologen ebensowohl, wie Philosophen von großem Ansehen aus der Schwierigkeit, welche sie darin fanden, Grenzen des Raumes oder der Vernichtung des Raums zu denken, den Schluß gezogen haben, derselbe müsse göttlich sein. In jüngster Zeit haben Einige sich besonders bemüht, zu zeigen, daß dies nicht im Widerstreit zu den unmittelbaren Attributen Gottes steht. Wie sehr auch diese Lehre der Würde der göttlichen Natur widerstreiten mag, so sehe ich doch nicht, wie wir von ihr loskommen können, solange wir den herrschenden Meinungen anhängen.

§ 118. Soviel über Naturphilosophie; wir wenden uns nun zu einigen Untersuchungen, welche den anderen Hauptzweig theoretischer Erkenntnis, nämlich die Mathematik betreffen. Wie sehr diese auch wegen ihrer Klarheit und der Sicherheit der Beweisführung gepriesen werden mag, die schwerlich auf irgendeinem anderen Gebiet wiedergefunden wird, so kann sie dennoch nicht für durchaus frei von Irrtümern gehalten werden, sofern in ihren Prinzipien ein versteckter Irrtum sitzt, der den Vertretern dieser Wissenschaft mit den anderen Menschen gemeinsam ist. Obwohl die Mathematiker ihre Theoreme aus sehr einleuchtenden Fundamentalsätzen ableiten, so gehen doch ihre Prinzipien nicht über die Betrachtung der Quantität hinaus, und sie steigen nicht auf bis zu einer Betrachtung jener die Schranken der Einzelwissenschaften überschreitenden (transzendentalen) Grundsätze, welche auf eine jeder der Einzelwissenschaften Einfluß haben; jede von diesen, die Mathematik nicht ausgenommen, muß demgemäß von Irrtümern, die in diesen Grundsätzen liegen, mitbetroffen werden. Wir leugnen nicht, daß die von den Mathematikern aufgestellten Prinzipien wahr sind, und daß ihre Weise der Ableitung aus jenen Prinzipien klar und unanfechtbar ist. Wir halten aber dafür, daß es gewisse irrtümliche allgemeine Sätze gibt, die weiter reichen, als das Objekt der Mathematik, und die aus diesem Grund in dieser Wissenschaft durchgängig nur stillschweigend vorausgesetzt, aber nicht ausdrücklich erwähnt werden; wir glauben, daß sich die üblen Wirkungen jener verborgenen ungeprüften Irrtümer durch alle Zweige der Mathematik hindurch erstrecken. Um deutlich zu reden: wir vermuten, die Mathematiker sind ebensowohl, wie andere Menschen, an den Irrtümern beteiligt, welche aus der Lehre fließen, daß es abstrakte allgemeine Ideen gibt und daß Objekte außerhalb des Geistes existieren.

§ 119. Man hat dafür gehalten, die Arithmetik habe abstrakte Zahlideen zu ihrem Objekt. Die Eigenschaften und gegenseitigen Verhältnisse abstrakter Zahlen zu verstehen, wird für keinen geringen Teil theoretischer Erkenntnis gehalten. Die Meinung, daß den Zahlen in abstracto ein reines, durch den Verstand erkennbares Wesen zukommt, hat sie in Ansehen bei solchen Philosophen gesetzt, welche sich eine ungewöhnliche Feinheit und Erhebung des Denkens zum Ziel gesetzt zu haben scheinen. Der größte Wert wurde den nichtigsten Zahlenspekulationen zugeschrieben, von denen sich keine nützliche Anwendung machen läßt, sondern die nur zur Ergötzung dienen, und Einige gingen infolge davon so weit, von hohen Mysterien zu träumen, die in den Zahlen liegen sollen. Wenn wir aber unsere eigenen Gedanken durchforschen und das oben Gesagte erwägen, so werden wir wohl jene hohen Gedankenflüge und Abstraktionen gering achten und alle Untersuchungen über Zahlen nur als eben so viele mühevolle Spielereien (difficiles nugae [ermüdender Unsinn - wp]) betrachten, so weit sie nicht der Praxis dienen und den Vorteil des Lebens befördern.

§ 120. Die Einheit in abstracto haben wir oben in § 13 betrachtet; daraus und aus dem in der Einleitung Gesagten folgt offenbar, daß es gar keine solche Idee gibt. Da aber die Zahl als eine Zusammenfassung von Einheiten definiert wird, so dürfen wir schließen, daß, wenn es nichts derartiges wie Einheit oder Eins in abstracto gibt, es keine abstrakten Zahlideen gibt, welche durch die Zahlworte und Ziffern bezeichnet werden. Werden also die Theorien in der Arithmetik von den Worten und Ziffern durch Abstraktion abgesondert, wie gleicherweise auch von aller praktischen Anwendung und auch von den einzelnen gezählten Objekten, so darf man annehmen, daß sie ganz gegenstandslos sind. Hieraus ergibt sich, wie durchaus die Wissenschaft von den Zahlen der Anwendung zu dienen hat, und wie nüchtern und tändelnd sie wird, wenn man sie als etwas rein Theoretisches betrachtet.

§ 121. Da es jedoch Einige gibt, die, getäuscht durch den glänzenden Schein der Entdeckung abstrakter Wahrheiten, ihre Zeit an arithmetische Theoreme und Probleme verschwenden, welche gar keinen Nutzen bringen, so wird es nicht unangemessen sein, eine vollständigere Betrachtung anzustellen und das Täuschende jenes Scheines aufzudecken; es wird dies ganz offenbar werden, wenn wir einen Blick auf die Arithmetik in ihrer Kindheit werfen und beobachten, was es war, das ursprünglich die Menschen zum Studium dieser Wissenschaft führte und auf welches Ziel sie dabei ihr Streben richteten. Es ist eine naturgemäße Annahme, daß die Menschen zuerst zur Unterstützung des Gedächtnisses und Hilfe beim Zusammenzählen einen Gebrauch von Rechenmarken gemacht haben, oder beim Schreiben von einzelnen Strichen, Punkten oder Ähnlichem, wovon ein Jedes bestimmt war eine Einheit zu bezeichnen, d. h. ein gewisses einzelnes Ding irgendwelcher Art, das sie mit andern zusammenzuzählen hatten. Später erfanden sie die kürzere Weise, ein einzelnes Zeichen mehrere Striche oder Punkte vertreten zu lassen. Zuletzt kamen die arabischen oder indischen Zahlzeichen in Gebrauch, wobei durch Wiederholung einiger weniger Züge oder Figuren und durch eine Änderung der Bedeutung eines jeden Zeichens nach der Stelle, die es einnimmt, alle Zahlen auf das Angemessenste ausgedrückt werden können; dies scheint vermöge einer Nachahmung der Sprache geschehen zu sein, so daß sich eine genaue Ähnlichkeit zwischen der Bezeichnung durch Ziffern und durch Worte beoachten läßt, indem die neun einfachen Zahlzeichen den neun ersten Zahlworten entsprechen und die Stellen in der Zahlbezeichnung der Benennung als Zehner, Hunderte etc. in den Zahlworten. Gemäß jenen Bedingungen des einfachen Wertes und des Stellenwertes der Ziffern wurden Methoden ersonnen, aus den gegebenen Ziffern oder Zeichen der Teile zu finden, was für Ziffern und wie gestellte Ziffern geeignet sind, das Ganze zu bezeichnen und umgekehrt. Nachdem man die gesuchten Ziffern gefunden und beobachtet hat, daß die nämliche Regel oder Analogie durchgängig gilt, ist es leicht, sie in Worte zu fassen, und so wird die Zahl vollständig bekannt. Denn die Zahl irgendwelcher einzelner Dinge heißt dann bekannt, wenn wir das Zahlwort oder die Zahlzeichen (in ihrer richtigen Stellung) kennen, welche gemäß der feststehenden Analogie denselben zugehören. Denn wenn diese Zeichen bekannt sind, so können wir durch die arithmetischen Operationen die Zeichen irgendeines Teils der einzelnen durch sie bezeichneten Summen kennenlernen, und indem wir so in Zeichen rechnen, können wir, zufolge der zwischen ihnen und der bestimmten Menge von Dingen, von welchen jedes als eine Einheit gilt, zustande gebrachten Verbindung die Geschicklichkeit erlangen, richtig zu summieren, zu teilen und Verhältnisse zu bilden, welche auf die Dinge selbst Anwendung finden, die wir einer Rechnung zu unterwerfen beabsichtigen.

§ 122. In der Arithmetik werden demnach nicht Dinge, sondern Zeichen betrachtet, welche jedoch nicht um ihrer selbst willen, sondern darum, weil sie uns zeigen, wie in Bezug auf die Dinge zu verfahren ist, und wie über diese richtig zu verfügen ist, der Untersuchung unterworfen werden. Nun geschieht es hier ebenso, wie wir dies oben (§ 19 der Einleitung) in Bezug auf die Worte im Allgemeinen bemerkt haben, daß man dafür hält, abstrakte Ideen würden durch Zahlworte oder Zahlzeichen bezeichnet, indem sie in unserem Geist nicht Ideen von einzelnen Dingen anregen. Ich will jetzt keine speziellere Untersuchung hierüber führen, sondern nur bemerken, daß aus dem Gesagten klar ist, daß das, was man als abstrakte Wahrheiten und Theoreme über Zahlen ansieht, in Wahrheit auf kein Objekt geht, das von den einzelnen zählbaren Dingen verschieden wäre, daneben bloß auf Namen und Ziffern, die ursprünglich in keinem anderen Sinn betrachtet wurden, als sofern sie Zeichen sind oder geeignet, auf eine angemessene Weise alle einzelnen Dinge zu bezeichnen, welche man zu zählen nötig hatte. Hieraus folgt, daß, sie um ihrer selbst willen zu studieren, ebenso weise sein und einem ebenso guten Zweck dienen würde, wie wenn Jemand mit einer Vernachlässigung des rechten Gebrauchs oder der ursprünglichen Absicht und Aufgabe der Sprache seine Zeit auf eine unschickliche Kritik über Worte oder auf Erwägungen und Streitfragen die nur Worte betreffen, verwenden wollte.

§ 123. Von den Zahlen gehen wir in unserer Betrachtung zur Ausdehnung weiter, die als relative das Objekt der Geometrie ist. Die unendliche Teilbarkeit endlicher Ausdehnung wird zwar nicht ausdrücklich als Axiom oder als Theorem in den Elementen dieser Wissenschaft ausgesprochen, wird aber in ihr überall vorausgesetzt, und man denkt, sie stehe in einer so untrennbaren und wesentlichen Verbindung mit den geometrischen Prinzipien und Demonstrationen, daß die Mathematiker sie niemals in Zweifel ziehen oder irgendeine Untersuchung darauf richten. Da diese Vorstellung die Quelle all jener ergötzlichen geometrischen Paradoxien ist, welche in einem so schroffen Widerstreit zum schlichten Menschenverstand stehen, und die ein noch nicht durch Gelehrsamkeit vom geraden Weg abgelenkter Geist nur mit so vielem Widerstreben in sich aufnimmt, so ist sie der Hauptanlaß zu all jener mißlichen äußersten Subtilität, welche das mathematische Studium so schwierig und abstoßend macht. Können wir also zeigen, daß keine endliche Ausdehnung unendlich viele Teile enthält oder ins Unendliche teilbar ist, so folgt, daß hierdurch sofort die geometrische Wissenschaft von einer Menge von Schwierigkeiten und Widersprüchen befreit werden wird, welche stets der menschlichen Vernunft zum Vorwurf gereicht haben, und daß zugleich die Aneignung dieser Wissenschaft weniger Zeit und Mühe kosten wird, als bisher.

§ 124. Jede einzelne begrenzte Ausdehnung, welche ein Objekt unseres Denkens werden kann, ist eine Idee, die nur im Geist existieren kann, und demgemäß muß jeder Teil derselben perzipiert werden. Wenn ich also nicht unzählig viele Teile in irgendeiner begrenzten Ausdehnung, die ich betrachte, perzipieren kann, so ist gewiß, daß sie nicht darin enthalten sind; es ist aber offenbar, daß ich nicht unzählig viele Teile in irgendeiner einzelnen Linie, Fläche oder einem Körper unterscheiden kann, mag ich diese Gebilde sinnlich wahrnehmen oder sie mir in meinem Geist vorstellen; hieraus schließe ich, daß dieselben darin nicht enthalten sind. Nichts kann mir klarer sein, als daß die Ausdehnungen, die ich betrachte, nichts anderes, als meine eigenen Ideen sind, und es ist nicht weniger klar, daß ich die Ideen, die ich habe, nicht in eine unendliche Zahl anderer Ideen auflösen kann, d. h. daß sie nicht ins Unendlich teilbar sind. Wenn unter endlicher Ausdehnung etwas von einer endlichen Idee Verschiedenes gemeint ist, so erkläre ich; daß ich nicht weiß, was das ist, und daß ich demgemäß nichts davon behaupten, noch auch negieren kann. Wenn aber die Terminie Ausdehnung, Teile und ähnliche in einem verständlichen Sinn genommen werden, d. h. wenn sie Ideen bezeichnen, dann ist es ein so offenbarer Widerspruch, zu sagen, eine endliche Größe oder Ausdehnung besteht aus unendlich vielen Teilen, daß ein Jeder auf den ersten Blick anerkennt, daß es ein solcher ist. Und es ist ebenso unmöglich, daß jener Aussage, jemals irgendein denkendes Wesen beistimmt, wenn dasselbe nicht durch geringe und allmähliche Übergänge dahin gebracht worden ist, wie daß ein eben erst bekehrter Heide an das Wunder der Transsubstantiation [Verwandlung von Brot in und Wein in Leib und Blut Jesu - wp] glaubt. Alte und eingewurzelte Vorurteile erlangen oft die Geltung von Prinzipien, und solche Sätze, die einmal die Kraft und das Ansehen eines Prinzips erlangt haben, gelten nicht nur selbst, sondern mit ihnen zugleich auch das, was sich aus ihnen ableiten läßt, für erhaben über alle Prüfung. Keine Ungereimtheit ist so groß, daß nicht der Geist auf diese Weise bereit gemacht werden könnte, sie hinzunehmen.

§ 125. Wer das Vorurteil hegt, daß abstrakte allgemeine Ideen existieren, der kann auch die Annahme billigen, daß (was auch immer von den sinnlichen Ideen gelten mag) die Ausdehnung in abstracto ins Unendliche teilbar ist und wer dafür hält, daß die Sinnesobjekte außerhalb des Geistes existieren, wird vielleicht aufgrund hiervor zu dem Zugeständnis gebracht werden, daß eine Linie, die nur einen Zoll lang ist; unzählig viele Teile enthalten kann, welche wirklich existieren, obwohl sie zu klein sind, um unterschieden zu werden. Diese Irrtümer sind im Geist der Geometer ebensowohl eingewurzelt, wie im Geist anderer Menschen, und haben den gleichen Einfluß auf ihre Erwägungen, und es wäre nicht schwer zu zeigen, wie darauf die geometrischen Argumente beruhen, auf welche die unendliche Teilbarkeit der Ausdehnung gestützt wird. Für jetzt wollen wir nur im Allgemeinen bemerken, warum alle Mathematiker diese Lehre so sehr lieben und mit solcher Zähigkeit an ihr festhalten.

§ 126. Es ist an einer anderen Stelle (§ 15 der Einleitung) bemerkt worden, daß die geometrischen Sätze und Beweise allgemeine Ideen betreffen; es ist dort erklärt worden, in welchem Sinn dies zu verstehen ist, nämlich, daß die einzelnen Linien und Figuren in der Zeichnung so betrachtet werden, daß sie unzählige andere von verschiedener Größe vertreten, oder mit anderen Worten: der Geometer betrachtet sie mit Abstraktion von ihrer Größe, was nicht in sich schließt, daß er eine abstrakte Idee bildet, sondern nur, daß er sich nicht darum kümmert, welches die einzelne Größe ist, ob eine bedeutende oder geringe, sondern dieselbe als etwas für die Beweisführung Gleichgültiges ansieht; hieraus folgt, daß von einer in der Zeichnung enthaltenen Linie, obschon dieselbe nur einen Zoll lang ist, so gesprochen werden muß, als ob dieselbe zehntausend Teile enthält, weil sie nicht ansich, sondern als allgemein betrachtet wird; allgemeine aber ist sie nur in ihrer Bedeutung, wonach sie unzählige Linien vertritt, die größer sind, als sie selbst, in welchen zehntausend und mehr Teile unterschieden werden können, obschon sie selbst nicht mehr, als einen Zoll lang sein mag. Demgemäß werden die Eigenschaften der bezeichneten Linien (nach einer sehr üblichen Redeweise) auf das Zeichen übertragen und durch ein Mißverständnis so betrachtet, als ob sie diesem nach seiner eigenen Natur angehören.

§ 127. Da keine Zahl von Teilen so groß ist, daß es nicht eine Linie geben könnte, die deren noch mehrere enthält, so wird gesagt, die Linie von einem Zoll enthält so viele Teile, daß deren Zahl jede angebbare Zahl überschreitet; dies ist wahr, nicht von jener Linie ansich, sondern nur vom dem durch sie Bezeichneten. Hält man aber in seinem Denken diese Unterscheidung nicht fest, so kommt man unvermerkt zu dem Glauben, daß die kleine einzelne auf Papier gezeichnete Linie in sich selbst unzählig viele Teile hat. Es gibt nichts derartiges, wie den zehntausendsten Teil eines Zolles, wohl aber einer Meile oder des Erddurchmessers, welche durch jenen Zoll bezeichnet werden können. Wenn ich also ein Dreieck aufs Papier zeichne und eine Seite z. B., die nicht über einen Zoll lang ist, als Radius nehme, so betrachte ich diesen als geteilt in zehntausend oder in hunderttausend Teile oder mehr. Denn obwohl der zehntausendste Teil jener Linie ansich betrachtet ganz und gar nichts ist und demgemäß ohne irgendeinen Irrtum oder Nachteil vernachlässigt werden kann, so folgt doch aus der Betrachtung dieser Linien als bloßer Zeichen für größere Quantitäten, deren zehntausendster Teil sehr beträchtlich sein kann, daß, um beträchtliche Irrtümer in der Anwendung zu vermeiden, der Radius als eine Linie von zehntausend oder mehr Teilen genommen werden muß.

§ 128. Aus dem Gesagten ist klar, warum wir, wenn ein Satz allgemein anwendbar sein soll, von den auf das Papier hingezeichneten Linien so sprechen müssen, als ob dieselben Teile enthalten, welche sie in Wirklichkeit nicht enthalten. Tun wir dies, so werden wir doch bei genauer Prüfung wohl finden, daß wir dabei nicht einen Zoll selbst als bestehend aus Teilen oder als zerlegbar in tausend Teile betrachten können, sondern nur eine gewisse andere Linie, die weit größer ist, als ein Zoll, und durch diesen repräsentiert wird, und daß wir, wenn wir sagen, eine Linie sei ins Unendliche teilbar, eine unendlich große Linie meinen müssen. Im Erwähnten scheint die Hauptursache zu liegen, warum man die Voraussetzung der unendlichen Teilbarkeit endlicher Ausdehnung in der Geometrie für erforderlich gehalten hat.

§ 129. Die vielen aus dieser Voraussetzung hervorgehenden Ungereimtheiten und Widersprüche hätten, sollte man meinen, als ebensoviele Beweise gegen dieselbe gelten sollen. Aber ich weiß nicht, nach was für einer Logik man annimmt, daß Beweise a posteriori [im Nachhinein - wp] gegen Sätze, die das Unendliche betreffen, nicht zulässig sind. Als ob es nicht sogar für einen unendlichen Geist unmöglich wäre, Widersprüche miteinander zu vereinigen, oder als ob etwas Ungereimtes und Widersprechendes in einer notwendigen Verbindung mit der Wahrheit stehen oder aus ihr herfließen könnte. Vielmehr wird ein Jeder, der die Schwäche dieses Vorgebens erkennt, denken, daß es ersonnen wurde der Trägheit des Geistes zu Gefallen, der sich lieber bei einem gemächlichen Zweifel beruhigt, als daß er die Mühe auf sich nähme, jene Voraussetzungen, die er stets als wahr angenommen hat, einer strengen Prüfung zu unterwerfen.

§ 130. In der jüngsten Zeit sind die Spekulationen über unendliche Größen so weit getrieben worden und haben so seltsame Vorstellungen erzeugt, daß dadurch nicht geringe Zweifel und Disputationen unter den Geometern der Gegenwart veranlaßt worden sind. Einige derselben, die in hohem Ansehen stehen, begnügen sich nicht mit der Behauptung, daß endliche Linien in eine unendliche Zahl von Teilen zerlegt werden können sondern behaupten ferner noch, daß ein jeder dieser unendlich kleinen Teile selbst wieder in eine unendliche Zahl anderer Teile oder unendlich kleiner Größen zweiter Ordnung zerlegbar ist und so weiter in infinitum [unendlich - wp]. Diese, sage ich, behaupten, es gebe unendlich kleine Teile unendlich kleiner Teile unendlich kleiner Größen, ohne daß jemals ein Ende erreicht wird, so daß nach ihnen ein Zoll nicht nur eine unendliche Zahl von Teilen enthält, sondern eine Unendlichkeit einer Unendlichkeit einer Unendlichkeit von Teilen ins Unendliche hinein. Andere halten dafür, daß alle Ordnungen von Infinitesimalgrößen unterhalb der ersten gar nichts sind, indem sie die Annahme mit gutem Grund für absurd halten, daß es irgendeine positive Quantität oder eine Teilgröße einer Ausdehnung gibt, welche, obschon unendlich vervielfacht, niemals der kleinsten gegebenen Ausdehnung gleich werden kann. Und doch scheint es andererseits nicht weniger absurd, anzunehmen, daß das Quadrat, der Kubus oder eine andere Potenz einer positiven realen Basis selbst gar nichts ist, was diejenigen behaupten müssen, welche Infinitesimalgrößen der ersten Ordnung, aber keine der höheren Ordnungen annehmen.

§ 131. Haben wir also nicht das Recht, zu folgern, daß sie beide im Unrecht sind und daß es in der Tat nichts Derartiges gibt, wie unendlich kleine Teile oder eine unendliche Zahl von Teilen, die in einer endlichen Größe enthalten sind? Aber ihr werdet sagen, wenn diese Lehre gilt, so würden die Grundlagen der Geometrie zerstört werden, und die großen Männer, welche diese Wissenschaft zu einer so erstaunlichen Höhe gebracht haben, hätten ein Luftschloß gebaut. Hierauf kann entgegnet werden, daß alles, was in der Geometrie nützlich ist und dem menschlichen Leben Förderung gewährt, doch gesichert und durch unsere Prinzipien unerschüttert bleibt. Diese Wissenschaft wird, als eine praktische betrachtet, eher Vorteil aus dem Gesagten ziehen, als irgendeine Schädigung zu befürchten haben. Dies aber in das rechte Licht zu stellen, mag die Aufgabe einer besonderen Untersuchung sein. Mag übrigens folgen, daß einige der verwickeltsten und subtilsten Teile der theoretischen Mathematik wegfallen werden ohne irgendeine Benachteiligung der Wahrheit, so sehe ich doch nicht, was für einen Schaden die Menschheit davon haben wird. Im Gegenteil, es wäre zu wünschen, daß Männer von großen Fähigkeiten und ausdauerndem Fleiß ihre Gedanken von jenen Ergötzungen ablenken und dieselben dem Studium solcher Dinge zuwenden, die den Angelegenheiten des Lebens näher liegen oder mehr direkten Einfluß auf die Sitten haben.

§ 132. Wenn man sagt, daß einige unzweifelhaft wahre Sätze durch Methoden, wobei vom Unendlichen Anwendung gemacht worden ist, entdeckt wurden, und daß dies nicht möglich gewesen wäre, wenn die Existenz desselben einen Widerspruch in sich schließen würde, so antworte ich, daß bei einer eindringlichen Untersuchung nicht gefunden werden wird, daß in irgendeinem Fall unendlich kleine Teile endlicher Linien gedacht oder angewandt werden müssen oder auch nur Quantitäten, die geringer wären, als das sinnlich wahrnehmbare Minimum; ja es wird einleuchten, daß dies auch in der Tat niemals geschehen würde, da es unmöglich ist.

§ 133. Aus dem Gesagten geht klar hervor, daß sehr zahlreiche und folgenschwere Irrtümer aus jenen falschen Prinzipien hervorgegangen sind, die wir in den vorstehenden Teilen dieser Abhandlung bekämpft haben. Zugleich erweisen sich die denselben entgegengesetzten Annahmen als die fruchtreichsten Prinzipien, aus welchen unzählige Konsequenzen hervorgehen, die der wahren Philosophie ebensowohl, wie der Religion höchst vorteilhaft sind. Insbesondere ist gezeigt worden, daß die Materie oder die absolute Existenz körperlicher Objekte dasjenige ist, worin die erklärtesten und verderblichsten Feinde aller menschlichen und göttlichen Erkenntnis immer ihre Hauptstütze gesucht und worauf sie ihr Vertrauen gesetzt haben. Und fürwahr, wenn durch Unterscheidung der wirklichen Existenz nicht denkender Dinge von ihrem Erkanntwerden und durch die Annahme, daß sie eine Subsistenz [unabhängiges Dasein - wp] ansich selbst außerhalb der Seelen oder Geister haben, kein einziges Ding in der Natur erklärt wird, sondern im Gegenteil eine große Zahl unlösbarer Schwierigkeiten entsteht; wenn die Voraussetzung, daß es Materie gibt, bloße eine prekäre [gefährdet - wp] ist, da sich sich nicht auf einen einzigen Grund stützt; wenn ihre Konseqenzen nicht das Licht der Prüfung und freien Forschung ertragen, sondern sich durch die dunkle und unbestimmte Behauptung der Unbegreiflichkeit des Unendlichen decken; wenn zugleich die Beseitigung dieser Materie nicht geringste üble Folge nach sich zieht, wenn dieselbe nicht einmal in der Welt vermißt wird, sondern jegliches Ding ebenso leicht, ja leichter ohne sie sich begreifen läßt; wenn schließlich sowohl Skeptiker, wie auch Atheisten durch die Voraussetzung, daß es nur Geister und Ideen gibt, für immer zum Schweigen gebracht werden, und diese Ansicht sowohl der Vernunft, als auch der Religion gemäß ist: dann, denke ich, sollte man erwarten, daß dieselbe gebilligt und entschieden festgehalten wird, möchte ie auch nur als eine Hypothese aufgestellt und die Existenz der Materie als möglich zugegeben worden sein, während ich doch, wie ich glaube, deutlich gezeigt zu haben, daß dieselbe nicht möglich ist.

§ 134. Es ist wahr, daß zufolge der obigen Prinzipien verschiedene Disputationen und Spekulationen, die für nicht unwesentliche Teile der Gelehrsamkeit gehalten werden, als nutzlos wegfallen. Wie sehr dies aber auch gegen unsere Prinzipien diejenigen einnehmen mag, welche schon sehr in Studien jener Art sich vertieft und große Fortschritte in denselben gemacht haben, so wird doch, hoffen wir, von Anderen kein berechtigter Grund zur Verwerfung der hier dargelegten Prinzipien und Sätze darin gefunden werden, daß dieselben die Mühe des Studiums vermindern und die menschlichen Wissenschaften klarer, übersichtlicher und zugänglicher machen, als sie zuvor waren.

§ 135. Nach Erledigung dessen, was wir über die Erkenntnis von Ideen zu sagen beabsichtigten, haben wir, der oben aufgestellten Disposition zufolge, zunächst von Geistern zu handeln; die Erkenntnis, welche die Menschen von denselben haben, ist wohl nicht so mangelhaft, wie man gewöhnlich annimmt. Als Hauptgrund für die Ansicht, daß wir die Natur der Geister nicht kennen, wird angeführt, daß wir keine Idee davon haben. Aber es sollte doch fürwahr nicht als ein Mangel des menschlichen Verstandes angesehen werden, daß derselbe nicht die Idee Geist perzipiert, wenn es offenbar unmöglich ist, daß es eine solche Idee gibt; dies aber ist, wenn ich nicht irre, in § 27 bewiesen worden, wozu ich hier noch füge, daß gezeigt worden ist, ein Geist sei die einzige Substanz oder der Träger, worin die nicht denkenden Dinge oder Ideen existieren können, und daß es offenbar eine ungereimte Annahme ist, diese Substanz, welche Ideen trägt oder perzipiert, sei selbst eine Idee oder ähnlich einer Idee.

§ 136. Vielleicht wird gesagt werden, es fehle uns ein Sinn, der (wie Einige sich eingebildet haben) geeignet ist, auch Substanzen zu erkennen; besäßen wir denselben, so könnten wir unsere Seele ebenso gut erkennen, wie wir ein Dreieck erkennen. Hierauf antworte ich: daß, wenn wir mit einem neuen Sinn ausgestattet wären, wir dadurch doch nur gewisse neue Sinneswahrnehmungen oder sinnliche Ideen erlangen könnten. Niemand aber, wie ich glaube, wird sagen, was er unter den Ausdrücken Seele und Substanz versteht, sei nur eine besondere Art von Idee oder Sinneswahrnehmung. Wir dürfen demgemäß schließen, daß, alles wohl erwogen, es ebensowenig vernunftgemäß ist, unsere Kräfte darum, weil sie uns keine Idee von einem Geist oder einer tätigen denkenden Substanz liefern, für mangelhaft zu halten, als es sein würde, sie wegen der Unfähigkeit zu tadeln, ein rundes Viereck zu begreifen.

§ 137. Aus der Meinung, daß Geister nach der Weise einer Idee oder Sinneswahrnehmung zu erkennen seien, sind manche ungereimte und vom rechten Glauben abweichende (heterodoxe) Annahmen und Zweifel mancherlei Art in Bezug auf die Natur der Seele entstanden. Es ist sogar wahrscheinlich, daß diese Meinung Einige zu dem Zweifel geführt hat, ob sie überhaupt irgendeine von ihrem Körper verschiedene Seele haben, da sie bei der Untersuchung sich nicht im Besitz einer Idee von ihr finden konnten. Daß eine Idee, welche untätig ist und deren Existenz im Perzipiertwerden besteht, das Abbild oder das Gleichnis eines ansich bestehenden tätigen Wesens ist, scheint keiner anderen Widerlegung zu bedürfen, als der bloßen Aufmerksamkeit auf das, was unter jenen Worten verstanden wird. Vielleicht aber werdet ihr sagen, wenngleich eine Idee einem Geist nicht in dessen Denken, Handeln oder substantiellem Bestehen gleichen kann, so kann sie ihm doch in anderen Beziehungen gleichen, und es ist nicht nötig, daß eine Idee oder ein Bild in allen Beziehungen seinem Original gleicht.

§ 138. Ich antworte: wenn nicht in den erwähnten Beziehungen, dann unmöglich in irgendwelchen anderen. Nehmt die Fähigkeit des Wollen, Denkens und der Ideenperzeption hinweg, so bleibt nichts mehr übrig, worin eine Idee einem Geist gleichen könnte. Denn unter dem Wort Geist [bewu] verstehen wir nur das, was denkt, will und perzipiert; dies und nur dies macht die Bedeutung dieses Wortes aus. Ist es also unmögllich, daß diese Vermögen in irgendeinem Grad in einer Idee repräsentiert sind, so ist es offenbar, daß es keine Idee eines Geistes geben kann.

§ 139. Aber es wird entgegnet werden, wenn es keine durch die Ausdrücke Seele, Geist und Substanz bezeichneten Ideen gibt, so sind dieselben gänzlich bedeutungslos oder ohne Sinn. Ich antworte: diese Ausdrücke bedeuten oder bezeichnen ein wirkliches Ding, welches weder eine Idee, noch einer Idee ähnlich ist, sondern Ideen perzipiert und in Bezug auf sie will und denkt. Was ich selbst bin, was ich durch den Terminus "Ich" bezeichne, ist identisch mit dem, was unter "Seele" oder "geistige Substanz" zu verstehen ist. Wird gesagt, dies heiße nur um ein Wort rechten, und da die unmittelbaren Bedeutungen anderer Namen mit allgemeiner Übereinstimmung Ideen genannt werden, so kann kein Grund angeführt werden, warum das, was durch die Namen Geist oder Seele bezeichnet wird, nicht ebenso genannt werden soll, so antworte ich: alle nicht denkenden Objekte des Geistes kommen darin miteinander überein, daß sie gänzlich passiv sind und daß ihre Existenz nur in ihrem Perzipiertwerden besteht, wogegen eine Seele oder ein Geist ein aktives Ding ist, dessen Existenz nicht im Perzipiertwerden, sondern im Perzipieren von Ideen und im Denken besteht. Es ist demgemäß zur Vermeidung von Zweideutigkeit und von Nichtunterscheidung völlig verschiedener und unähnlicher Wesen erforderlich, zwischen Geist und Idee einen Unterschied zu machen. Siehe § 27.

§ 140. In einem weiteren Sinn des Wortes mag gesagt werden, daß wir eine Idee oder vielmehr einen Begriff (notion) von einem Geist haben: d. h. wir verstehen die Bedeutung des Wortes; andernfalls könnten wir ja nichts davon bejahen oder verneinen. Wie wir ferner die Ideen, welche in anderen Geistern sind, mittels unserer eigenen, die, wie wir voraussetzen, jenen ähnlich sind, verstehen, so erkennen wir andere Geister mittels unserer eigenen Seele, welche in diesem Sinne das Abbild oder die Idee jener ist, indem sie eine gleiche Beziehung zu anderen Geistern hat, wie Bläue oder Hitze, die ich perzipiere, zu den gleichartigen, durch einen Andern perzipierten Ideen.

§ 141. Man muß nicht meinen, daß die, welche der Seele eine in ihrem Wesen begründete (natürliche) Unsterblichkeit zuschreiben, dafür halten, dieselbe könne absolut nicht vernichtet werden, selbst nicht durch die Allmacht ihres Schöpfers; sie behaupten nur, sie sei nicht vermöge der gewöhnlichen Gesetze der Natur oder der Bewegung dem Zerfallen oder Aufgelöstwerden ausgesetzt. Diejenigen dagegen, welche annehmen, die Seele eines Menschen sei nur eine feine Lebensflamme oder ein System von materiellen Lebensgeistern, lassen sie vergänglich und zerstörbar, gleich dem Körper sein, da nichts leichter zerstreut werden kann, als ein solches Ding, welches der Natur gemäß unmöglich die Auflösung des umschließenden Gehäuses überleben kann. Und diese Vorstellung ist begierig ergriffen und gehegt worden vom schlechtesten Teil der Menschen als das wirksamste Gegenmittel gegen alle Eindrücke der Tugend und Religion. Aber es ist deutlich gezeigt worden, daß Körper, von welchem Bau oder Gefüge sie auch sind, nur passive Ideen im Geist sind, der von ihnen weiter absteht und ihnen ungleichartiger ist, als das Licht von der Finsternis. Die Seele ist, wie wir gezeigt haben, unteilbar, unkörperlich, unausgedehnt, folglich auch unzerstörbar. Nichts kann deutlicher sein, als daß der Naturlauf, d. h. die Bewegungen, Wechsel, der Verfall und die Auflösung, wovon wir stündlich Naturkörper betroffen sehen, unmöglich eine tätige, einfache, unzusammengesetzte Substanz betreffen kann; ein solches Ding ist demgemäß nicht durch die Kraft der Natur zerstörbar, d. h. die menschliche Seele hat eine natürliche Unsterblichkeit.

§ 142. Nach dem Gesagten ist es, denke ich, klar, daß unsere Seelen nicht in derselben Weise, wie empfindungslose untätige Objekte oder in der Weise einer Idee erkannt werden können. Geister und Ideen sind so durchaus verschiedene Dinge, daß, wenn wir sagen, sei existieren, sie werden erkannt, nicht angenommen werden darf, daß dies Worte irgendetwas beiden Wesen Gemeinsames bezeichnen; es gibt nichts Ähnliches oder Gemeinsames in ihnen, und die Erwartung, daß wir durch irgendeine Vermehrung oder Erweiterung unserer Geisteskräfte befähigt werden könnten, einen Geist so zu erkennen, wie wir ein Dreieck erkennen, scheint mir ebenso ungereimt zu sein, als wenn wir hoffen würden, einen Ton zu sehen. Ich betone dies, weil ich denke, daß es von Bedeutung ist zur Klärung verschiedener wichtiger Fragen und zur Vermeidung einiger sehr gefährlicher Irrtümer, welche die Natur der Seele betreffen. Man kann, glaube ich, streng genommen nicht sagen, daß wir eine Idee von einem tätigen Ding oder von einer Tätigkeit haben, obwohl man sagen kann, daß wir einen Begriff (eine Vorstellung, notion) davon haben. Ich habe eine gewisse Kenntnis oder einen Begriff von meinem Geist und seinen Tätigkeiten, die sich auf Ideen beziehen, sofern ich weiß oder verstehe, was mit jenen Worten gesagt werden soll. Was ich weiß, davon habe ich einen Begriff. Ich schließe nicht aus, daß die Ausdrücke Idee und Begriff miteinander vertauschbar gebraucht werden, wenn die Welt es so will. Aber es fördert doch die Klarheit und Bestimmtheit, sehr verschiedene Dinge mit verschiedenen Namen zu bezeichnen. Ebenso ist zu bemerken, daß, da alle Beziehungen eine Tätigkeit des Geistes in sich schließen, nicht in einem strengen Sinn gesagt werden kann, daß wir eine Idee, sondern vielmehr zu sagen ist, daß wir einen Begriff von den Beziehungen oder Verhältnissen zwischen den Dingen haben. Wenn jedoch, wie es heute üblich ist, das Wort Idee auf Geister, Beziehungen und Tätigkeiten mitbezogen wird, so handelt es sich dabei schließlich doch nur um den Wortgebrauch.

§ 143. Es wird nicht unpassend sein, hier noch die Bemerkung beizufügen, daß die Lehre von den abstrakten Ideen keinen geringen Anteil daran gehabt hat, die Wissenschaften, welche eigens von geistigen Dingen handeln, verwickelt und dunkel zu machen. Man hat sich vorgestellt, man könne abstrakte Begriffe von den Kräften und Tätigkeiten des Geistes bilden und dieselben abgelöst ebensowohl von der Seele oder dem Geist selbst, wie von ihren bezüglichen Objekten und Wirkungen betrachten. Infolge hiervon ist eine große Zahl von dunklen und mehrdeutigen Ausdrücken, welche abstrakte Begriffe bezeichnen sollen, in die Metaphysik und Moral eingeführt worden, und hieraus sind unzählige Verwirrungen und Disputationen unter den Gelehrten erwachsen.

§ 144. Aber nichts scheint mehr zum Aufkommen von Streitigkeiten und Irrungen, welche die Natur und die Tätigkeiten der Seele betreffen, beigetragen zu haben, als der Gebrauch, von jenen Dingen in Ausdrücken zu reden, die von sinnlichen Dingen entnommen sind. So wird z. B. der Wille als die Bewegung der Seele bezeichnet: dies flößt den Glauben ein, der menschliche Geist sei wie ein Ball in Bewegung, angestoßen und bestimmt durch die Sinnesobjekte mit gleicher Notwendigkeit, wie dies durch den Schlag eines Ballschlegels geschieht. Hieraus fließen endlose Zweifel und Irrtümer mit gefährlichen Folgen auf dem Gebiet der Moral. Das alles kann, ich zweifle nicht daran, geklärt werden und die Wahrheit kann schlicht, einfach und in sich wohlgegründet erscheinen, falls nur die Philosophen dazu bestimmt werden könnten, in sich selbst einzukehren und aufmerksam ihre eigenen Gedanken zu betrachten.

§ 145. Aus dem Gesagten geht klar hervor, daß wir die Existenz anderer Geister auf keine andere Weise, als durch ihre Tätigkeiten oder durch die von ihnen in uns hervorgerufenen Ideen erkennen können. Ich nehme verschiedene Bewegungen, Veränderungen und Verknüpfungen von Ideen wahr, die mir bekunden, daß es bestimmte einzelne tätige Wesen gleich mir selbst gibt, welche damit in Verbindung stehen und an der Hervorbringung derselben Teil haben. Hiernach ist die Kenntnis, welche ich von anderen Geistern habe, keine unmittelbare, wie es die Kenntnis meiner Ideen ist, sondern sie ist durch Ideen vermittelt, welche ich als Wirkungen oder begleitende Zeichen auf tätige Wesen oder Geister beziehe, die von mir selbst verschieden sind.

§ 146. Aber obwohl es einige Dinge gibt, die uns überzeugen, daß die Wirksamkeit menschlicher Wesen an ihrer Hervorbringung beteiligt ist, so ist es doch einem Jeden klar, daß die Dinge, welche wir Naturprodukte nennen, d. h. der weitaus größere Teil der von uns perzipierten Ideen oder Sinneswahrnehmungen, nicht durch menschliche Willensakte hervorgebracht oder von denselben abhängig ist. Es existiert also ein anderer Geist, der sie verursacht, da die Annahme, daß sie durch sich selbst bestehen, einen Widerspruch in sich schließen würde. Siehe § 29. Wenn wir aber aufmerksam jene beständige Regelmäßigkeit Ordnung und Verkettung der Naturobjekte betrachten, die erstaunliche Pracht, Schönheit und Vollkommenheit der größeren und die höchste Kunst in der Bildung der kleineren Teile der Schöpfung, zugleich mit der genauen Übereinstimmung und dem Zusammenhang aller Teile des Ganzen, und vor allem die niemals genug bewunderten Gesetzes des Schmerzes und der Lust und die Instinkte oder Naturtriebe, Bestrebungen und Affekte der Tiere: wenn wir, sage ich, das alles in Betracht ziehen und gleichzeitig den Sinn und die Bedeutung der Attribute "Einer, ewig, unendlich weise, gut und vollkommen" beachten, so werden wir klar erkennen, daß sie dem vorhin erwähnten Geist angehören, der alles in allem wirkt und durch den alles besteht.

§ 147. Hieraus leuchtet ein, daß Gott ebenso gewiß und unmittelbar erkannt wird, wie irgendein anderes psychisches Wesen oder ein Geist, welcher es auch sei, der von uns selbst verschieden ist. Wir dürfen sogar behaupten, daß die Existenz Gottes weit einleuchtender perzipiert wird, als die Existenz von Menschen, weil die Naturwirkungen unendlich zahlreicher und beträchtlicher sind, als die, welche Menschen zugeschrieben werden. Es gibt durchaus kein Merkmal, das einen Menschen oder eine von ihm hervorgebrachte Wirkung bekundet, und das nicht noch strenger das Sein jenes Geistes erweist, welcher der Urheber der Natur ist. Denn es leuchtet ein, daß bei der Affizierung anderer Personen der Wille eines Menschen kein anderes Objekt hat, als nur die Bewegung der Glieder seines Leibes; daß aber eine solche Bewegung von irgendeiner Idee im Geiste eines Andern begleitet ist oder dieselbe hervorruft, hängt gänzlich vom Willen des Schöpfers ab. Er allein ist der, welcher, da er alle Dinge trägt durch das Wort seiner Macht, jene Beziehung zwischen Geistern aufrecht erhält wodurch sie fähig sind, ihre Existenz gegenseitig zu erkennen. Dieses reine und helle Licht aber, welches Jeglichen erleuchtet, ist selbst unsichtbar.

§ 148. Die Menge gedankenloser Personen scheint ganz allgemein vorzuschützen, daß man Gott nicht sehen kann. Könnten wir ihn nur sehen, sagen diese Leute, wie wir einen Menschen sehen, so würden wir glauben, daß er ist, und aufgrund dieses Glaubens seinen Geboten gehorchen. Aber ach! wir brauchen ja nur unsere Augen zu öffnen, um den Oberherrn aller Dinge in vollerem Maße und mit höherer Klarheit zu schauen, als irgendeines unserer Mitgeschöpfe. Ich stelle mir nicht vor, daß wir (wie Einige wollen) Gott durch einen direkten und unmittelbaren Anblick sehen, oder daß wir körperliche Dinge durch sich selbst sehen, sondern durch das, was sie im Wesen Gottes repräsentiert, welche Lehre, wie ich bekennen muß, mir unverständlich ist. Doch ich will meine Meinung erläutern. Ein menschlicher Geist, eine menschliche Person, wird nicht sinnlich perzipiert, da er keine Idee ist; sehen wir also die Farbe, Größe, Gestalt und die Bewegungen eines Menschen, so perzipieren wir nur gewisse Sinneswahrnehmungen oder Ideen in unseren eigenen Geistern, und da sich diese unserem Blick in mehreren besonderen Gruppen darstellen, so dienen sie dazu, uns die Existenz von endlichen und geschaffenen Geistern, die uns selbst ähnlich sind, anzuzeigen. Hieraus ist klar, daß wir nicht einen Menschen sehen, wenn unter Mensch etwas uns Ähnliches, das lebt, sich bewegt, wahrnimmt und denkt, verstanden wird, sondern nur einen solchen Ideenkomplex, der uns anleitet, zu denken, daß ein besonderes Denk- und Bewegungsprinzip, welches uns selbst gleicht, damit zugleich vorhanden und dadurch repräsentiert ist. In derselben Weise sehen wir Gott; der ganze Unterschied liegt darin, daß, während irgendeine endliche und begrenzte Gruppe von Ideen einen einzelnen menschlichen Geist anzeigt, wir jederzeit und überall, wohin wir auch unsere Blicke richten mögen, deutliche Spuren der Gottheit erblicken, da jegliches Ding, das wir sehen, hören, fühlen oder sonstwie sinnlich wahrnehmen, ein Zeichen oder eine Wirkung der göttlichen Macht ist, in eben der Weise, wie unsere Perzeptionen der von Menschen hervorgebrachten Bewegungen uns als Zeichen dienen.

§ 149. Es ist also klar, daß nichts offenbarer für Jeden, der des geringsten Nachdenkens fähig ist, sein kann, als die Existenz Gottes oder eines Geistes, der unseren Geistern innerlich gegenwärtig ist, indem er in ihnen all jene Mannigfaltigkeit von Ideen und Sinneswahrnehmungen hervorbringt, die uns beständig affizieren, eines Geistes, von dem wir absolut und gänzlich abhängig sind, kurz: "in dem wir leben, weben und sind". Daß zur Entdeckung dieser großen Wahrheit, die dem Geist so nahe liegt uns so zugänglich ist, nur die Vernunft so Weniger gelangt, ist ein betrübender Beweis der Stumpfheit und Unaufmerksamkeit der Menschen, die, obgleich sie rings umgeben sind von so klaren Selbstbezeugungen der Gottheit, doch so wenig davon ergriffen werden, daß es scheint, als seien sie gleichsam geblendet durch ein Übermaß an Licht.

§ 150. Aber, werdet ihr sagen, hat denn die Natur keinen Anteil an der Hervorbringung von Naturobjekten und müssen diese alle der unmittelbaren und alleinigen Wirksamkeit Gottes zugeschrieben werden? Ich antworte: wird unter Natur nur die sichtbare Reihe von Wirkungen oder von Sinneswahrnehmungen verstanden, welche nach gewissen feststehenden und allgemeinen Gesetzen unserem Geist eingeprägt sind: dann ist klar, daß die Natur in diesem Dinne des Wortes überhaupt nichts hervorbringen kann. Wird aber unter Natur ein sowohl von Gott, als auch von den Naturgesetzen und sinnlich perzipierten Dingen verschiedenes Wesen verstanden, so muß ich gestehen, daß mir dann dieses Wort ein leerer Schall ohne irgendeine verständliche Bedeutung ist. Natur in diesem Sinne ist ein eitles Wahngebilde, welche die Heiden aufgebracht haben, die keinen richtigen Begriff von der Allgegenwart und unendlichen Vollkommenheit Gottes besaßen. Unerklärlicher aber ist, daß es Eingang finden konnte unter Christen, welche an die heilige Schrift zu glauben bekannten, die doch beständig der unmittelbaren Hand Gottes jene Wirkungen zuschreibt, welche die heidnischen Philosophen als Wirkungen der Natur zu erklären pflegen. "Der Herr zieht die Nebel auf vom Ende der Erde; er macht die Blitze im Regen und läßt den Wind kommen aus verborgenen Orten" (Jeremias 10, 13). Er macht aus der Finsternis den Morgen und aus dem Tag die finstere Nacht" (Amos 5, 8). "Du suchest das Land heim und wässerst es und machest es sehr reich. Du segnest sein Gewächs und krönst das Jahr mit Deiner Güte. Die Anger sind voll Schafe und die Augen stehen dick mit Korn" (Psalm 65, 10-14). Obgleich dies aber die beständige Sprache der Schrift ist, so haben wir doch, ich weiß nicht was für eine Abneigung, zu glauben, daß Gott sich so direkt mit unseren Angelegenheiten befaßt. Gern möchten wir ihne in einem großen Abstand von uns denken und eine blinde, nicht denkende Vertretung an seine Stelle setzen, obgleich (wenn wir PAULUS glauben dürfen) "er nicht fern ist von einem Jeglichen unter uns".

§ 151. Es wird ohne Zweifel entgegnet werden, die langsame und allmähliche Weise, die sich bei der Entstehung von Naturobjekten beobachten läßt, scheint zu ihrer Ursache nicht die unmittelbare Hand eines allmächtigen wirkenden Wesens zu haben. Zudem sind Monstra, unzeitige Geburten, nicht zur Entwicklung gelangte Früchte, Regen in Wüsteneien, Unglücksfälle, die das menschliche Leben treffen, ebenso viele Argumente dafür, daß der gesamte Bau der Natur nicht unmittelbar durch einen Geist von unendlicher Weisheit und Güte bewirkt und beaufsichtigt wird. Die Antwort aber auf diesen Einwurf liegt großenteils schon in § 62 vor: es ist offenbar, daß die vorerwähnten Wirkungsweisen der Natur durchaus erforderlich sind zu dem Zweck, nach den einfachsten und allgemeinsten Gesetzen und auf eine gleichförmige und beständige Weise zu wirken, was für Gottes Weisheit und Güte zeugt. Solcher Art ist die kunstvolle Einrichtung des großen Mechanismus der Natur, daß, während ihre Bewegungen und mannigfachen Erscheinungen unsere Sinne treffen, die Hand selbst, welche das Ganze bewirkt, den fleischlichen Menschen unwahrnehmbar ist. "Fürwahr" (sagt der Prophet) "Du bist ein verborgener Gott" (Jesaias 45, 15). Aber wiewohl Gott sich den Sinnlichen und Trägen verbirgt, die sich nicht im Geringsten mit Denken bemühen wollen, so kann doch dem vorurteilslosen und aufmerksamen Geist nichts deutlicher erkennbar sein, als die Gegenwart eines allweisen Geistes im Innersten der Dinge, der das System alles Seienden gestaltet, ordnet und aufrecht erhält. Es ist nach dem, was wir an anderen Stellen bemerkt haben, offenbar, daß das Wirken nach allgemeinen und feststehenden Gesetzen so notwendig zu unserer Leitung in das Geheimnis der Natur ist, daß ohne dies auch der umfassendste Verstand, aller menschliche Scharfsinn und alle Überlegung zu gar keinem Zweck dienen könnten; es wäre sogar unmöglich, daß es solche Vermögen oder Kräfte im Geist gibt. Siehe § 31. Diese eine Rücksicht wiegt reichlich alle einzelnen Unzuträglichkeiten auf, die aus der Gesetzmäßigkeit hervorgehen mögen. § 152. Wir sollten ferner in Betracht ziehen, daß gerade die Flecken und Mängel der Natur nicht ohne Nutzen sind, indem sie eine angenehme Mannigfaltigkeit bewirken und die Schönheit des übrigen Teils der Schöpfung erhöhen, wie Schatten in einem Gemälde dazu dienen, die helleren und lichteren Teile zu heben. Es wäre auch gut, wenn wir prüfen möchten, ob unsere Auffassung der Überfülle an Samen und Keimen und der zufälligen Zerstörung von Pflanzen und Tieren als eines unzweckmäßigen Verfahrens des Urhebers der Natur nicht die Wirkung eines Vorurteils ist, welches aus dem gewohnten Verfahren schwacher und sparsamer Sterblicher hergeflossen ist. Bei einem Menschen mag mit Recht eine haushälterische Verwaltung solcher Dinge, die er sich nicht ohne viele Mühe und Fleiß verschaffen kann, für Weisheit gehalten werden. Aber wir dürfen uns nicht vorstellen, daß der unerklärbar feine Mechanismus eine Tieres oder einer Pflanze dem großen Schöpfer irgendwie mehr Mühe oder Sorge beim Akt des Erschaffens, als ein Kiesel kostet, da nichts einleuchtender ist, als daß ein allmächtiger Geist gleichmäßig ein jegliches Ding durch ein bloßes "Es werde" oder einen Akt des Willens hervorbringen kann. Hiernach ist klar, daß der großartige Aufwand von Naturobjekten nicht als Schwäche oder Verschwendung von Seiten des sie hervorbringenden wirkenden Wesens gedeutet werden, sondern vielmehr als ein Beweis der Fülle seiner Macht gelten sollte.

§ 153. Die Zumischung von Schmerz und Ungemach, die in der Welt gemäß den Naturgesetzen und den Handlungsweisen endlicher unvollkommener Geister ist, ist in unserem gegenwärtigen Zustand durchaus erforderlich für unser Wohlsein. Aber unser Blick ist zu beschränkt: wir fassen z. B. die Idee irgendeines einzelnen Schmerzes ins Auge und bezeichnen denselben als ein Übel; wenn wir dagegen unseren Blick erweitern, so daß wir die verschiedenen Zwecke, Verbindungen und Abhängigkeitsverhältnisse der Dinge betrachten, und erwägen, bei was für Gelegenheiten und in welchen Verhältnissen wir mit Schmerz und Lust affiziert werden, wenn wir das Wesen der menschlichen Freiheit und den Zweck, um dessentwillen wir in die Welt hineingesetzt worden sind, begreifen: so werden wir uns genötigt sehen, anzuerkennen, daß jene einzelnen Dinge, die ansich als Übel erscheinen, die Natur eines Gutes haben, sofern sie in ihrer Verbindung mit dem ganzen System der Dinge betrachtet werden.

§ 154. Nach dem Gesagten wird es jedem Nachdenkenden einleuchten, daß nur aus Mangel an Aufmerksamkeit und umfassendem Denken einige Personen, als Begünstiger des Atheismus oder auch der manichäischen Häresie auftreten. Beschränkte und nicht nachdenkende Wesen mögen zwar die Werke der Vorsehung, die Schönheit und Ordnung, die zu begreifen sie nicht imstande sind oder sich nicht die Mühe machen wollen, herabsetzen. Aber wer auch nur einigermaßen richtig und umfassend zu denken vermag, und zugleich Übung im Nachdenken hat, kann niemals genug die Spuren der göttlichen Weisheit und Güte bewundern, die aus der Einrichtung der Natur hervorleuchten. Jedoch welche Wahrheit gäbe es wohl, die so klar dem Geist einleuchtete, daß wir nicht durch eine Abkehr unseres Denkens, ein freiwilliges Schließen der Augen, ihrer Anerkennung zu entgehen vermöchten? Darf man sich demnach wundern, wenn man finden sollte, daß die große Menge der Menschen, stets auf Geschäfte oder auf Vergnügen ausgehend und wenig gewöhnt, die Augen ihres Geistes zu öffnen und fest auf ein Objekt zu richten, nicht die volle Überzeugung und Gewißheit vom Sein Gottes hat, welche bei vernünftigen Wesen zu erwarten wäre?

§ 155. Wir können uns nicht sowohl darüber wundern, daß unachtsame Menschen unüberzeugt bleiben von einer so einleuchtenden und wichtigen Wahrheit, als vielmehr darüber, daß Menschen gefunden werden können, die so stumpf sind, unachtsam zu bleiben. Und doch ist zu fürchten, daß nur zu viele Menschen, welche Fähigkeiten und Muße haben und in christlichen Ländern leben, bloß durch eine träge, erschreckliche Unachtsamkeit in einem gewissen Atheismus verfallen sind. Denn es ist durchaus unmöglich, daß eine von der vollen Empfindung der Allgegenwart, Heiligkeit und Gerechtigkeit jenes allmächtigen Geistes durchdrungene und erleuchtete Seele ohne Gewissensbisse in einer Verletzung seiner Gesetze beharrt. Wir sollten als ernsthaft und anhaltend nachdenken über jene wichtigen Punkte, um so eine völlig zweifellose Überzeugung davon zu gewinnen, "daß die Augen des Herrn überall hinschauen auf Böse und Gute, daß er mit uns ist und uns schützt überall, wohin wir gehen, und uns Brot zu essen gibt und Kleidung anzuziehen"; daß er uns gegenwärtig ist und unsere innersten Gedanken kennt, und daß wir in der absolutesten und unmittelbarsten Abhängigkeit vor ihm stehen. Ein klarer Blick auf diese großen Wahrheiten muß notwendig unsere Herzen mit ehrfurchtsvoller Andacht und heiliger Furcht erfüllen, welche der kräftigste Antrieb zur Tugend und der beste Schutz gegen das Laster ist.

§ 156. Denn was im Grunde doch den Vorrang vor allen unseren anderen Studien verdient, ist die Betrachtung Gottes und unserer Pflicht. Diese zu befördern, war die Hauptabsicht und das Ziel meiner Arbeit, und ich werde diese für durchaus unnütz und fruchtlos halten, wenn ich nicht durch das, was ich gesagt habe, meine Leser mit einem frömmeren Gefühl der Gegenwart Gottes erfüllen und durch die Aufzeigung der Falschheit oder Leerheit jener unfruchtbaren Spekulationen, welche die Hauptbeschäftigung der Gelehrten ausmachen, sie geneigter machen kann zur ehrfurchtsvollen Annahme der heilsamen Wahrheiten des Evangeliums, deren Erkenntnis und Ausübung die höchste Vollendung des menschlichen Wesens ist.
LITERATUR - Berkeleys Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Kirchmanns "Philosophische Bibliothek", Bd. 12, Berlin 1869