tb-1G. StörringL. SsalagoffF. MünchH. Rickert    
 
ARTHUR LIEBERT
Das Problem der Geltung
[6/8]

"Es liegt stets eine Erschleichung, eine methodische Entgleisung, ein Verrat an der Autonomie des Logos zu Grunde, wenn man vorgibt, vom Erlebnis zur Erkenntnis gelangen zu können, wenn man im Leben ein Prinzip der Erkenntnis, ein Argument erblickt. Das Leben ist kein Argument."

Die psychologische Geltungsreihe

Die Unterordnung der Metaphysik unter die Psychologie

Geht man der inneren Struktur und den Bedingungen des psychologischen Geltungszusammenhanges nach, so trifft die Analyse sehr bald auf eine Komplexion zwischen Psychologie und Metaphysik, auf eine eigenartige Verschlungenheit in den Grenzen beider Gebiete, deren Verhältnis zu einander noch nicht hinlänglich untersucht worden ist.

Die Geschichte der Philosophie beginnt bekanntlich mit Spekulationen über den absoluten Ursprung und Kern aller Erscheinungen, während von psychologischen Theorien über die seelischen Erscheinungen und deren Zusammenhänge anfangs noch nicht die Rede ist. Der erste Vertreter einer, wenn auch noch unvollkommenen, so doch im gewissen Sinne selbständigen empirischen Psychologie ist ARISTOTELES. Was ihm zeitlich an Versuchen psychologischer Art vorausgeht, untersteht noch ganz dem metaphysischen Gesichtspunkt, der allerdings auch bei ihm nicht gänzlich überwunden oder ausgeschaltet ist.

Aber wenn auch die Psychologie auf den ersten Stufen ihrer Ausbildung, ja sogar bis weit in das 18. Jahrhundert hinein, von metaphysischen Gedanken beherrscht und oft geradezu in metaphysischer Absicht betrieben wurde, so tritt doch in prinzipieller Beziehung, sobald man an die kritische Phänomenologie der Metaphysik herangeht, (1) das Verhältnis in ein anderes Licht.

Jegliche Setzung metaphysischer Art beruht darauf, daß Gebilde von ursprünglich psychologischer Geltung den Schein selbständiger transsubjektiver Realitäten annehmen. Diese Verdinglichung ist ihrer Natur nach ein ganz primärer und elementarer Vollzug. Sie entsteht im menschlichen Bewußtsein in ebenso unwillkürlicher als auch unbewußter Weise, und sie entwickelt sich in ihm mit psychologischer Notwendigkeit. Alle Metaphysik ist nicht wie man oft sagt, die Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] eigentlich logischer Größen und begrifflicher Bestimmungen, sondern die verdinglichende Scheinsetzung psychologischer Momente. Alle Metaphysik ist eine Entgleisung des Ablaufes psychologischer Vorgänge, indem bewußtseinsimmanente und subjektive Akte in das Licht transzendenter Gültigkeit treten. Jedes metaphysische System, erhebt sich auf dem Boden großer seelischer Erschütterungen die durch eingreifende Erlebnisse ausgelöst werden, und es findet in jenen Erlebnissen seine fortdauernde Nahrung. Bis in die einzelnen metaphysischen Begriffsbestimmungen, bis in die einzelnen Wendungen und Formulierungen hinein erstreckt sich diese Grundlage, ist diese Motivierung spürbar und wirksam. Eine genauere Bestätigung dieser Gedanken wird sich bei der Analyse der metaphysischen Geltungsreihe ergeben.

Wegen ihrer wurzelhaften und unlösbaren Abhängigkeit von der psychologischen Basis tritt nun die Metaphysik innerhalb der vorliegenden Studie nicht als selbständige Geltungsreihe auf. Sie ist vielmehr zu erfassen im Anschluß an die psychologische Geltungsreihe als ein ihr innerlich zugeordneter, als ein ihr unter- und eingeordneter Zusammenhang hypostasierter komplexer psychologischer Grundwerte.


1. Das Erlebnis als Grundlage der psychologischen Geltungsreihe

a) Die erste und unmittelbare Bedingung für die Entstehung und Entwickelung einer Geltungsordnung liegt augenscheinlich in dem menschlichen Wollen und Wünschen, in den menschlichen Trieben, Begierden, Hoffnungen, Sehnsüchten usw. Und unter biologischem Gesichtspunkt ist die "
Willenswissenschaft" die erste und grundlegende Wissenschaft. (2)

Diese  biologische  Fundierung von Geltungsreihen erscheint vielen als die natürlichste; sie scheint von primärer, ich möchte fast sagen, von autochthoner [althergebrachter - wp] Bedeutung zu sein. Es leuchtet scheinbar ohne weiteres ein, daß jede Aufstellung von Geltungsreihen abhängig ist von Äußerungen und Impulsen des Willens- und Gefühlslebens. Nicht nur das, was vom Willen begehrt, vom Gefühl ersehnt wird, sondern auch das, wogegen der Wille sich richtet, und was vom Gefühl abgelehnt wird, besitzt für Wille und Gefühl doch Geltungswert, Geltungsbedeutung. Ein reines Diaphoron ist, solange überhaupt eine Willens- und Gefühlsregung vorhanden ist, nicht nachweisbar. Das Moment der Gleichgültigkeit ist ein bloß fiktives oder ein höchstens für ganz vereinzelte und vorübergehende Zustände gültiges. Es als unbedingt setzen, hieße die Gleichgültigkeit zur Nichtgültigkeit machen. Nichtgültiges aber ist im letzten Grunde etwas für Wille und Gefühl nicht Vorhandenes, also etwas, das überhaupt als etwas Nichtseiendes aus der Betrachtung herausfällt. Selbst das, was im Augenblick meinem persönlichen Wollen und Fühlen fernsteht, ist doch nicht überhaupt als Zielpunkt möglichen Wollens und Fühlens verneint. Es bleibt, der Intention nach, stets ein möglicher psychologischer Geltungsgegenstand.

Aber nicht nur die Befriedigung der Triebe in der Erfassung von Geltungsgegenständen, sondern schon die triebhafte Betätigung als solche, schon die bloße Initiative hat psychologischen Geltungswert, der als Erlebnis der Lust an der eigenen Kraft und in mannigfach und sehr reich abgestuften Wertgefühlen zum Ausdruck kommt. Ferner ist für die psychologisch-biologisch fundierte Geltungsordnung kennzeichnend, daß sie prinzipiell darauf gerichtet ist, den Charakter der Theorie abzustreifen, ihre wissenschaftlichen Aufstellungen, die ja unter dem praktischen Gesichtspunkt der Betätigung oder Befriedigung des Willens entwickelt sind, auch für die Praxis fruchtbar zu machen und die psychologischen Erkenntnisse zur Grundlage eines Systems von Lebensregeln und Lebenswerten zu machen.

Auf den Ausbau und die nähere Entwickelung eines solchen psycho-physiologischen Geltungssystems ist hier nicht einzugehen, da es sich für uns um die Herausstellung seiner allgemeingültigen und prinzipiellen Bedingung und Grundlage handelt. (3)

Alle psychologische Geltungsfundierung geht zurück auf die ungebrochene naturwüchsige Fülle seelisch-organischer Kräfte, die in ihrer Gesamtheit das ausmachen, was allgemein und kurz als  Leben  bezeichnet wird. Wohl ist in dieser Gesamtheit von Kräften mannigfachster Art und kompliziertester Struktur das Moment der Erkenntnis miteinbegriffen, mitenthalten. Aber es spielt hier weder die beherrschende noch eine bestimmt herausgehobene Rolle, es ist eine Strömung unter und neben vielen anderen; es hat sich noch nicht zur Autonomie entwickelt. Sondern wie es innerhalb der Totalität der seelischen Kräfte steht und wurzelt, so zieht es auch aus ihr seine Nahrung, seine Motive, es entnimmt den allgemeinen biologischen Tendenzen die Richtlinien und Gesetze für seine Betätigung, kurz: Die Erkenntnis steht hier noch ganz im Dienste des allherrschenden Lebens und der Absichten desselben.

Denn das ist das Charakteristische an der Auffassung des Geltungsproblems unter psychologischem Gesichtspunkt, daß alle Geltung in das Leben, in die Strömung des Lebens verlegt ist. Stets ist es der universale Drang des Lebens, stets ist es, mit DILTHEY zu sprechen, ein Lebensbezug, der alle psychischen Funktionen bestimmt. Der Gesichtspunkt der  Entwickelung des Lebens,  der Gesichtspunkt der Bereicherung, Vertiefung, Erhöhung, Sicherstellung desselben gibt das Motiv und den Leitfaden aller einzelnen Betätigungen ab. Aus diesen naturwüchsigen, nicht weiter zu begründenden, immanent teleologischen Lebensbezügen sollen die Beweggründe und Fähigkeiten zur Regelgebung und zur Gesetzgebung erwachsen, wie sie dann in den Institutionen des Rechtes, der Sitte, der Gesellschaft usw. zu objektivem Ausdruck kommen. (4) Als eines der immanenten Mittel zur Herstellung dieser Institutionen und Organisationen gilt neben anderen auch die Erkenntnis, gilt auch die Wissenschaft. Der Geltungswert, der unter diesem Gesichtspunkt der Erkenntnis zugesprochen wird, der als der Erkenntnis involvierend gedacht wird, wird vom Leben, von der Lebenstendenz bestimmt. So wird also der Erkenntnis kein im eigentlichen Sinne  theoretischer,  kein theoretisch autonomer und autonom theoretischer Geltungswert zugesprochen: Die Wissenschaften und ihr Zusammenhang ruhen dieser Auffassung nach vielmehr auf einer ihrem eigenen Sinne gegenüber heteronomen, im eigentlichen Verstande  irrationalen  Grundlage und Voraussetzung. Die Erkenntnis  gilt  darnach insofern und nur insofern, als sie als Funktion des Lebens aufzufassen ist: ihr Geltungswert ist der einer Funktion des Lebens.

b) Mit dieser biologischen und anthropologischen Fundierung der psychologischen Geltungsreihe ist nun die  Methode  gegeben, an Hand deren diese Geltungsreihe sich aufbaut und gliedert. Es ist dies eben die Methode der Anthropologie und der Biologie. Damit stoßen wir auf ein zweites Kennzeichen der psychologistischen Geltungsbehandlung. Bestand das erste Kennzeichen darin, daß sie alle Geltung in das Leben verlegt, auf das Leben begründet, so ruht das zweite Merkmal in der Anwendung des  entwicklungsgeschichtlichen Verfahrens. 

Stets gilt hier die Herausarbeitung der geschichtlichen und psychologischen Vorstufen und Vorbedingungen als erste und grundlegende Aufgabe. Damit aber wird - das ist ein besonders charakteristischer Punkt - die  Entwickelung  einer Geltung zur  Grundlage des Rechtes  dieser Geltung, zur Grundlage der Geltung dieser Geltung gemacht. Aus der Entwickelung irgend eines Wertes heraus soll sein Recht beglaubigt werden.

Ein  Doppeltes  will mithin die genetische Betrachtung einer Geltung leisten.  Erstens  will sie die  Tatsächlichkeit  einer Geltung aus der Geschichte, aus der Genesis ableiten, um die Tatsächlichkeit zu  verstehen.  Das eben heißt psychologisches Verstehen, das stets  geschichtlicher,  das stets  entwicklungsgeschichtlicher  Natur ist.  Der Gedanke der Entwickelung bildet das methodische Prinzip,  nach dem jenes Verständnis verläuft, an welchem es orientiert ist.

Und  zweitens.  Man wendet diese Betrachtungsweise darum überhaupt an und schreibt ihr darum eine so außerordentlich hohe Bedeutung zu, weil man glaubt, daß ein System dann auch  gerechtfertigt  ist, wenn man den Begriff der Entwickelung auf dasselbe anwendet. So bildet der  Begriff der Entwickelung für die psychologistische Geltungsbegründung das Schiboleth,  [Erkennungszeichen - wp] die endgültige Kategorie, um ein System zu beglaubigen und zu begründen. Die psychologistisch gerichtete Forschung beruhigt sich, sobald es ihr gelingt, die Momente aufzuweisen, aus denen es verläuft. Da macht sie Halt, da muß sie Halt machen. Denn damit ist ihre Leistungsfähigkeit erschöpft; sie gebietet über keine andere Berufungs- und Beglaubigungsinstanz; d. h. sie läßt, methodisch gesprochen, nur ein deskriptives Verfahren zu, welches derart vorgeht, daß es ein System, einen Zusammenhang, eine Ordnung dadurch begrifflich zu bestimmen und zu begründen glaubt, daß es den ursächlich-zeitlichen  Gang und Verlauf  dieser Ordnung beschreibt und erzählt, daß es die betreffende Ordnung genetisch ableitet, daß es zeigt, wie diese und diese Tatsachen bezw. Verbände von Tatsachen eine solche und solche Entwickelung durchlaufen haben bzw. durchlaufen. Für den Vollzug dieses Verfahrens hat also  der Begriff der Entwickelung die Geltung  nicht nur einer, sondern  der Kategorie  schlechthin. Er stellt in der Durchführung der psychologistischen Geltungsinterpretation den höchsten, den grundlegenden methodischen Geltungswert dar. (5)


2. Erlebnis und Entwickelungsbegriff.

Wenn nun auf der einen Seite das Erleben den fundamentalen psychologischen Geltungswert darstellt, und wenn auf der anderen Seite die psychologistische Geltungsargumentation unter Führung des Entwicklungsbegriffes verläuft, so entsteht die Aufgabe, das Verhältnis dieser beiden, als konstitutive Formen der Psychologie auftretenden Bestimmungen: "Erlebnis" und "Entwickelungsbegriff" näher ins Auge zu fassen und ihre Beziehung zueinander zu untersuchen.

Diese Beziehung läßt sich leicht angeben. Denn wie immer der fundamentale Geltungswert des Erlebens auftritt, in welcher Formation auch immer er sich wirksam zeigt, in welcher Gestalt auch immer er zum Ausdruck kommt, stets geschieht dieses in der Form und unter dem Gesichtspunkt der Entwickelung. Im Erleben stoßen wir in jeder Richtung auf Aktivität, auf Verlauf, auf Bezüge, kurz: auf Entwickelung, so daß man geradezu von einer  Identität zwischen Leben und Entwickelung  sprechen kann. Nur das, was sich entwickelt, hat die Geltung des Lebens, und nur das Leben ist das, was sich entwickelt. In der Entwickelung ist stets die Beziehung auf das Leben beschlossen und enthalten, was sich bis in die einzelnen Züge dieses Verhältnisses verfolgen läßt. Weist man demgegenüber etwa auf die mechanische Entwickelung hin, in der doch nichts von Leben enthalten sei, so ist darauf aufmerksam zu machen, daß bei den mechanischen Vorgängen und Verläufen eigentlich von "Entwickelung" garnicht die Rede ist, sondern daß hier nur eine Übertragung von Bewegung stattfindet. Im Begriff der Entwickelung wird dagegen Leben überhaupt oder zum wenigsten ein bestimmter Bezug des Lebens zu logischem Ausdruck, zu logischer Distinktion gebracht.

So läßt sich die Beziehung zwischen Erleben und Entwickelungsbegriff in folgender Weise bestimmen. Durch den Begriff der Entwicklung soll der irrationale Geltungswert des Erlebens zu begriffsmäßiger Bestimmung gebracht werden. In dieser Funktion der logischen Determination des Lebens durch den Entwickelungsbegriff besteht dessen methodischer Geltungswert für die Konstitution der psychologischen Geltungsreihe. Durch ihn soll es möglich werden, die irrationale Wertstruktur des Lebens zu reihenmäßiger Entfaltung zu bringen und sie dadurch der Erkenntnis näherzuführen. Wie das Erleben seine begriffliche Fassung und seine logische Ausmünzbarkeit durch den Begriff der Entwickelung erfährt, so soll es nun auch durch jenen Begriff, in den man es krystallisieren zu können glaubt, seine grundlegende Bedeutung für den Prozeß der Erkenntnis und für die spezielle Durchführung dieses Prozesses erweisen und bewahren. So versucht man, die Zusammenhänge des Lebens und des Erlebens, der Kultur und Geschichte, wie sie in Recht, Staat, Sitte, Wirtschaft, religiösen Formen usw. zu objektiver Gestaltung kommen, unter individual- wie völkerpsychologischem Gesichtspunkt durch den methodischen Begriff der Entwicklung zu konstituieren und durch diesen Begriff wissenschaftlich erfaßbar zu machen. (6)

Nur darf man sich über die durchgehende Bedeutung, die der entwickelungsgeschichtlichen Betrachtung für jede psychologistische Analyse innewohnt, nicht dadurch hinwegtäuschen lassen, daß im Einzelnen die Formulierung und Kennzeichnung des methodischen Prinzips wechselt, daß z. B. von einigen Vertretern der historischen Forschung der Nachdruck mehr auf die Bedeutung überragender Individuen, von anderen das Schwergewicht auf die Bedeutung der Masse gelegt wird, daß der eine Historiker mehr die egoistischen Motive, der andere mehr die sozialen Gesichtspunkte betont, dieser eine ethisierende Geschichtsbeurteilung, jener mehr eine politische Geschichtsschreibung vertritt, und daß demgemäß das geschichtliche Leben mehr nach dieser oder nach jener Seite hin behandelt oder gedeutet wird. Darin sind sie doch alle einig, daß das geschichtliche Leben etwas ist, das sich entwickelt, das einen Zusammenhang von Wirkungen und Gegenwirkungen, von Strömungen und Gegenströmungen, von Versuchen und Leistungen, von Aufsätzen und Ausführungen, von Siegen und Niederlagen darstellt. Die kausale, wie die teleologische, die optimistische, wie die pessimistische Geschichtsbetrachtung, die metaphysische Geschichtsinterpretation und die moralisierende Geschichtsbeurteilung: für alle diese Standpunkte und Auffassungen ist die Geschichte Leben und Bewegung, und sollte es auch die Bewegung sein, die in der Wiederkehr des ewig Gleichen bestehen soll.

Es liegt stets eine Erschleichung, eine methodische Entgleisung, ein Verrat an der Autonomie des Logos zu Grunde, wenn man vorgibt, vom Erlebnis zur Erkenntnis gelangen zu können, wenn man im Leben ein Prinzip der Erkenntnis, ein Argument erblickt. Das Leben ist kein Argument.

3. Erlebnis und Erkenntnis.

Wenn nun in dem Begriff der Entwickelung der psychologische Grundwert des Lebens zu begrifflicher, erkenntnismäßiger Bestimmtheit gebracht werden soll, so schließt sich an die soeben behandelte Frage weiterhin die Frage nach dem Verhältnis zwischen Erlebnis und Erkenntnis an.

In diesem Verhältnis ist ein doppeltes Problem enthalten.

 Erstens:  In welcher Weise, mit welchen Mitteln ist es der Erkenntnis möglich, sich des Erlebnisses zu bemächtigen und es zu logischer, zu erkenntnismäßiger Bestimmung zu bringen, also den in ihm enthaltenen Komplex von Problemen wissenschaftlich zu klären und aufzulösen?

 Zweitens:  Wenn die psychologische Geltungsargumentation im Erlebnis den fundamentalen psychologischen Geltungswert erblickt, wie stellt sich dann das Erlebnis gerade in dieser seiner fundamentalen Gültigkeit zu dem Problem der Erkenntnis? Ist das Erlebnis auch der Erkenntnis gegenüber der fundamentale Geltungswert in dem Sinne, daß es ein oder sogar das Fundament der Erkenntnis abzugeben vermöchte?

Diese beiden Fragestellungen werden bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Erlebnis und Erkenntnis nicht immer scharf genug auseinander gehalten. Und dadurch fließt dann in die betreffende Untersuchung eine eigentümliche Unbestimmtheit und Unentschiedenheit ein. Die erste Frage geht von der Erkenntnis aus, ihr Standpunkt ist der der Erkenntnis, ist der der Logik. Hier wird die Erkenntnis als ein in sich gefestigter, autonomer Zusammenhang vorausgesetzt, und von dieser Voraussetzung aus richtet sich die Frage auf die wissenschaftliche Erfaßbarkeit des Erlebnisses, auf die Möglichkeit, es begrifflich zu bearbeiten, es theoretisch zu verarbeiten. Diese Problemstellung ist logisch völlig klar, völlig einwandfrei. Es ist eine Problemstellung theoretischer Natur, prinzipiell analog der nach den Bedingungen der logischen und wissenschaftlichen Bearbeitung etwa der Geschichte. Da nun das Erlebnis der tragende Geltungswert aller psychologischen Reihenbildung ist, da sich im Erlebnis die psychologische Reihenbildung krystallisiert und zusammenfaßt, so bezeichnen im letzten Grunde jene Frage nichts anderes, als das Problem der Möglichkeit der Psychologie als Wissenschaft. M. a. W.: Die kritische Problemstellung richtet sich, genau ebenso wie sie auf das Faktum der Mathematik, der mathematischen Naturwissenschaft oder der Geschichtswissenschaft bezogen wird, auch auf das Faktum der Psychologie. Und diese kritische Untersuchung entwickelt dann eben diejenigen Bedingungen, durch welche der umfassende psychologische Tatbestand des Erlebnisses seine wissenschaftliche Formung, seine Erhebung zu gesetzlicher Bestimmtheit empfängt.

Ganz anders, in theoretischer Hinsicht ganz anders, steht es nun mit der zweiten Frage. Ja, diese ist gar keine eigentlich theoretische mehr. Denn sie erwägt, ob und wie einem  psychologischen  Geltungswert, eben dem Erlebnis, grundlegende Bedeutung auch für den Zusammenhang der Erkenntnis zugesprochen werden könne. Würde diese Frage bejaht, dann wäre die Erkenntnis ihrer Autonomie beraubt. Dann wäre sie von einer Instanz abhängig gemacht, die prinzipiell nicht theoretischer, nicht logischer, nicht rationaler Natur ist, ja, die ihrer ganzen Artung und Tendenz nach grundsätzlich garnicht in den Erkenntniszusammenhang einbegriffen und einbegreifbar ist. Im Erlebnis die Grundlage der Erkenntnis sehen, das würde bedeuten, dem logischen Zusammenhang einen alogischen Unterbau, einen Unterbau von irrationaler Wertstruktur geben, das würde die prinzipielle Preisgabe des Standpunktes der Erkenntnis bedeuten.

Von dem psychologischen Geltungswert des Erlebnisses führt kein gerader, kein konsequenter Weg zu dem Geltungszusammenhang der Erkenntnis. Es liegt stets eine Erschleichung, eine methodische Entgleisung, ein Verrat an der Autonomie des Logos zu Grunde, wenn man vorgibt, vom Erlebnis zur Erkenntnis zu gelangen zu können, wenn man im Leben ein Prinzip der Erkenntnis, ein Argument erblickt. "Das Leben ist kein Argument." (7) Es ist ein nicht nur alogisches, sondern geradezu antilogisches Beginnen, die Erkenntnis als Erkenntnis auf den psychologischen Tatbestand des Erlebnisses zurückzuführen und begründen zu wollen. Es gilt vielmehr, beide Geltungssphären, beide Grundarten des Geltungsgedankens streng auseinander zu halten und eine jede in ihrer Eigenart und Eigengesetzlichkeit zu erkennen.

Man kann die methodische Unmöglichkeit, das Erlebnis zum Grundmittel der Erkenntnis zu machen, an einem besonderen Kriterium zu voller Deutlichkeit bringen. Die Erkenntnis ist, wie sich noch im zweiten Teil dieser Arbeit des Genaueren ergeben wird, ihrem Begriff und Sinn nach auf den Begriff des Systems bezogen. Erkenntnis bedeutet, einmal kurz gesprochen, System, bedeutet logisch eindeutige und logisch notwendige Beziehung aller Teile zur Einheit, bedeutet logische Wurzelhaftigkeit aller Teile in der Einheit. Die grundlegende methodische Geltung des Systemgedankens abschwächen, ist gleichbedeutend mit der Gefährdung und Verdunkelung des Erkenntnisbegriffes.

Und nun erwäge man die Beziehung zwischen dem Erlebnis und dem Systembegriff. Trägt das Erlebnis, wenn man es, wie es geboten ist, in der vollen Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit seiner psychologischen Tatsächlichkeit nimmt, etwa eindeutig systematischer Charakter? Sind die Momente, aus denen es sich zusammensetzt, eindeutig und logisch notwendig miteinander verbunden? Stellt es etwa einen Zusammenhang dar, dessen Glieder in eindeutiger Relation zu einander stehen, und in dessen Aufbau jeder Schritt mit der Sicherheit und Bestimmtheit logischer Reihenbildung erfolgt?

Keine dieser Fragen ist zu bejahen. Man vergegenwärtige sich mit voller Eindringlichkeit die Heterogenität derjenigen Momente, aus denen sich die polyphone Symphonie des Erlebnisses zusammensetzt. Man vergegenwärtige sich die wirbelnde Fülle dieser Momente, ihre unfaßbare Flüssigkeit und den außerordentlichen Mangel an Eindeutigkeit ihrer Beziehungen zueinander. In der Totalität des Erlebnisses stehen nicht Momente ein und derselben psychologischen Natur miteinander in Beziehung, nicht Willensmoment schließt sich an Willensmoment, nicht Gefühlserregung an Gefühlserregung u. s. f., sondern es findet eine bunte, machmal allzu bunte Mischung der verschiedenartigsten Erlebnismomente zu einer nur  relativen  Einheit statt. Diese Mischung ist bei weitem nicht hinreichend dadurch gekennzeichnet, daß man sie als Kreuzung der mannigfachsten Reihen auffasst. Denn keine einzige dieser Reihen ist in ihrer Struktur eindeutig bestimmt; keine einzige dieser Reihen bildet eine mit der systematisch-logischen Einheit auch nur annähernd vergleichbare Ordnung.

Natürlich soll damit nicht behauptet werden, daß sich in der Totalität des Erlebnisses keine Zusammenhänge entwickeln, daß in ihm nur das Chaos herrsche. Gesetze walten auch hier. Die Psychologie hat deren eine ganze Anzahl entdeckt. Aber diese Gesetze sind von anderer Struktur und anderer Geltung als die, in un nach denen sich das Gefüge der Erkenntnis entwickelt. Es ist eine Einheit, die bald mehr religiöser, bald mehr künstlerischer, bald mehr intellektualistischer Färbung ist, oder in der sich auch alle möglichen Farben und Töne verbinden. Der Einfluß ferner von Klima und Bodenbeschaffenheit, von Milieu und Geschichte, von wirtschaftlichen Momenten, von rechtlichen Institutionen, und welches sonst noch die tausend Möglichkeiten und Umstände sind, unter denen sich das Leben gestaltet, verhindern die Gestaltung des Erlebnisses zu einer solchen Einheit, wie diese als Grundlage und als Gesichtspunkt der Erkenntnis unumgänglich notwendig ist.

Mit dieser Überlegung aber dringen wir nun erst zu demjenigen Punkte vor, an dem sich prinzipiell die Untauglichkeit des Erlebnisses als Begründungsinstanz der Erkenntnis zu dienen, offenbart. Wir sprechen so ohne Weiteres von Leben und Erlebnis, (8) als ob Leben und Erlebnis in fester begrifflicher Bestimmtheit, in begrifflicher Einheit gegeben wären. Wie läßt sich auf das Unerklärte und Ungeklärte, ja, bis in hohem Grade Unerklärbare eine Erklärung, eine Begreifen, also eine Erkenntnis stützen? Leben und Erleben sind Probleme, Rätsel, also zu nichts weniger geeignet als zu methodischen Ausgangspunkten und Grundlagen der Erkenntnis. Jedes Erlebnis ist und bleibt doch schließlich eine große Inkommensurabilität.

Wo aber in der Wissenschaft und in der wissenschaftlichen Technik der Ausdruck: "Erlebnis" gebraucht wird, da ist die Unmittelbarkeit, gleichsam die Frische und Naivität des Erlebens schon in einem ganz bedeutenden Umfange aufgeblaßt, da ist garnicht diese Frische und Naivität aufrechterhalten, sie kann ja garnicht mehr aufrechterhalten bleiben. Es handelt sich garnicht so einfach um  das  Erlebnis, sondern die Fülle der in ihm verbundenen Momente und Richtungen wird auf die  Einheit des Begriffes,  sie muß auf die Einheit des Begriffes bezogen werden. Jene Fülle von Momenten und Richtungen muß zur Einheit zusammengefaßt, sie muß dem Gesichtspunkt der Einheit unterstellt werden, damit auch nur der Ausdruck: "Erlebnis" zur Verwendung kommen kann.  Das  Erlebnis von dem als solchem in der philosophischen Literatur, besonders in der der Gegenwart, so oft die Rede ist, ist  stets auf den Gedanken der Einheit  bezogen. (9) Und dasselbe gilt, wenn wir sie einem Ganzen zuordnen, also eine Fülle von einzelnen Empfindungen, die mit größerem oder kleinerem zeitlichen Abstand voneinander auftreten, deren Auftreten sich vielleicht über Jahre und Jahrzehnte verteilt, zu einer Einheit zusammenfassen. Unser eigenes Leben und Erleben, aber auch das der anderen Menschen ist doch in keiner Weise eine bloße Erlebnistatsache, in keiner Weise ein unbewußtes Hinnehmen und Aufnehmen. Sonder wie es selber überall vom Wissen durchsetzt ist, so richtet sich auch immerfort auf dasselbe Bemühen, es wissenschaftlich zu erfassen. Schon das bloße Sagen und Anerkennen, daß etwas Leben und Erleben ist, daß irgendwo und irgendwie eine Lebenszustand auftritt, eine Lebenzsbezug sich abspielt, ist ein Ausdruck des Wissens um das Leben und Erleben, ist ein Eingehen in den Begriff.

Diese prinzipielle und methodische  Abhängigkeit des Erlebnisse von dem Begriff des Erlebnisses  bedeutet im Grunde nicht anderes als die Abhängigkeit des Erlebnisses von dem System der Erkenntnis, so gewiß als jener Begriff wie überhaupt jeder Begriff nur im System der Erkenntnis möglich ist. Wo und wie immer der Versuch unternommen wird, eine Philosophie des Erlebens zu entwickeln, da ist ein solcher Versuch nur möglich unter der prinzipiellen Voraussetzung und Zugrundelegung des theoretischen Systembegriffes. Eine Philosophie, die vom Leben, Erleben, Schaffen, Handeln usw. ausgeht, und die in ihnen Grundlagen und Kriterien für ihre Aufbau und für ihre Geltung erblickt, gehört ihrem Sinn und Gehalt nach in den Ideenkreis der Romantik. Wie die Philosophie überhaupt, so sind aber auch alle ihre romantisierenden Spielarten begrifflich nur möglich auf der Grundlage der Theorie und des theoretischen Systembegriffes. Nur auf der Voraussetzung des Einheit stiftenden Logos und nur durch ihn gewinnt das Erlebnis seine wissenschaftliche Reife und Qualifikation, gewinnt das Erlebnis philosophische Geltung, genießt es überhaupt logisches Geltungsrecht. (10)


4. Das Verhältnis zwischen Sein und Geltung in der psychologischen Geltungsargumenation

Die Herausstellung des Erlebnisses als des grundsätzlichen Geltungswertes der psychologischen Geltungsreihe läßt auch ein besonderes Licht auf jenes Verhältnis zwischen Sein und Geltung fallen, wie es in der psychologischen Reihe und unter dem entwicklungsgeschichtlichen Geltungsgesichtspunkt besteht.

Man pflegt einen besonderen Vorzug der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung darin zu erblicken, daß sie eine streng einheitliche Auffassung der Wirklichkeit ermögliche. Die ganze Sphäre des Seins wird nämlich dem Gedanken der Entwickelung unterstellt, und zwar in der Weise, daß das Sein eben dadurch, daß es sich entwickelt, als ein wahrhaft seiendes Sein begriffen wird. Was sich nicht mehr entwickelt oder sich überhaupt nicht entwickeln kann, das hat nicht nur kein Sein, sondern das  gilt  nicht, das hat keinen Wert, keine  Geltung,  keinen Gehalt. Nur das sich entwickelnde Sein erscheint als wertvolles, werthaltiges, geltungshaltiges Sein. So werden geradezu Geltung und Entwickelung identifiziert. Durch die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung wird gleichsam das ganze Sein aufgesogen und durch das Moment der Entwickelung zur Geltung erhoben. Als die einzig selbständige Größe gilt in dieser ganzen Betrachtung nur der Begriff der Entwickelung, während Sein und Geltung als abhängig von ihm, als durch ihn gesetzt, durch ihn begründet und durch ihn gerechtfertigt erscheinen.

Diese Gedanken beschäftigen uns schon einmal, als auf das Verhältnis zwischen Erleben und Entwickelung Bezug genommen wurde. Hier kommen wir mit Notwendigkeit zu denselben Ergebnissen. Denn das, was hier als "Sein" bezeichnet wird, ist ja nichts anderes als das Erleben, als das Leben; kein anderes "Sein" als das Leben kommt in diesem Zusammenhang überhaupt in Frage. Wir fanden die Identität von Leben und Entwickelung (siehe oben); wir fanden, daß das Leben den psychologischen Geltungswert darstelle. Ferner erwies sich das Leben als das Sein, auf das sich alle psychologische Argumentation bezieht, und so ergibt sich hier mit Notwendigkeit die Identität von Sein (Leben) und Geltung.

Aber diese durch den psychologisch-entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkt begründete Identitätsverhältnis von Sein und Geltung hat einen ganz besonderen Charakter. Jene Identifizierung vollzieht sich nämlich derart, daß nicht die Geltung gilt, weil sei ein Sein ist, sondern umgekehrt: das Sein gilt und ist hier nur, weil und sofern es als geltend gesetzt und anerkannt wird. Der Entwicklungsbegriff umschließt und trägt zunächst den Begriff des Lebens als Geltung. Das sich Entwickelnde erscheint hier nicht zunächst als ein Seiendes, sondern als ein Wertvolles, ein Geltungshaltiges, als ein Geltungsbehaftetes; das Sein ist hier nicht seiendes Sein, sondern geltendes Sein. (11)

Dieses Verhältnis zwischen Sein und Geltung erwächst in folgerichtigem Zusammenhang mit seiner eingangs dieses Kapitels besprochenen psychologischen Fundierung. Als erste, als ursprüngliche Setzung und Verursachung einer Geltungsreihe ist, so sahen wir, das menschliche Wolle, Wünschen und Fühlen zu betrachten. Für dieses Wollen und Fühlen gibt es nichts Geltungsindifferentes, gibt es nichts, was zunächst nur "ist" und nicht zunächst gilt. Die ganze Bahn und Betätigung des Wollens und Fühlens ist vielmehr durchtränkt und durchsetzt von Geltungsverleihungen, von Geltungsintrojektionen, die mit elementarer Macht aus der Tiefe des Erlebens hervorgehen. Jeder Akt des Wollens und Fühlens ist auf eine Geltung bezogen, er bejaht eine Geltung, er setzt einen Wert, und zwar aus dem Grunde, weil er unweigerlich ein Erlebnis ist, dem für unser psychisches Sein irgend eine Geltung irgend eine Bedeutung zukommt. Der ganze Verlauf des Wollens und Fühlens  ist  etwas, weil er etwas für unser Leben  bedeutet.  Die psychologische Geltungsordnung bildet ihrem ganzen Sein nach, und zwar sowohl in bezug auf die ihr immanenten  Werterlebnisse  als auch in bezug auf diejenigen Gegenstände, auf die sich jene Erlebnisse richten,  einen Akt unmittelbarer Bewertung, instinktiver, utilitaristischer und pragmatischer Wertstellungnahme. 


5. Die pragmatische Einstellung der psychologischen Geltungsordnung

Die Struktur der psychologischen Geltungsordnung zeigt nun überhaupt eine bestimmte Anlage und Verfassung im Sinne des Utilitarismus und Pragmatismus. Dieser pragmatische Charakter tritt sowohl in den einzelnen Stufen und Leistungen des Lebenszusammenhanges als auch in dem Ganzen der Kultur und Geschichte, zu dem sich diese Stufen und Leistungen zusammenschließen, deutlich hervor. (12) Und aus dieser pragmatischen Struktur des Lebenszusammenhanges ergibt sich, daß auch die Art und Weise, wie er interpretiert und zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht wird, an dem pragmatischen Gesichtspunkt orientiert ist. Nur pragmatisch läßt sich der Geltungszusammenhang des Lebens fassen und erfassen. Die rein naturwissenschaftlich-mechanistische Betrachtung wird der eigentümlichen Natur dieses Zusammenhanges nicht gerecht. Sie versagt gerade an dem entscheidenden Punkte, nämlich da, wo es gilt, den Lebenszusammenhang als  Lebenszusammenhang, als auf Zweckerfüllung hinzielende und Zwecke erfüllende Verbundenheit zu begreifen.

Von dieser Erkenntnis aus hat WILHELM DILTHEY gegen die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Geschichtswissenschaften unermüdlich seine Stimme erhoben: das ist das Berechtigte an seinem Kampf gegen die Alleinherrschaft der mechanischen Erklärung, wie immer man zu seinem Versuch, im  Erleben  und im  Verstehen  des Erlebens den Geschichtswissenschaften eine eigene, selbständige Grundlage zu schaffen, Stellung nehmen mag. DILTHEY zeigt, daß in den Geschichtswissenschaften die geistige Welt in der Form "teleologischer" (besser: pragmatischer) Wirkungszusammenhänge, wie solche sich im Zeitverlaufe herausbilden, erfaßt wird und von hier aus zu verstehen ist. (13)

Der Wirkungszusammenhang, auf dem die geistige Welt sich aufbaut, und in welchem sie zu empirischer Darstellung und Festigung gelangt, ist aber ein so komplexes Gebilde, daß es unmöglich ist, ihn in seiner Gesamtheit mit einer einzigen Formel erschöpfend bestimmen zu können. Um nun doch zu irgend einer wissenschaftlichen Erfassung desselben zu kommen, müssen wir ihn gedanklich auflösen u. z. durch solche Mittel, die seinem Wesen angemessen sind, d. h. wir müssen ihn analysieren unter Gesichtspunkten pragmatischer Methodik, indem wir seine einzelnen Richtungen je nach ihrer Verbundenheit zu einzelnen Wirkungseinheiten und Zweckleistungen aus dem Ganzen herausheben und voneinander absondern, ohne aber zu vergessen, daß diese  einzelnen  Richtungen von Wirkungszusammenhängen doch wieder umschlossen und getragen werden von jenem ungeheuren Gesamtgebilde, das wir Leben, das wir Geschichte nennen. (14)

Versucht man also die Systeme: Staat, Recht, Religion, Sitte, Literatur, Philosophie usw. psychologisch zu begründen, d. h. diese Systeme ihrer  psychologischen  Struktur nach und in psychologischer Form zu analysieren, so fügt man stets und unweigerlich in diese Analyse pragmatische Wertungs- und pragmatische Auswahlgesichtspunkte ein. Die naturwissenschaftliche Betrachtung dieser Systeme ist natürlich in keiner Weise entbehrlich. Sie hat die Aufgabe, durch die Herstellung der Kausalitätszusammenhänge jener Systeme für die pragmatische Interpretation überhaupt erst einmal die Unterlage zu liefern.

Aber ebenso wie es gilt, darauf zu achten, daß jene Betrachtungsweise das eigentliche Problem, welches in der irrationalen Struktur der psychologischen Geltungsreihe steckt, nicht zu meistern vermag, ebenso ist es nötig, daß man bei der Heranziehung der pragmatischen Interpretation sich ihrer Selbständigkeit und ihrer Unabhängigkeit der mechanisch-kausalen Erklärung gegenüber bewußt bleibt und die Grenzen und die Kompetenzen beider wissenschaftlichen Verfahrungsweisen wahrt. So darf die Einsicht in die Notwendigkeit einer Verbindung beider Verfahrungsweisen nicht hinwegtäuschen über ihre methodische Verschiedenheit. Darüber aber zu streiten, welche Methode die wissenschaftlich allein berechtigte ist und zu den zuverlässigen Ergebnissen führt, ist müßig, und jede entweder nach der einen oder der anderen Seite sich neigende Entscheidung zweifellos einseitig.

Dagegen ist einem anderen Punkte eine strengere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Das ist die gerade gegenwärtig häufiger zu beobachtend Vermischung von Pragmatismus und Teleologismus, die angesichts der Renaissance, deren sich die Teleologie in der jüngeren philosophischen Forschung wieder erfreuen darf, (15) in ein gleichsam akutes Stadium getreten ist. Während erst an späterer Stelle der Unterschied zwischen Pragmatismus und Teleologismus im Einzelnen entwickelt werden wird, sei hier nur Folgendes bemerkt.

Jene soeben erwähnte Vermischung ist nur darum möglich, weil man gewöhnlich zwei verschiedene Bedeutungen, die dem Zweckbegriff eigen sind, nicht genügend auseinanderhält: Zweck im Sinne des praktischen Nutzens, der realen Befriedigung eines Bedürfnisses, und Zweck im Sinne der reinen Kategorie, im Sinne eines reinen, in der theoretischen Funktion der Vernunft selbst enthaltenen Prinzips. In jener Hinsicht gebraucht der Pragmatismus (Utilitarismus), in dieser die kritisch-theoretische Teleologie den Zweckbegriff.

Daß mit jeder psychologistischen Geltungsinterpretation die pragmatische Einstellung verbunden ist, leuchtet wohl, zumal nach allem oben Ausgeführten, leicht ein. Nur darf man natürlich den Begriff des Nutzens nicht in gar zu grobem und robustem Sinne nehmen. Denn die Effekte, die durch das Gefüge und Geschiebe der psychologischen Abläufe im Bewußtsein des Menschen ausgelöst werden, sind oft so zarter, verwehender Art, daß es begreiflich ist, wenn man sich dagegen sträubt, auf sie die harte Bezeichnung "Nutzen" anzuwenden. Und doch liegen, psychologisch gesehen, jene Effekte auf der gleichen Linie wie jede andere Wunschbefriedigung, bis hin zu denen nackter sinnlicher Natur. So kann man also auch umgekehrt sagen: die pragmatische Betrachtungsweise ist ein Ausdruck und Kennzeichen psychologistischer Einstellung. Ohne Mitberücksichtigung der zweifellos vorhandenen pragmatischen Tendenz der psychologischen Prozesse ist eine umfassende adäquate Erfassung dieser Prozesse nicht erreichbar. Und dieser Umstand spricht wenigstens in einer Hinsicht für die Anwendung der pragmatistischen Betrachtung.

Aus diesem Umstand aber ergibt sich ferner, daß der Pragmatismus als Methode der Untersuchung unter einem bestimmten Gesichtspunkt auch in bezug auf das Problem der Erkenntnis gültig ist, dann nämlich, wenn es sich nicht um das Problem der Erkenntnis im Sinne des Systems der objektiven Wissenschaft, also wenn es sich nicht um ein kritisch-logisches Problem handelt, sondern wenn (nicht die Erkenntnis sondern) das Erkennen in seiner zeitlich-assoziativen Verknüpfungsform, wie es im Menschen oder in der ganzen Menschengattung entsteht und sich entwickelt, untersucht werden soll, wenn es sich also um die anthropologische und biologische Betrachtung des Erkennens handelt. Ebenso wie es das Kennzeichen des Psychologismus ist, das  Problem des Begriffs der Erkenntnis  gegen das  Problem der Genesis des Erkennens  zu vertauschen, so ist es auch sein Kennzeichen, daß er die genetische Betrachtung mit der pragmatischen verbindet. Genetische Erkennenslehre, Psychologismus, Pragmatismus: das sind innerlich zusammengehörige Teile einer und derselben Bewußtseinsstellung, einer und derselben Argumentationsart.

Aber mit dieser Anerkennung der relativen wissenschaftlichen Gültigkeit der soeben genannten drei Momente ist nicht etwa ihre prinzipielle, systematische Unabhängigkeit ausgesprochen. Unter prinzipiellem Gesichtspunkt muß unbedingt  allererst die Frage nach dem Geltungssinn,  der den Begriffen: Entwickelung, Nutzen usw. zugeteilt werden kann, erledigt sein, bevor man diese Begriffe als wissenschaftlich legitimiert und sichergestellt betrachtet. Die  kritische Begründung jener Begriffe  muß ihrer einfachen Anwendung innerhalt der genetischen Theorien schon aus dem besonderen Grunde  voraufgehen,  um unbedingt zu verhindern, daß nicht der Begriff der Entwickelung zu jener geheimnisvollen Kraft umgebogen wird, die hinter den Prozessen, von denen die Rede war, ihr Spiel treiben soll, und damit nicht im Nutzen ein mystisches Ding gesehen wird, das jene Kraft treibt und anstößt. Es läßt sich sehr oft beobachten, wie ohne diese kritische Sicherung eine Entgleisung des Psychologismus und Pragmatismus in die Ontologie und Metaphysik hinein stattfindet, wie es auch weiterhin zu den Grundleistungen der kritischen Philosophie gehört, daß sie umgekehrt die psychologische Abhängigkeit jeder Metaphysik von vitalen psychologischen Gebilden und Vorgängen aufdeckt. So führt uns die kritische Methodik zum nächsten Punkt, d. h. zur Aufdeckung der bereits kurz berührten psychologischen Substruktion der Metaphysik.
LITERATUR, Arthur Liebert, Das Problem der Geltung, Berlin 1914
    Anmerkungen
  1. Vgl. von WILHELM DILTHEY u. a. "Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen". In dem Sammelband: Weltanschauung, Berlin 1911, S. 1 ff. Vgl. ferner die eindringliche Studie von MAX FRISCHEISEN-KOEHLER, Zur Phänomenologie der Metaphysik; Zeitschrift f. Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 148, 1912, S. 1 ff.
  2. HERMANN SCHWARZ, Das sittliche Leben. Eine Ethik auf psychologischer Grundlage; Berlin 1901, S. 36. Die grundlegende Bedeutung, die dem Willen für unser ganzes seelisches Sein zukommt, wird in der Literatur auch sonst häufig betont; so von WUNDT, PAULSEN, VAIHINGER u. a.
  3. Wer nach dem genaueren Einblick in die einzelnen Tendenzen eines solchen Systems verlangt, sei auf die "Ethik" von PAULSEN hingewiesen. Hier findet man den umfassenden Versuch einer anthropologisch-biologischen Behandlung der Moralphilosophie, dem fortgesetzt die Absicht parallel geht, die grundsätzlichen Standpunkte und Resultate auf das Leben zu beziehen und sie für die Bildung des Menschen fruchtbar zu machen. FRIEDRICH PAULSEN, System der Ethik; 2 Bände, 7. und 8. Aufl. 1906; vgl. HERMANN SCHWARZ, Das sittliche Leben, S. 30 ff, S. V, VI u. ö.
  4. W. DILTHEY, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 1. Hälfte. Aus den Abhandlungen der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften 1910, S. 83 ff., 88, 97 u. ö.
  5. Die obige Darstellung will also nur zeigen, welche Verfahrungsweise von Psychologismus tatsächlich befolgt wird; sie will aber nicht für das Recht dieses Verfahrens eintreten. Vielmehr verficht die vorliegende Arbeit, wie noch später genauer zum Ausdruck kommen wird, den Gedanken, daß die geschichtliche Betrachtungsweise nichts über das Recht, nicht über die Geltung eines Wertes zu entscheiden vermag, daß sie mithin also auch nicht die Autonomie eines Wertes gefährden kann. Das zeigt z. B. für die Autonomie der sittlichen Normen ausdrücklich HENSEL, Hauptprobleme S. 85 f.
  6. Vgl. z. B. W. WUNDT, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. 2 Bände, 1900 f. In diesem Zusammenhang sei die Bemerkung eingefügt, daß es unzutreffend ist, wenn behauptet wird, das Verfahren der entwickelungsgeschichtlichen Untersuchung sei ursprünglich rein inmitten der Naturwissenschaften und lediglich auf Grund naturwissenschaftlicher Interessen entstanden, und es sei von hier aus künstlich und beinahe gewaltsam auf die Geisteswissenschaften übertragen worden. Eher trifft das Umgekehrte zu. Schon DAVID HUME versuchte die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung für das Verständnis der Religion auszunutzen, sie also auf ein Gebiet geisteswissenschaftlichen Charakters anzwenden. Und welche außerordentlich große Rolle spielte bereits im 18. Jahrhundert der Begriff der Entwickelung! Ihm werden keineswegs nur die Gebiete der Natur unterstellt, sondern mit nicht geringerem Nachdruck und Eifer wird er überhaupt auf das ganze Gebiet der Geschichte und der Kultur ausgedehnt, d. h. er wird bereits damals für das Verständnis der gesamten Wirklichkeit verwendet, sowohl um die Wirklichkeit gedanklich zu konstruieren, als auch um sie auf Grund dieser gedanklichen Konstruktion zu begreifen. Vgl. die umfassende, alle Verzweigungen und Anwendungen dieses Gedankens im 18. Jahrhundert berücksichtigende Darstellung bei PAUL MENZER, Kants Lehre von der Entwickelung in Natur und Geschichte, 1911. Den bedeutsamsten Ausdruck dieses spekulativen, die ganze Wirklichkeit umfassenden Rationalismus bildet das System von LEIBNIZ. Bekannt ist die epochemachende Anwendung des entwickelungsgeschichtlichen Verfahrens besonders auf die Gebiete der Poesie und Sprache u. a. durch HERDER, der jenen gewaltigen Gedanken von LEIBNIZ dadurch fortführt, daß er ihn aus seiner spekulativen Höhe herunterholte, ihn auf bestimmte Gebiete der konkreten Kultur bezog und ihm dadurch die Möglichkeit seiner empirischen Verifikation und Beglaubigung verschaffte. Und das 19. Jahrhundert, man denke vornehmlich an HEGEL, glaubte in dem Begriff der Entwickelung geradezu die Zauberformel gefunden zu haben, um alle Zusammenhänge und Systeme, in die sich die Wirklichkeit gedanklich auseinanderlegen läßt, auch gedanklich bemeistern zu können.
  7. NIETZSCHE, W. W., Bd. 5: Die fröhliche Wissenschaft, S. 159
  8. Vgl. auch die späteren Ausführungen, wo die oben gegebene Kritik des Erlebnisbegriffes im Anschluß an die Darstellung der Philosophie DILTHEYS noch ergänzt wir; ferner AD. LASSON, Der Wertbegriff in der Ästhetik; Bericht über den Kongreß f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft, Stuttgart 1914, S. 154 u. ö.
  9. Die hier versuchte kritische Analyse des "Erlebnisses" deckt sich, auch in ihrer ablehnenden Tendenz, mit der ausgezeichneten Kritik, die SCHOPENHAUERs LEHRE von dem Willen und dessen Geltung als Grundwert bei ALOIS RIEHL, Einführung S. 219 ff. erfährt. Auch hier darf hingewiesen werden auf die Kritik, die der Begriff der Kraft, in welcher eine bestimmte Richtung der Metaphysik das ens a se, das absolute Wesen, erblickte, durch D. HUME, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand (Philos. Bibliothek Bd. 35. Übersetzt von Raoul Richter, 7. Aufl. 1911, S. 74 ff.) erfährt.
  10. Vgl. auch BAUCH, Studien, S. 243
  11. Ich weise auf dieses Verhältnis darum besonders hin, weil hier ein bezeichnender Unterschied gegenüber jenem Verhältnis zwischen Sein und Geltung vorliegt, wie dieses sich unter dem metaphysischen und weiterhin unter dem logischen Gesichtspunkt darstellt.
  12. Vgl. von den auf diesen Punkt bezüglichen Arbeiten W. DILTHEYS besonders: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1890 und derselbe: Der Aufbau d. geschichtl. Welt in den Geisteswissenschaften, ebend. 1910
  13. DILTHEY, Der Aufbau S. 79: "So enthalten die systematischen Geisteswissenschaften die Aufgabe einer Begriffsbildung, welche die dem Leben einwohnende Tendenz seine Veränderlichkeit und Unruhe, vor allem aber die in ihm sich vollziehende Zwecksetzung zum Ausdruck bringt."
  14. DILTHEY, Der Aufbau S. 89f. "Der Ausgangspunkt für seine Feststellung (nämlich des Wirkungszusammenhanges) ist eine einzelne Wirkung, zu welcher wir - rückwärts schreitend - die wirkenden Momente aufsuchen. Unter den vielen Faktoren ist nun nur eine begrenzte Zahl bestimmbar und für diese Wirkung von Bedeutung. Wenn wir etwa für die Veränderung unserer Literatur, in welcher die Aufklärung überwunden wurde, das Ineinandergreifen der Ursachen aufsuchen, dann unterscheiden wir Gruppen derselben, wir suchen ihr Gewicht abzuwägen, und wir grenzen irgendwo der unbegrenzten ursächlichen Konnex nach der Bedeutung der Momente und nach unserem Zwecke ab. So heben wir einen Wirkungszusammenhang heraus, um die in Frage stehende Änderung zu erklären."
  15. Vgl. CHRISTOPH SIGWART, Kleine Schriften, 2. Reihe, 2. Aufl., 1889. "Der Kampf gegen den Zweck" S. 24-67; auch H. COHEN, Logik S. 302ff. u. ö.