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ARTHUR LIEBERT
Das Problem der Geltung
[7/8]

"Allein durch die Beziehung aller Geltungen, aller Werte, aller Wertsysteme auf das Sein soll die Realität jener Systeme auf das Sicherste verbürgt sein."

Erlebnis und Metaphysik

1. Der metaphysische Geltungsbegriff.

Jedes metaphysische System ist zunächst ein Ausdruck und Erzeugnis unmittelbarer und unstillbarer Bedürfnisse des Gemütes. Und als solches gehört es zu den ursprünglichen und natürlichsten Schöpfungen der menschlichen Seele, der menschlichen Kultur. Die Metaphysik läßt sich geradezu auf eine besondere psychologische Wurzel und Ursache zurückführen, auf eine besondere Sehnsucht des Menschen, sich von dem Bruchstückartigen und Episodenhaften der gewöhnlichen empirischen Betrachtungsweise und von der Nüchternheit und scheinbaren Äußerlichkeit aller rein wissenschaftlichen Arbeit und Forschung zu einer die ganze Wirklichkeit als Einheit begreifenden, lebendigen Gesamtanschauung zu erheben. (1) Dieses naturhafte metaphysische Streben, alle Erscheinungen in Natur und Geschichte als Momente eines realen Zweckzusammenhanges aufzufassen, gehört zu den elementaren Äußerungen der menschlichen Seele. Und es ist gerade KANT, der, so energisch und zwingend er auch den Anspruch der Metaphysik, als Wissenschaft zu gelten, zurückgewiesen hat, trotzdem mit voller Gerechtigkeit ihre unaufhebbaren subjektiven Gründen erkennt und würdigt und damit ihre tiefe psychologische Verwurzelung hervorhebt. (2)

Wächst somit aus dem psychologischen Trieb und Bedürfnis nach Einheit, nach Erfassung der Totalität der Wirklichkeit die metaphysische Spekulation hervor, so tritt bei dieser Spekulation selber, in ihrem Fortgang und Ausbau, für das Bewußtsein der psychologische Trieb als solcher doch zurück, so wirksam und so unentbehrlich er auch fort und fort in ihr ist. Bewußt verwendet wird in diesem Aufbau nur der Inhalt, der Gegenstand jenes Triebes, dasjenige, auf dessen Hervorbringung er sich richtet, also der Gedanke der Einheit oder des Zusammenhanges als einer Realität. Er gibt die Bedingung und die heuristische Maxime für die metaphysische Spekulation ab. Sie operiert mit diesem Gedanken, der ihr auf dem Wege der Intuition und Synopsis geliefert zu werden pflegt, (3) wie mit festen Größen, wie mit festen Dingen. Er ist ihre Invariable.

Dieser Gedanke der Einheit ist nun die erste grundlegende Geltungsbestimmung, an dem die metaphysische Argumentation und die metaphysische Reihenbildung erkennbar sind. So unterscheiden sich schon die Versuche der jonischen Naturphilosophie von den einzelnen empirischen Beobachtungen dadurch, da sie  Ein  Prinzip als herrschend und alles Einzelne tragend ansetzen, wie überhaupt unter metaphysischem Gesichtspunkt alles Einzelne als seiend und geltend nur darum anerkannt wird, weil es sich zur  Einheit  des Seins zusammenschließt. Etwas metaphysisch auffassen, heißt zunächst nichts weiter, als es unter den Gesichtspunkt der Einheit rücken, allerdings nur zunächst.

Denn dieser Einheitsgedanke gewinnt in der metaphysischen Argumentation erst durch die Aufnahme von zwei Merkmalen seine volle Eigenart. Wenn nämlich von "Einheit", von "Zusammenhang" gesprochen wird, so ist noch keineswegs ausgemacht, daß damit schon eine metaphysische Geltungssetzung vollzogen ist. Kennt doch auch die Logik den Begriff der Einheit. Nun aber versteht sie unter diesem Begriff den Begriff der notwendigen gedanklichen Synthese. In metaphysischen Betracht dagegen wird unter "Einheit" keineswegs ein solcher gedanklicher Vollzug verstanden. Denn dann wäre Einheit die Einheit der Erkenntnis, die Einheit der logischen Reihenbildung; dann wäre der Begriff der Einheit, kurz gesprochen, eine Größe von kategorialer und methodischer Natur. Daß damit noch nicht der Sinn der metaphysischen Einheit getroffen ist, leuchtet ohne weiteres ein. Und doch ist ihre genauere Bestimmung gerade erreichbar durch ihre Unterscheidung von dem kritischen Begriff der Einheit, d. h. der Einheit der Erkenntnis.

2. Der metaphysische Geltungsbegriff und das Problem der Erkenntnis.

Das eine der beiden konstitutiven Merkmale des metaphysischen Einheitsbegriffes ergibt sich aus seiner Unterscheidung von der  logischen  Einheit und zwar insofern, als jene Einheit nicht in rein logisch-kategorialem, nicht in rein logisch-methodischem Sinne, sondern in  ontologischem  Sinne aufgefaßt wird. M. a. W.: Die Geltung der metaphysischen Einheit hat die Bedeutung der über den einheitlichen Erkenntniszusammenhang hinausliegenden, von ihm unabhängigen, ihm prinzipiell übergeordneten und ihn deshalb angeblich gewährleistenden  absoluten Realität.  Das Absolute im transzendenten Sinne: das ist die Geltung der metaphysischen Einheit. In einem realistisch und substantialistisch gedeuteten Absoluten, bzw. in einer Mehrheit solcher absoluten Größe von substantialistischem Charakter hat die metaphysische Argumentation ihre Voraussetzung. (4)

Die metaphysische Auffassung befindet sich somit in einem doppelten Gegensatz zur logisch-kritischen.

Erstens:  Unter logischem Gesichtspunkt erfaßt der Verstand die Einheit, indem er sie im Vollzug des Denkens setzt und schafft. So haben hier Verstand und Denken die Priorität. Nach der metaphysischen Auffassung hingegen erfaßt der Verstand die Einheit, indem er sich einer ihm selbständig gegenüberstehenden Realität zuwendet, indem er nur das nimmt und aufnimmt, was schon außer ihm und unabhängig von ihm da ist, und von ihm als unabhängig daseiend auch anerkannt wird. Damit ist er zu der sekundären Rolle der Rezeptivität herabgedrückt.

Zweitens:  Der Verstand erfaßt nach der logisch-kritischen Auffassung die Einheit als Begriff, er gebraucht sie als Kategorie, er sieht in ihr die logische Grundlage für seine Operationen. Damit ist gesagt, daß diese Einheit nur in der Begriffswelt gesetzt und lediglich für diese gültig ist. Sie bezieht sich nicht auf die Dinge, sondern auf die  Erkenntnis  der Dinge, sie bezieht sich auf das System der begrifflichen Erfassung. Nach der metaphysischen Auffassung dagegen gilt die Einheit als Ding als dem logischen Vollzug gegenüber unabhängige Wesenheit. Der ontologische Zusammenhang schenkt angeblich dem Verstande ein adäquates Abbild seines Selbst, und diesem Abbild wird im Hinblick auf jenen Zusammenhang dinghafte Gültigkeit zugesprochen.

Erst durch diese ontologisierende und hypostasierende [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] Auffassung des Einheitsbegriffes gewinnt dieser seine volle Gültigkeit und Bedeutung innerhalb der metaphysischen Ordnung und für diese Ordnung. Erst wenn er nicht bloßer Begriff ist und bleibt, sondern "Wirklichkeit" bedeutet, wenn der "Logos" die Weltsubstanz, die Weltrealität darstellt, erst dann ist der Begriff nach metaphysischer Auffassung in seiner Bedeutung gesichert, in seinem Wesen begründet. Die Metaphysik bleibt nicht bei der logischen Grundlegung und Begründung stehen; sie fragt weiter nach dem transzendenten Grunde der Begriffe, nach dem transzendenten Grunde der Erkenntnis. Und diesen Grund soll nun das "Sein" abgeben.  Das Sein der Grund der Erkenntnis:  In diesem Gedanken vollzieht und charakterisiert sich jegliche metaphysische Grundlegung und Geltungssetzung. So wird hier das Sein als Grundwert ausgezeichnet, als Grundwert aufgestellt und anerkannt.

Wie die Erkenntnistätigkeit selber, so wird natürlich auch der Gegenstand der Erkenntnis substantialisiert. Etwas erkennen, heißt unter metaphysischem Gesichtspunkt es als Substanz erkennen, es als etwas Substantielles auffassen. Und nur von dem, das als Seiendes, als Substantielles erkannt und anerkannt werden kann, gibt es nach metaphysischer Auffassung eine wahre, eine gültige Erkenntnis: das Nichtseiende dagegen, der Schein, das bloß Fingierte läßt keine eigentliche Erkenntnis zu. Das Seiende allein ist nicht nur das Erkenntnismögliche, es gilt auch als das allein Erkenntniswürdige. Deshalb treten in jeder Metaphysik, entsprechend dem Dualismus von Sein und Nicht-Sein, oder besser: von Sein und Un-Sein, zwei Reihen von Erkenntnissen auf: die wahre und eigentliche und die trügerische und haltlose Erkenntnis.

Das also ist für die Metaphysik kennzeichnend, daß sie sich bei ihrer Behandlungsart des Erkenntnisproblems gar nicht auf den Standpunkt der Erkenntnis stellt. Sondern sie behandelt und entwickelt das System und die Kategorien der Erkenntnis von einem der Erkenntnis prinzipiell transzendenten Standpunkt aus. Dieser Standpunkt dient ihr, wenngleich oft unbewußt, als Ausgangspunkt und Fundament selbst für den Fall, daß sie die Kategorien ihrer erkenntnistheoretischen Funktion nach untersucht. Denn stets erblickt sie in ihnen selbständige Wesenheiten, reale Kräfte; sie sind ihr Attribute eines metaphysischen Grundprinzips. Dieses erschafft sich in ihnen, so lehrt sie, die Voraussetzungen für seine Realität und die Ecksteine für den Bau der Welt, die gar nicht zunächst die Welt der Erkenntnis, gar nicht die Welt der Wissenschaft ist. In diesem Sinne sagt einer der bedeutendsten metaphysischen Bearbeiter der Kategorienlehre, EDUARD von HARTMANN, in Bezug auf die Kategorie der Substanz: "So erweist sich die Substanz als die oberste und höchste Kategorie, oder als der Gipfel des Systems der Kategorien. Unter denjenigen logischen Determinationen, die auf Bestimmung der Funktion oder Tätigkeit gerichtet sind, hatte die Beziehung der Finalität sich als die höchste erwiesen; aber über allen diesen steht diejenige Beziehung des Logischen, die nicht mehr auf die Tätigkeit, sondern auf das ihr zu Grunde liegende Tätige gerichtet ist. - Die Substanz liegt hinter der logischen Essenz ebenso wie hinter der Willensessenz; d. h. sie ist metalogisch und metathelisch. - Das Logische kann und muß sich zu dem Metalogischen in Beziehung setzen, aber auch dieses nur, wenn es erst einmal aus der Ruhe in Tätigkeit versetzt ist. Die dann entfaltete Beziehung ist eben diejenige, welche von der Seite des Logischen gesehen Inhärenz, von der Seite des Metalogischen betrachtet Substantialität oder Subsistenz heißt. Wie das Wesen die Grundlage der Erscheinungswelt, so bildet die Substanz die Grundlage der Wesenheiten. Die Substanz ist deshalb auch nicht mit dem Absoluten zu identifizieren, da sie nur das Subsistierende oder den metalogisch-metathelischen Urgrund im Absoluten bildet." (5) Und deshalb wird den Kategorien auch ein "metaphysischer Ursprung" zugesprochen. Sie stammen aus dem Logischen  und  aus dem Unlogischen, sie besitzen also einen doppelten Ursprung. "Nur der erstere weist ihnen den kategorialen Charakter an; aber der letztere gibt ihnen erst den terminus ad quem, ohne den es zu keiner Beziehung, also auch zu keiner Kategorie käme. Deshalb darf auch der letztere nicht völlig ausgeschieden werden, wenn man nicht überhaupt auf Kategorien verzichten und sich auf das Logische in seiner nackten Leerheit reduzieren will. (6)

Hier zeigt sich deutlich das Verfahren des Metaphysikers. Denn das ist seine Eigenart, daß er "seine Gedanken zu Sachen macht und sie hypostasiert". (7) Anstatt die Kategorien, wie es erkenntnistheoretisch richtig wäre, von der Seite der Erkenntnis aus nur als deren Funktionen zu betrachten, werden sie vom ontologischen Standpunkt her, vom Absoluten aus als dessen Werkzeuge, als schaffende Potenzen, als Zwischenglieder zwischen dem unreinen Grundprinzip und der flüchtigen Fülle der einzelnen Dinge, als die Klammern, die diese mit jenem verketten, aufgefaßt.


3. Das Verhältnis zwischen Sein und Geltung in der metaphysischen Argumentation

Ganz allgemein wird nun überhaupt von der Metaphysik jeder Wert, jeder Ausdruck von Gültigkeit, von Bedeutung, von Sinn auf das Sein bezogen und im Sein begründet und gesichert. Wir stoßen hier bezeichnenderweise auf das gerade umgekehrte Verhältnis, wie in der psychologischen Ordnung und Argumentation. (siehe oben) Erwies sich in dieser der Geltungsgedanke und die Setzung eines Geltungswertes als grundlegend für das Sein, das Sein als bedingt und gewährleistet durch jene, so übt in der metaphysischen Ordnung das Sein die Begründung, und jegliche Geltung gilt hier überhaupt erst, weil und insofern als sie als Sein aufgefaßt werden kann und die Bedeutung einer Realität besitzt. Allein durch die Beziehung aller Geltungen, aller Werte, aller Wertsysteme auf das Sein soll die Realität jener Systeme auf das Sicherste verbürgt sein. So erscheint z. B. das System der Religion nur durch die ontologische Auffassung des Gottesbegriffes begründet. So erscheint es von diesem Standpunkt aus ferner notwendig, das System der Ethik und den Begriff des Guten ontologisch und substantialistisch zu begründen; auch das Gute und Sittliche, das moralisch Wertvolle wird als ein Seiendes, als eine selbständige Realität gefaßt, und das Gute gilt nur insofern, als es als ein Seiendes gilt. So lautet ein typisches Wort es bekannten Metyphysikers der Renaissance, GIOVANNI PICO, daß das esse naturale das fundamentum bonitatum sei, und daß ein Ding nur insofern gut ist, als es überhaupt ist. (8) Und was in Bezug auf Religion und Sittlichkeit gilt, das gilt für die metaphysische Interpretation aller System der Kultur. Sie alle werden durch eine pragmatische Ontologie begründet, d. h. durch die Vorstellung eines realen Zusammenhanges existenter Wert, durch den Gedanken einer Ordnung von Wertwesenheiten.

Damit ist das  zweite  Merkmal angegeben, das für den metyphysischen Zusammenhang und für die metaphysische Einheit bezeichnend ist (siehe oben). Diese Einheit gilt notwendig als substantielle  Werteinheit, als substantieller  Wertzusammenhang. Aus dem Wesen des metaphysischen Seins als des Inbegriffs aller möglichen Realität und aller Realitätssysteme, wie sie in Natur und Geschichte auftreten, versucht die Metaphysik die einzelnen metaphysischen Werte und die einzelnen Systeme, in denen solche Werte zu objektiver Darstellung gelangen, zu deduzieren. Welche logische Geltung diese Begründungsversuche haben, ist eine Frage für sich; wir weisen hier nur auf die Tatsache hin. Und diese Tatsache zeigt, daß für die metaphysische Auffassung zwischen Sein und Geltung eine immanente psychologische Beziehung besteht, daß jedes Sein erlebt wird als ein Zusammenhang, als ein System von Geltungswerten als eine irgend wie wertvolle, irgend wie bedeutsame Realität.

In dem Erlebnis, auf Grund dessen die Wirklichkeit von dem Metaphysiker als substantielle Werteinheit gleichsam hellseherisch erfaßt wird, ist schließlich jedes metaphysische System psychologisch verankert. Und auf diese substantielle Werteinheit bezieht er alle einzelnen Erscheinungen, von ihr sieht er sie alle getragen und gesichert. Diese substantielle Werteinheit, diese Hypostase der absoluten Werteinheit ist die feste Voraussetzung, die der Metaphysiker oft stillschweigend, oft auch unbewußt macht. Sie ist jenes "Vorurteil", dessen Berechtigung er bei der Durchführung seines Systems, mag diese nun in der alten deduktiven Form, wie bei PLOTIN, SPINOZA u. a., oder in der moderneren induktiven Form, wie bei FECHNER, v. HARTMANN, PAULSEN u. a. erfolgen, unter Zuhilfenahme bestimmter theoretischer Wissenschaftsmittel und bestimmter theoretischer Wissenschaftsergebnisse darzutun sucht.


4. Der Einfluß des Erlebnisses auf die metaphysische Geltungsreihe

a) Die psychologisch-metaphysische Begründung der Sittlichkeit
Nun sind jedoch noch zwei Punkte zu beachten, in denen der eigentümliche Einfluß, den die psychologische Grundlage der Metaphysik auf dieselbe übt, zu charakteristischem Ausdruck kommt. Zunächst sei die praktische Bedeutung ins Auge gefaßt, die das Erlebnis auf die innere seelische Konstitution des Metaphysikers und auf seine Einstellung in Bezug auf die Dinge ausübt.

Wenn der Metaphysiker von der Grundlage des Erlebnisses her die Einheit der Wirklichkeit erschaut, so ist für seine Persönlichkeit diese Einheits-Schau kein beliebiger psychologischer Vorgang, der sich all den anderen seelischen Aktionen wie einer ihresgleichen einordnete, oder der seinem ganzen Gehalt nach ihnen gleichwertig wäre. Vielmehr ist mit dieser Intuition ein außerordentlich gesteigertes Wertgefühl verbunden. Sie gilt dem Metaphysiker als die höchste Bereicherung des Lebens, als das Erklimmen der höchsten Wertstufe alles Daseins, als die Erreichung des Punktes, wo alle zeitlich-räumliche Enge und Beschränkung des individuellen und empirischen Daseins überwunden, wo alle sittliche Unzulänglichkeit abgestreift ist, und sich der Weg zum Ewigen und Vollkommenen unmittelbar öffnet. (9)

Diese Schätzung der Intuition hat gewiß auch künstlerischen, sie hat auch religiösen, ganz besonders aber hat sie sittlichen, Charakter. Schließlich gilt dem Metaphysiker die Intuition der Einheit, als der einzige Daseinswert, als der sittliche Wert schlechthin. Die höchste Erhebung der metaphysischen Spekulation wird als Vollendung der Sittlichkeit gestempelt, sie ist ihm schlechthin  die  Tugend, sie ist  das  Gute. Und von hier aus gilt sie auch als unbedingter Wertmaßstab für jeden anderen Wert.

Gerade an diesem Punkte springt die psychologische Grundlegung, die in dem metaphysischen Geltungszusammenhang auch die Theorie der Sittlichkeit erhält, mit aller Deutlichkeit in die Augen. Das im metaphysischen Sinne höchste Gut und unbedingt Wertvolle ist nichts anderes, als der Ausdruck der subjektiven Funktion des psychologischen Werterlebens und Werterteilens; (10) es ist nichts anderes als die Hypostasierung [Substantivierung, Vergegenständlichung - wp] dieses Werterlebens und Werterteilens. Nicht auf eigener Gesetzlichkeit erbaut die Metaphysik die Theorie der Sittlichkeit; was innerhalb ihrer als eine solche Theorie auftritt, das hat in der Psychologie, in der Biologie, in der Anthropologie seine Voraussetzung, sein Grundlage. (11)

b) Die psychologisch- metaphysische Begründung der Wahrheit.
Gemäß der für jede metyphysische Argumentation grundlegenden Voraussetzung des Erlebnisses und gemäß der in jener Argumentation herrschenden Tendenz tritt nun in der Metaphysik auch eine ganz eigentümliche Behandlung des  Problems der Wahrheit  auf.

Zunächst zeigt sich, daß unter dem Einfluß der Erlebnisgrundlage das Problem der Wahrheit nicht im theoretischen Sinne aufgefaßt und nicht im theoretischen Sinne entschieden wird. Es ist hier im letzten Grunde nicht mehr die Rede von dem  Begriff,  sondern von dem  Gefühl  der Wahrheit. In einem Gefühlszustand und von einem Gefühlszustand aus wird die Bestimmung des Wahrheitsproblems in Angriff genommen und von dieser gefühlsmäßigen Grundstellung aus auch durchgeführt.

Gewiß sind für die metaphysische Bearbeitung des Wahrheitsproblems auch logische Faktoren, auch wissenschaftliche und theoretische Gesichtspunkte maßgebend. Aber diese Mitwirkung theoretischer Momente bleibt nicht logischer Natur. Sondern jede logische, jede theoretische Bestimmung wird einer ganz merkwürdigen und tiefgehenden Umgestaltung unterworfen. In das Gefüge der Begriffe werden gefühlsmäßige, durchaus irrationale Momente hineingetragen, es wird eine bildhafte Verdeutlichung der Begriffe unternommen, und dabei soll dann doch deren abstrakte Form bestehen bleiben. Die Begriffe werden auf diese Weise zu Symbolen, und sie sollen doch auch Erkenntnis sein. Sie sind Begriffe, und sie wollen und können doch nicht bloß Begriffe sein. In ihnen wird ein eindeutig bestimmter logischer Sinn festgelegt, oder ein solcher soll doch zum Wenigsten festgelegt werden, und dabei fließen sie gerade in Rücksicht auf ihren metaphysischen Sinn über den Rahmen ihrer logisch geschlossenen Bedeutung nach allen Richtungen hinaus.

Beachten wir nun im Besonderen die Gestaltung, die unter metaphysischem Gesichtspunkt dem Problem der Wahrheit zu teil wird. Die Intensität des Erlebnisses, ferner die unendlich komplizierte Natur dieses Erlebnisses, endlich die elementare Gewalt, mit der es hervorbricht und seinen Weg verfolgt, alle, alle diese Momente bedingen eine eigene, von der theoretisch-wissenschaftlichen Gewißheit stark unterschiedene Überzeugungskraft. Das innerhalb dieser eigenartigen psychischen Welt auftretende Wahrheitsgefühl beruht nicht auf strengem und genauem methodischen Aufbau, und sein eigentlicher Gehalt entwickelt sich nicht in dem Geflechte langwieriger und feinverästelter logischer Schlußformen. Es ist in diesem Sinne bezeichnend, daß man in der Metaphysik oft von der "Unmittelbarkeit" spricht, mit der hier die Wahrheit aufleuchtet und sich Geltung schafft. Dieser in den Wissenschaften, in dem Bereich der Theorie und in ihrem methodischen Fortgang völlig unbrauchbare Begriff wird z. B. gerade von SPINOZA - doch könnte man mit Leichtigkeit auch andere nennen - zum Merkmal (signum) der Wahrheit gestempelt: "Wer eine wahre Idee hat, weiß zugleich, daß er eine wahre Idee hat, und er kann an der Wahrheit der Sache nicht zweifeln." (12)

Die Berufung auf das Überzeugungsgefühl ist hier wie allerorten das Kennzeichen metaphysisch-mystischer Gesinnung. Irgendwo wird in jeder Metaphysik die letztgültige Begründung ihrer Wahrheit und ihrer theoretisch-intellektuellen Berechtigung aus der begrifflich-diskursiven Erkenntnis herausgenommen und einem Vernunftglauben, einem mystischen Schauen, einer intellektuellen Anschauung anheimgestellt.

So wenig sich der Metaphysiker auch der Verpflichtung entschlagen kann, sein Grunderlebnis und seine Intuitionen mit den Mitteln der Logik zu durchdringen und es zu wissenschaftlicher Gestalt zu formen, so wenig ist der Wahrheitswert seiner Metaphysik in dieser begrifflichen Entwickelung beschlossen. Nicht der methodische Entwurf, nicht der systematische, durch bestimmte logische Grundsätze gestützte Zusammenhang, nicht ein in jedem Punkte kritisch begründetes Ganzes von Begriffen und begrifflichen Sätzen sichert hier, wie es in der eigentlichen Wissenschaft der Fall ist, der Wahrheit ihren Platz und ihre Geltung. In allen Kategorien der Metaphysik ist deutlich der Einfluß zu verspüren, der aus einem bewegten, zu den höchsten Eingebungen sich erhebenden Gefühlsleben stammt. Und durch dasselbe wird der wissenschaftliche Verstand von seiner eindeutig formalen Richtung abgelenkt, und der kritische Begriff der Wahrheit, der sich einzig und allein auf den systematischen Zusammenhang der Erkenntnis bezieht und nur in ihm Geltung hat, wird dadurch aufgehoben. Dem Metaphysiker gilt die Wahrheit gar nicht als Begriff, nicht als begriffliche und ideelle Zusammenfassung der Erkenntnis. Vielmehr erfaßt er als Wahrheit einen gefühlsmäßigen Zustand oder Akt und zwar den, in dem sich die "Wesenheit" aller Dinge in rätselhafter Weise dem Geiste des Denkers einverleibt. Oder anders ausgedrückt: Der Geist des Denkers muß aus sich heraustreten und eine unmittelbare Beziehung zu dem ewig Seienden gewinnen. Er muß die einschränkenden Bedingungen, an die das menschliche Erkennen gebunden ist, von sich werfen. Er muß sich zum Weltgeiste weiten und dessen ewige Formen in sich selbst erleben. (13) Und eben dieses mystische Innewerden ewiger Wesenheiten gilt ihm als Wahrheit. So ist die Wahrheit hier eine der logischen und rationalen Funktion und Stellung prinzipiell enthobene Erfassung des absoluten Wesens aller Dinge, ein geheimnisvolles, der adäquaten Aussagbarkeit nicht mehr unterworfenes Einswerden der Seele des zu mystischer Schau Befähigten mit dem essentiellen Urgrund der Wirklichkeit.

Wie bei der Behandlung des Sittlichkeitsproblems, so mündet auch bei der Behandlung des Wahrheitsproblems die Metaphysik notwendig in die Mystik und Romantik ein. Die Wahrheit ist hier ebenso höchstes Erlebnis, wie es die Sittlichkeit ist. Sie liegt in der Sphäre, in dem Dunkel des nicht zu Betretenden"; es ist "ein Weg ins Unerbetene, nicht zu Erbittende", um mit Mephisto zu sprechen.

So hat HERMANN COHEN nur zu sehr Recht, wenn er die Romantik in der Philosophie als die schwerste Gefahr der reinen Menschenvernunft bezeichnet. (14) Aber auch sonst sind aus dem Munde der Klassiker der Philosophie energische Absagen erfolgt gegenüber jedem Versuch einer Begründung der Wahrheit auf das Erlebnis, d. h. auf das Gefühl. Nicht bekannt genug sind die im Tone der Ironie, aber auch des Verdrusses geäußerten  Worte  mit denen KANT, die Art, "durchs Gefühl zu philosophieren", abfertigt. Und es ist gerade heute, da die Romantik sich wiederum auf dem Felde der Philosophie anzusiedeln und auf ihm zu prinzipieller Bedeutung zu gelangen sucht, recht notwendig auf jene Absage hinzuweisen, mit der der Kritizismus dem drohenden Einbruch der "Mystagogen" und "Kraftmänner" in das Gebiet der Philosophie entgegentrat. Diese Absage an die romantisierende und mystisierende Neigung in der gegenwärtigen Philosophie scheint "mir jetziger Zeit nicht überflüssig zu sein, wo Ausschmückung mit dem Titel der Philosophie eine Sache der Mode geworden, und der Philosoph der Vision (wenn man einen solchen einräumt) wegen der Gemächlichkeit, die Spitze der Einsicht durch einen kühnen Schwung ohne Mühe zu erreichen, unbemerkt einen großen Anhang um sich versammeln könnte (wie denn Kühnheit ansteckend ist), welches die Polizei im Reiche der Wissenschaften nicht dulden kann". (15) Sich auf die Intuition, auf die Ahnung verlegen, das bedeutet "Verstimmung der Köpfe zur Schwärmerei", (16) das bedeutet den "Tod aller Philosophie". (17)

Mit allem dem soll kein Wort gegen die Romantik und Mystik als Kulturerscheinung geäußert sein. Als solche haben sie das gleiche Recht wie jede andere Kulturerscheinung. Denn sie gehen mit voller Notwendigkeit und Natürlichkeit aus dem Wesen des Menschen hervor, und sie sind ein zwingender Ausdruck seiner Bedürfnisse und Sehnsüchte. Nur dagegen muß immer aufs Neue und mit immer gleicher Dringlichkeit Verwahrung auferlegt werden, daß man diese Erscheinungen nunmehr in irgend einer Form zur Grundlage der Philosophie zu machen und in das Gefüge der philosophischen Prinzipien als Prinzipien der Erkenntnis, als Funktionen von prinzipieller Gültigkeit miteinzubeziehen sucht. Dieses Gefüge muß in jedem Punkt, in jeder Linie, in jedem Maße, in jedem Zuge von rationalistischer Geltung und theoretischer Struktur sein. Als Objekt der philosophischen Untersuchung, als Objekt für die kritische Geltungsanalyse haben Mystik und Romantik, hat die sogenannte "Gefühlsphilosophie" volle Geltung und gutes Recht. Stellt aber streng genommen der Ausdruck: "Gefühlsphilosophie" nicht eine Contradictio in adjecto dar?

Und auch der besondere Grund, der die Gefühlsphilosophen zur prinzipiellen Annahme und Anerkennung des Gefühls führt, daß nämlich allein durch das Gefühl die großen Werte der Individualität gerechtfertigt und erfaßt werden, jene Werte, an denen der nur auf die Aufstellung von Allgemeinheiten, auf die Erfassung genereller Gesetzlichkeiten bedachte Verstand gleichgültig und ohnmächtig vorübergehe, auch dieser Grund ist nicht stichhaltig. Denn prinzipiell kann die Philosophie nicht jene Forderung außer Acht lassen oder sie auch nur in einem Punkte einschränken, die in der Herstellung einer einheitlichen Gesetzlichkeit ruht. Es handelt sich für sie unbedingt darum, systematische Zusammenhänge herzustellen, eine Erkenntnis in systematischer Form und aus systematischem Geiste heraus zu bieten und in diese Systematik auch das Individuelle zu verflechten, es in sie logisch einzubeziehen. (18)
LITERATUR, Arthur Liebert, Das Problem der Geltung, Berlin 1914
    Anmerkungen
  1. Vgl. die eindrucksvolle Studie von FERD. JAKOB SCHMIDT, Der philosophische Sinn, 1912.
  2. KANT, Kritik der reinen Vernunft, Einleitung, S. 65. "Metaphysik ist, wenngleich nicht als Wissenschaft, doch als Naturanlage (metaphysica naturalis) wirklich. Denn die menschliche Vernunft geht unaufhaltsam, ohne daß bloße Eitelkeit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfnis getrieben, bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können; und so ist wirklich in allen Menschen, sobald Vernunft sich in ihnen bis zur Spekulation erweitert, irgend eine Metaphysik zu aller Zeit gewesen, und wird auch immer darin bleiben."
  3. Vgl. HENRY BERGSON, Einführung in die Metaphysik; autorisierte Übersetzung 1909, S. 57 f.; vgl. auch ALBERT STEENBERGEN, Bergsons intuitive Philosophie, 1909, S. 25 ff.
  4. Vgl. ED. HUSSERL, Logische Untersuchungen Bd. II, 1901; CASSIRER, Substanzproblem S. 25 ff., 33 f., u. a. a. O., auch das Schlußkapitel der vorliegenden Arbeit.
  5. EDUARD VON HARTMANN, Kategorienlehre, 1896, S. 541 f.
  6. v. HARTMANN, Kategorienlehre, S. 543 f.
  7. KANT, Kritik der reinen Vernunft. 1. Aufl., S. 761.
  8. GIOVANNI PICO de MIRANDULA in der Schrift "De Ente et Uno", Opera Basel, 1557, S. 253; vgl. ARTHUR LIEBERT, G. Pico de Mirandula, Ausgewählte Schriften, übersetzt und eingeleitet, 1905.
  9. In der Literatur der Metaphysik, besonders in der der Mystik, ist jener höchste Daseinszustand nicht selten geschildert worden. Häufig wird er geradezu als Deifikation bezeichnet; und auch der Weg zu jenem höchsten Wertpunkt - itinerarium mentis ad Deum, um mit BONAVENTURA zu sprechen - hat in der Mystik seine Darstellung gefunden. Bis in die höchste Stufe der Erhebung hinein, in der schon alles Menschliche und Sinnliche abgetan zu sein scheint, ist die Energie des Erlebens wirksam; auch hier sind die emotionalen und gefühlsmäßigen Hintergründe, auf denen die Metaphysik aufbaut, noch zu spüren. Ein klassisches Beispiel dafür ist SPINOZA, dessen Lehre so oft als der reinste und vollendetste Ausdruck rationalistischer Geisteshaltung bezeichnet wird. Und doch läßt sich in jeder Linie dieser Lehre die intuitiv-mystische Grundlage aufweisen; selbst auf dem Höhepunkt der Spekulation, in dem amor Dei intellectualis haben wir eine Durchdringung der Erkenntnis in ihrer höchsten Form, dem intellectus, mit mystisch-irrationalistischen Tendenzen. Vgl. für die Mystik des Mittelalters und der Renaissance ARTHUR LIEBERT, Monismus und Renaissance, in: Der Monismus, herausgeg. von A. DREWS, Bd. II, 1908, Seite 1ff; für die griechische Philosophie vgl. HEINRICH GOMPERZ, Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen und das Ideal der inneren Freiheit, 1904
  10. Vgl. FELIX KRÜGER, Der Begriff des absolut Wertvollen als Grundbegriff der Philosophie, 1898, Seite 60f
  11. Wieder kann SPINOZA hier als aufklärendes Beispiel dienen. Ist es doch außerordentlich bezeichnend, daß er seiner eigentlichen Moralphilosophie, die er im 4. und 5. Teil seiner "Ethik" entwickelt, eine Theorie "Von der Natur und dem Ursprung der menschlichen Affekte" voranstellt. Überhaupt ist SPINOZAs ganze Philosophie ein musterhaftes Paradigma für die Behauptung, daß die Metaphysik nur der verdinglichende Ausbau und die verdinglichende Ausnützung anthropologisch-biologisch-psychologischer Überzeugungen darstellt.
  12. SPINOZA, Ethik; Teil II, Lehrsatz 43.
  13. Vgl. HEINRICH GOMPERZ, Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen und das Ideal der inneren Freiheit. Anhang: Einige Beiträge zum Verständnis der Mystiker (1904) Seite 305 f.
  14. HERMANN COHEN, Ästhetik I, 30.
  15. KANT, Über einen neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie Seite 20 f. (Ausg. d. Philos. Bibliothek.)
  16. ebenda Seite 13
  17. ebenda Seite 14
  18. Vgl. auch KURT STERNBERG, Zur Logik der Geschichtswissenschaft (Vortrag 7 der Vorträge der Kantgesellschaft) 1914, Seite 25 ff., 41 ff.; vgl. die Polemik gegen die Gefühlsphilosophie von HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften § 447 Schluß. Philosoph. Bibliothek, Band 33, herausg. von GEORG LASSON, 1905, Seite 388: "Wenn ein Mensch sich über etwas nicht auf die Natur und den Begriff der Sache oder wenigstens auf Gründe, die Verstandesallgemeinheit, sondern auf sein  Gefühl beruft,  so ist nichts anderes zu tun, als ihn stehen zu lassen, weil er sich dadurch der Gemeinschaft der Vernünftigkeit verweigert, sich .... in seine isolierte Subjektivität, die  Partikularität,  abschließt."