tb-1G. StörringL. SsalagoffF. MünchH. Rickert    
 
ARTHUR LIEBERT
Das Problem der Geltung
[4/8]

"Die Philosophie kommt nur als System zu ihrem Begriff."

D a s   S y s t e m

Der Systembegriff als Gesichtspunkt und als Idee

Im Vorhergehenden wurde schon angedeutet, daß der Systembegriff seinem vollen logischen Geltungssinn nach nicht in dem einzelnen Zusammenhange, der seiner Leitung untersteht, restlos aufgehe, daß er sich seiner logischen Bedeutung nach nicht in einem Zusammenhang erschöpfend darstelle. Denn in dem Begriff des Systems liegt der Gedanke des unendlichen Fortschrittes, der ununterbrochenen Kontinuität, der unendlichen Reihe, liegt der Gedanke des logischen Progressus in infinitum, für welchen der jeweils erreichte Erkenntnispunkt keinen Abschluß, sondern nur einen jeweiligen Haltepunkt bedeutet, der von sich aus unmittelbar auf den nächsten Punkt und dieser wieder auf den nächsten und fort hinweist, ja, der den nächsten notwendig herbeizwingt. Jedes Anhalten ist nur ein vorläufiges, ein empirische, über das hinaus die Kontinuität der Reihe zu immer neuen Stellungen hinweist.

Empirisch und historisch kann man diesen Gedanken durch den Hinweis verdeutlichen, daß die "Erkenntnis", ihrer Einheit und Systematik nach, nirgends als  abgeschlossenes  Faktum vorliegt, weder in dem Prozeß des Erkenntnisvollzuges selber, nocht kodifiziert in wissenschaftlichen Büchern. Was in dem Prozeß des Erkenntnisvollzuge oder in dessen literarischem Niederschlag zum Ausdruck kommt, ist nicht das "System" selber, sondern nur ein formulierter Ausschnitt oder eine mehr oder minder fragmentarisch und approximative Repräsentation desselben. Was in den einzelnen Sätzen, in den einzelnen Urteilen, Schlüssen, ja in dem Ganzen einer Wissenschaft auftritt, ist stets ein  relativ  Fertiges, ein  relativ  Abgeschlossenes, ein  relativ  Bestimmtes.

Das "System" ist nie  ein  Fertiges, nie  ein  Abgeschlossenes, nie  ein  Bestimmtes, denn sonst wäre die Erkenntnis überhaupt fertig, abgeschlossen, vollendet. Schon in jedem Begriff, in jedem Urteil, in jedem Schluß macht sich neben ihrer verhältnismäßigen Bestimmtheit, neben dem Umstand, daß sie ein Stück der Erkenntnis zu prägnantem Ausdruck bringen, noch die Tendenz des Weitergehens, des Weiterweisens, der Beziehung auf weitere Begriffe, Urteile und Schlüsse geltend. Stets tritt in ihnen eine Relation hervor. Kein Begriff, kein Urteil, kein Schluß hat, wie schon erwähnt, rein für sich erkenntnismäßigen Sinn und Halt. Die Verbürgung und Sicherung des Einzelnen wird erst gewährleistet durch den Begriff des Systems, sie wird ermöglicht durch den Gedanken einer umfassenden Ordnung, der das Einzelne als integrierender Bestandteil eingefügt ist. Wenn nun in jedem einzelnen Stück der Erkenntnis stets eine Relation auf andere, weitere Momente der Erkenntnis hervortritt, so geschieht dieser Übergang von einem Begriff zum anderen, so geschieht die Verbindung zweier Begriffe zu einem Urteile, diese Verbindung zweier Urteile zu einem Schluß durch den Gedanken des Systems. Ohne ihn läßt sich kein methodisch sicherer Übergang von einem Erkenntnismoment zu dem andern vollziehen, ohne ihn ist keine Verbindung möglich. Ohne Voraussetzung des Systembegriffes ist schließlich weder der Begriff der Wissenschaft noch derjenige der Philosophie überhaupt definierbar. (1)

Alle einzelnen logischen Vollzüge, wie sie in dem Geltungsmoment des Überganges und der Verbindung erfolgen, sind die logischen Versuche und Ansätze zur Konkretisierung und Realisierung dieses Gedankens des Systems. Es sind Ansätze, Entwickelungsprozesse dieser Konkretisierung, nie aber das System selber, weil mit dem Gedanken des Systems der Gedanke des Fortganges zur Totalität verbunden ist. Das Linnèsche System z. B., auf das man vielleicht hinweist, um zu zeigen, daß auch ein System etwas Fertiges, Abgeschlossenes, logisch tatsächlich Vorliegendes sein könne, ist nicht "System" in dem hier gemeinten Sinne. Hier heben wir die grundlegende, transzendentallogische Bedeutung heraus, die dem Systembegriff, im genauen Unterschied von allen anderen Formen der Erkenntnis, für das Ganze der Erkenntnis zukommt. Von hier aus gesehen, ist das Linnèsche System nur ein spezifischer Ausdruck, nur eine besondere Repräsentation, nur eine spezielle Anwendung der grundsätzlichen Bedeutung, die dem Systembegriff seinen eigentümlichen Gehalt nach zukommt. Das "System" in seinem vollen logischen Sinne steht gleichsam hinter diesem konkreten Niederschlag: es ist das Prinzip dieses Niederschlages, es ist der Gesichtspunkt, unter dem sich dieser Niederschlag, also das spezifische System, das wir das Linnèsche nennen, vollzieht.

Damit aber haben wir einen weiteren Punkt in der Bestimmung der logischen Geltungsbedeutung des Systembegriffes erreicht:  das "System" ist, seiner logischen Geltungsbedeutung nach, der logische Gesichtspunkt,  unter dem sich der Prozeß der Erkenntnis eben als Erkenntnis vollzieht. (2)

Zunächst ist eine andere Frage zu erledigen. Ist das System als solches eine besondere, eine selbständige Kategorie außer und neben den anderen, in der Transzendentallogik behandelten Kategorien? Denn der Gedanke des Systems ist  in  den einzelnen Kategorien als ihr Apriori, als ihr Prinzip geltend. Wo und wie immer eine bestimmte Kategorie gedacht und im Prozess der Erkenntnis verwendet wird, geschieht das im systematisierenden Sinne, im Sinne des Systems. (3) Dieser systematisierende Sinn ist der Sinn der Kategorien, der nicht außer und nicht neben ihnen steht, der keine selbständige Rolle und Funktion unabhängig von den Kategorien hat, sondern der in ihnen in immanenter Weise zum Ausdruck kommt, der sie ebenso gebraucht, wie sie ihn für den Zweck ihrer Funktion.  Der  Systemgedanke ist der allen Kategorien gleichermaßen innewohnende grundsätzliche Sinn der Kategorien. Und die Kategorien sind die logischen Entfaltungen dieses System-Sinnes. Sie sind die Ausführungen dieses fundamentalsten logischen Gesichtspunktes der Erkenntnis. Diese innere Beziehung zwischen dem Gesichtspunkt des Systems und den Kategorien hat KANT ausgezeichnet dadurch gekennzeichnet, daß er die Kategorien bekanntermaßen "Verknüpfungsformen" nennt.

Statt jenes Ausdruckes "Gesichtspunkt" aber können wir nun die vortreffliche Bezeichnung einführen, die wiederum KANT, ein Meister auch in der Treffsicherheit seiner Sprache, für solche Denkgebilde verwendet, wie das "System" deren eins ist. KANT bezeichnet bekanntlich das, was den logischen Geltungswert eines methodischen Gesichtspunktes für die Erkenntnis, für den Vollzug der Forschung besitzt, als Idee. (4) Und so werden wir sagen können:  das  "System" die grundlegende Bedingung und Sicherung überhaupt. Wieviele solcher Bedingungen kann es geben? Offenbar nur eine einzige, so gewiß nur  ein  prinzipieller und prinzipiell gültiger Begriff der Erkenntnis denkbar ist. Ihrer prinzipiellen Bedeutung nach sind alle einzelnen Kategorien einander durchaus gleich, gleichermaßen gültig, sie sind einander gleichwertig. Ihre Gleichwertigkeit gründet sich in ihrem gemeinsamen Rückgang auf den Gedanken des systematischen Zusammenhanges, den sie alle, so verschieden sie auch im Einzelnen sein mögen, gleichermaßen durchführen und realisieren. Wenn also der Systembegriff das Apriori der Kategorien, wenn er deren grundsätzlicher Kern und Gehalt ist, dann heißt das, daß der  Systembegriff für die Erkenntnis den Geltungswert der einzigen, die Erkenntnis ermöglichenden Idee darstellt. 

Wir erfassen und bestimmen also das "System" nicht als Kategorie,  sondern als Idee.  Darin prägt sich  der logische Geltungswert des Systembegriffes aus, daß er als "Idee" im Kantischen Sinne erkannt und anerkannt wird;  aber als  die Idee der Erkenntnis.  Wenn man den Begriff der Erkenntnis auf seine letzten ideellen Voraussetzungen zurückführt, wenn man die "Idee" dieses Begriffes, den Sinn dieses Begriffes zu erfassen sucht, dann ergibt sich der Gedanke, daß die Erkenntnis, ihrer Idee, ihrem Sinne nach ein System sei, ein System sein solle. In dieser Idee erfaßt die wissenschaftliche Vernunft die Idee ihrer selbst, d. h. ihre Einheit "Die Vernunfteinheit ist die Einheit des Systems." (5)


3. Ist die Systemidee eine Fiktion?

Es ist auf alle Weise geboten, bei jeder Bestimmung des Systembegriffes  stets die Beziehung zur Erkenntnis, die Beziehung zur Wissenschaft mit aller Strenge aufrecht zu erhalten.  Von diesem allgemeinen Grundsatz für erkenntnistheoretische Untersuchungen darf man auch in keinem besonderen Falle abweichen, will man nicht zu fruchtlosen Spekulationen kommen. Nur wenn die Untersuchung der grundlegenden Geltung der Systemidee orientiert ist an diesem Gesichtspunkt der Bezugnahme auf die Erkenntnis, gelingt es, in die Struktur dieser Geltung einzudringen, und zu sachlichen Ergebnissen zu kommen, gelingt es, als Geltungswert des Systembegriffes seine Bedeutung als  ideelle  Ermöglichung, als  ideelle  Voraussetzung der Erkenntnis überhaupt aufzuzeigen. Nur bei strengster Berücksichtigung der methodischen Verhaltungsweisen der konkreten Wissenschaften ist es möglich, von dem objektiv-logischen Geltungswert der Systemidee zu sprechen, diesen Geltungswert als Idee im objektiv-logischen in seiner Reinheit zu bewahren. Nur dadurch kann allein einerseits der Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] der Idee zu einer metaphysischen, an einem "überhimmlischen" Orte befindlichen Wesenheit vorgebeugt, und nur so kann andererseits die logische Bedeutung des Systembegriffes als Idee gegenüber jeder psychologischen Interpretation sichergestellt werden. Würde in jenem Falle die Idee zu einem "Wesen", so in diesem zu einer "Fiktion".

Und doch ist die Idee in diesem psychologischen Sinne, nämlich als Fiktion, aufgefaßt worden. Das ist in umfassender Weise durch die Philosophie des Als Ob HANS VAIHINGER geschehen. (6) Indem wir auf diesen Deutungsversuch eingehen, sei zugleich die oben in Aussicht gestellte prinzipielle Kritik der VAIHINGERs Theorie an einem Hauptpunkte vorgenommen (7)

VAIHINGER beruft sich darauf, daß KANT selber die "Ideen" als fiktive Gebilde betrachte und als "heuristische Fiktionen" bezeichne. (8) Mit größter Geduld und Sorgfalt durchmustert er das ganzen Lebenswerk KANTs; er weist auf alle in Betracht kommenden Stellen hin und sucht in unermüdlich wiederholten und eindringende Überlegungen, ganz prinzipiell die Ausdeutung der Ideenlehre als einer Fiktionstheorie zu rechtfertigen. Und so wie die Ideen im Besonderen, so werden von VAIHINGER nun überhaupt alle Begriffe, auch die Kategorien, als Fiktionen betrachtet, der gesamte "Denkapparat" wird als ein "Mechanismus" zum Zweck der Erzeugung fiktiver Gebilde in der früher geschilderten Weise aufgefaßt.

Diese Theorie geht zu weit; sie dehnt die Tragweite und Gültigkeit des Begriffes der Fiktion auf Gebiete aus, deren konstitutive Bedingungen in keiner Weise mit dem Begriff der Fiktion in Zusammenhang zu bringen sind, die in keiner Weise als fiktive gelten können.

Ohne Frage ist es zutreffend, in den üblichen metaphysischen Setzungen, wenn man auf ihre psychologischen Wurzeln und auf ihren Realitätscharakter reflektiert, im Wesentlichen Fiktionen zu erblicken und diese metaphysischen "Ideen" als Fiktionen zu bezeichnen.

Sind aber  alle  Ideen und Begriffe ihrer Geltung nach fiktive Gebilde? Sind es die Grundbegriffe, wie VAIHINGER will? Wenn ja, dann wäre die  Theorie  der Fiktion selber eine Fiktion, nicht aber, was sie sein soll und in der Tat auch ist, eine  Theorie also eine Erkenntnis derselben. Unternimmt man es aber, eine Theorie der Kategorien zu geben, sei es selbst in der Absicht, sie als Fiktionen zu entlarven, so setzt man für den Zweck und bei der Durchführung dieser Theorie die theoretische, die logische, also die die Theorie als Theorie ermöglichende Geltung der Kategorien bereits voraus. Man setzt die Kategorien als kategorial giltig und nicht als fiktiv, man arbeitet in der Theorie mit ihnen eben als Kategorien, als logisch gültigen Grundformen der Erkenntnis. (9) Schon der Akt dieses "Hinstellens" ist ein theoretischer, schon die Behauptung, etwas sei eine Theorie, ist eine theoretisch-logische, deren Geltung als theoretisch-logische apriori gesetzt ist. Und so stützt sich auch jede "Entlarvung" der Begriffe als Fiktionen auf die begriffliche Geltung der Begriffe und nicht auf ihre fiktive, sie verwendet notwendigerweise die "Fiktion" im Sinne der Kategorie, deren unbedingte theoretische Geltung er voraussetzen muß und auch stillschweigend voraussetzt, um seine Fiktionstheorie aufstellen und das Recht seiner Aufstellung im Einzelnen nachweisen zu können. Es ist unmöglich, den Begriff der Fiktion auf die Grundformen der Erkenntnis auszudehnen und zu beziehen.

Aber abgesehen von diesen allgemeinen Erwägungen, so wird man nun auch im besonderen die  ideelle  Bedeutung des  Systemgedankens  nicht als eine fiktive bezeichnen können. Diese Deutung erweist sich als unannehmbar, sobald erkannt und nachgewiesen ist, daß der Systemgedanke die höchste und grundgesetzliche Ermöglichung der Wissenschaft, der Erkenntnis bedeutet, und daß er in dieser Funktion für den Vollzug der Erkenntnis die Bedeutung der Idee besitzt. Damit ist die theoretische, die logische Geltung dieser Idee aufgezeigt; damit ist  die  positive theoretische Leistung dieser Idee für die Erkenntnis angegeben. Nur dann, wenn man in dieser Idee eine Realität erblickt, trifft diesem Mißgriff gegenüber die kritische Mahnung zu, daß ein  solches  Realitätsgebilde nichts anderes als eine Fiktion sei. Mit Recht wendet sich VAIHINGERs Kritik gegen die ungehörige Verdinglichung, gegen die ontologische und metaphysische Auffassung der Idee als "Wesen"; sie überzeugt durch eine  psychologische  Untersuchung derjenigen Tendenzen, die zu dieser Hypostase führen, daß ein solches Gebilde bloß die Geltung und den Charakter einer Fiktion habe.

Aber mit dieser  psychologischen  Interpretation ist die  erkenntnistheoretische,  ist die  transzendentallogische  Geltung der Idee garnicht getroffen. Die Realität der Idee ist darin gewährleistet, daß sie für die Erkenntnis, für die Wissenschaft die  grundlegende theoretische Funktion  übt, daß sie die Erkenntnis in ihrer theoretischen Leistung begründet. Und in nichts Anderem als in dieser ihrer wissenschaftsbegründenden, funktionalen und kategorialen Geltung besteht die Realität der Ideen. (10)


4. Ist die Systemidee ein "Wesen"?

Unterschätzt die psychologische Interpretation die Bedeutung der Idee des Systems insofern, als sie in jeder Idee nur eine subjektiv giltige Einbildung erblickt, so überspannt die Metaphysik jene Bedeutung, indem sie den theoretischen Geltungswert der Idee zu einer selbständigen ontologischen Wesenheit, zu einer dinghaften, transzendenten Geistigkeit umbiegt und aufhöht. Kurz gesagt sind nach metaphysischer Auffassung die Ideen transzendente Mächte, göttliche und göttlich wirkende Wesen.

Eine ebenso charakteristische als geschichtlich folgenreiche Umdeutung und Umbiegung überhaupt jedes transzendentallogischen Wertes in eine metaphysische Realität liegt in der Philosophie FICHTEs vor. Ist doch für dieselbe überhaupt das Hinaustreten über die Grenzen der kritischen, auf die Grundlegung der Erkenntnis gerichteten Philosophie eigentümlich. Drängt sie doch mit aller Macht sowohl zum Umwendung der Theorie in die Praxis im Sinne sittlichen Handelns als auch zur Hypostasierung der Begriffe zu metaphysischen Wirksamkeiten. Diese Preisgabe der kritischen Grundstellung tritt in der Geschichtsphilosophie FICHTEs, die mehr als jede andere Disziplin im Mittelpunkt seines Denkens stand, in besonders lehrreicher Weise zu Tage. Und darum mag ich an ihr als einem Beispiel von typischer Bedeutung die Durchbrechung der erkenntniskritischen Fragestellung und die Verdinglichung des methodisch gültigen Systemgedankens zu einem Zusammenhang von metaphysischer Qualität verfolgt werden.

In Bezug auf die Geschichtsphilosophie wirft FICHTE zwei Grundfragen auf, die an sich streng auseinander zu halten sind, die er aber nicht sorglich genug unterscheidet, sodaß er im Fortgang der Untersuchung ihre Ergebnisse nicht nur durcheinander mischt, sondern auch die der ersten ganz im Lichte der zweiten Fragestellung erblickt.

a) Er fragt:  Wie ist Geschichte als Wissenschaft möglich?  Das ist die kritische Problemstellung,
b) Er fragt aber auch:  Welches ist der Sinn, der Gehalt und Zweck des geschichtlichen Daseins? 
Das ist die ethisch-metaphysische Problemstellung.  "Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters",  diese für FICHTEs Philosophie der Geschichte maßgebende Schrift, zeigen jene Vermischung klar und unzweideutig.

Wohl wird das Problem der Geschichte als ein Problem der Wissenschaft erfaßt. Von hier aus findet seine Behandlung ihre Stellung in der Erkenntnistheorie oder Wissenschaftslehre. So heißt es in der 9. Vorlesung: "Unser Zeitalter ist weit entfernt davon, über die Ansicht der Geschichte selbst unter sich einig zu sein, oder sie auch nur zu kennen, welche wir,  durch Vernunftwissenschaft geleitet,  von der Geschichte nehmen." (11) Diese Ansicht gilt es aufzuhellen und sie zu rechtfertigen. "Es ist um so mehr von uns zu fordern, daß wir auf die Erörterung uns einlassen, da ja  die  Geschichte ein Teil der Wissenschaft überhaupt, nämlich, neben der Physik, der zweite Teil der Empirie ist." (12) Mit dieser auch sonst noch wiederholt ausgesprochenen Parallelität zwischen Physik und Geschichte oder besser: Geschichtswissenschaft, ist nun der Gedanke gegeben, daß die Philosophie der letzteren gegenüber die gleiche Aufgabe und Funktion zu erfüllen habe, die die Vernunftkritik KANTs in Hinsicht der ersteren erfüllt hat.

So hat die Philosophie zunächst durch ein kritisches Verfahren aus der Geschichte alle spekulativen und konstruktiven Elemente, z. B. die Mythen über die Uranfänge des Menschengeschlechtes zu entfernen, und nachzuweisen, daß dergleichen in die Metaphysik gehöre. Ferner hat die Philosophie einen bestimmten Begriff davon zu geben, "wonach die Geschichte eigentlich frage und was in sie gehöre, nebst einer  Logik der historischen Wahrheit:  - und so tritt selbst in diesem unendlichen Gebiete das sichere Fortschreiten nach einer Regel an die Stelle des Herumtappens auf gutes Glück." (13) Sie hat die apriorischen Bedingungen anzugeben, die die konstitutiven Voraussetzungen und theoretischen Möglichkeiten dieser historischen Wahrheit darstellen. Endlich hat sie in einem  normativen  Verfahren den Begriff der Geschichte zu bestimmen und die regulativen Ideen zu entwickeln, unter denen die Erfüllung jenes Begriffes sich vollzieht. Hält sie sich in jenem ersteren Verfahrens die  Idee  der Geschichte. Diese Idee findet ihren Ausdruck in dem Gedanken des Weltplans und des sittlichen Endzweckes, auf deren teleologische Erfüllung die Geschichte angelegt und zugeschnitten ist.

So soll also die Idee der tatsächlichen Forschung nicht nur als Regel und Regulativ dienen, durch sie sol es vielmehr möglich werden, von der bloßen Tatsächlichkeit der historischen Erscheinung zurückzugeben auf deren Geist und Bedeutung und auf den geschichtlichen Prozessen innewohnenden Kulturwert.

Das aber ist nur möglich, wenn dem in der bloßen Zeit gegebenen Zusammenhang ein ideeller und absoluter Zusammenhang von Werten zu Grunde liegt. Solche Grundwerte, solche Stufen in der ideellen Ausbildung der Kultur sind Staat, Recht, Sitte, Wirschaft. Was bloß zeitlich ist, das ist nichtig und wesenlos. Was dagegen wahrhaft geschichtlich ist, das muß die zeitliche Beschränkung überwinden, das muß in sich einen Wert verwirklichen; es muß dahin streben, der Idee Genüge zu tun; das muß zur Erfüllung des Daseinszweckes des Menschengeschlechtes beitragen. So wird vom Standpunkt der Idee aus nur das als wahrhaft geschichtlich anerkannt, was in sich zielstrebig-wirksame Kräfte zur Realisierung der Kulturzweckes trägt. Aber es bedarf des philosophisch vertieften Blickes, um diese Kräfte und ihre sinnvollen Schöpfungen zu gewahren, um den überempirischen, um den ideellen Wertzusammenhang der Geschichte zu erfassen.

Hier stehen wir an dem  Wendepunkt  in FICHTEs Begriff der Idee. Zugleich können wir an diesem Fall eine typische, philosophische Katastrophe feststellen. Statt den hypothetisch-methodischen und transzendentalen Sinn des Ideenbegriffes zu wahren, statt also in ihm das regulative Prinzip für den systematischen Aufbau der Geschichtswissenschaft zu sehen, und unter normativem Gesichtspunkt ihn als Beurteilungsmaxime für die einzelnen Erscheinungen des historischen Verlaufes zu verwenden, wird er zu einer Wesenheit verdinglicht, die dem empirischen Getriebe zu Grunde liegen und es zu einem als real erfüllbar gedachten Endzweck hinleiten soll und kann. Erst in dieser metaphysischen Geltung und Leistungsfähigkeit ruht nach FICHTE die eigentliche Funktion der Idee, ruht ihr eigentliches Wesen. Wie an anderen Begriffen der Wissenschaftslehre FICHTEs, so zeigt sich auch hier, daß der Begriff der Idee zu einer Existenz, u. z. zu der absoluten Lebenskraft umgewandelt wird.  "Die Idee ist ein selbständiger, in sich lebendiger un die Materie belebender Gedanke."  (14) Sie hat ein eigenes und selbständiges Leben, durch welches der niedere Grad des Lebens, das sinnlich Leben, völlig aufgehoben, verschlungen und verzehrt wird. (15) Sie bricht als elementare Kraft aus der metaphysichen Urtätigkeit hervor und konstituiert in einem vielgliedrigen, von FICHTE näher charakterisierten Stufengang das eigentliche geschichtliche Leben der Menschheit. (16) Sie schafft mithin das geschichtliche Leben und seine Formen. Sie bildet den metaphysischen Hintergrund, den ewigen Zusammenhang aller geschichtlichen Erscheinungen.

Damit ist der KANTische Begriff der Idee aufgegeben. Damit ist der Idealismus, welcher unter  kritischem  Gesichtspunkt das methodische Prinzip für die Erkenntnis, für die Forschung bedeutet, umgewandelt zu einer metaphysischen Weltansicht, die in den Ideen dinghafte Geistigkeiten erblickt, und die in diesen Geistigkeiten erblickt, und die in diesen Geistigkeiten das wahre Wesen der Wirklichkeit sieht.

Man kann für diese Umbildung des  methodisch  gemeinten in den  absoluten  Idealismus zwei Gründe anführen: einen  persönlich-praktischen  und einen  theoretischen  Grund.

Der  praktische  Grund liegt in FICHTEs Persönlichkeit, in seiner unvergleichlich starken Tendenz, nicht im Rahmen, nicht in der Geltungssphäre der reinen Wissenschaften zu bleiben, sondern auf das Leben und Handeln der Menschen erziehend, umschaffend, reformierend einzuwirken. Die Erreichung dieser Absicht erschien ihm nur möglich, wenn die Ideen und Ideale zu realen Kräften erhoben wurden, nach denen die Wirklichkeit nicht nur beurteilt, sondern "von denen, die dazu Kraft in sich fühlen, modifiziert werden müsse." (17) Damit kommt eine Ansicht über das Wesen und die Aufgabe der Philosophie zum Ausdruck, die auch in den Kreisen der Philosophen, besonders aber in den Laienkreisen vertreten wird. Hiernach soll es nicht die eigentliche Bestimmung der Philosophie ausmachen, kritische Theorie, reine, abgezogene wissenschaftliche Forschung zu sein, die sich selbst genug ist und innerhalb der reinen Forschung bleibt, man verlangt darüber hinaus eine unmittelbare Bezugnahme der Philosophie auf das Leben, eine erzieherische, aufklärende Einwirkung auf die Wirklichkeit, eine Berücksichtigung der Bewegungen und Forderungen des Tages und eine Leitung und Beeinflussung derselben unter umfassenden Gesichtspunkten. So erscheint die Philosophie als Lehre, als Predigt von dem, was sein soll, als eine praktische Anweisung zur Veredelung des Lebens und zur Erziehung des Menschengeschlechtes. Und eben diese Auffassung finden in FICHTE nicht nur einen ihrer charaktervollsten, sondern auch einflußreichsten und wichtigsten Vertreter.

Der  theoretische  Grund für die Hypostasierung der Ideen liegt darin, dass FICHTE die Beziehung der Idee auf die Erkenntnis, auf die Wissenschaft nicht mit der gebotenen Achtsamkeit wahrt, ja überhaupt nicht ausschließlich berücksichtigt. Sein ursprüngliches Interesse richtet sich auf die metaphysische Quelle, auf die "Tathandlung", aus der die einzelnen Gebiete des Seins (Natur und Kultur) hervorgehen, er fragt nach dem "Wesen" nach dem "Ding an sich" der Kultur und nach dem "Wesen" ihrer Quellen. Die kritisch-philosophische Frage richtet sich  lediglich  auf diejenigen Bedingungen, unter denen die  Erkenntnis  der Naturphänomene und die Erkenntnis der Kultursysteme möglich ist. Wer da z. B. fragt, wie Geschichte möglich sei, wirft ein metaphysisches Problem auf. Das kritische Problem lautet: Wie ist die Wissenschaft von der Geschichte möglich? und schließlich lässt sich jene metaphysische Frage überhaupt nicht beantworten. Man fragt nach einem selbständigen Wesen, Geschichte genannt, das hinter den geschichtlichen Erscheinungen als ihr Träger, als die Substanz dieser Erscheinungen gedacht wird, ohne zu sehen, daß dieser Träger, daß diese Substanz doch nur  gedacht  wird. Keine Antwort kann den Kreis des Denkens überschreiten: jede Antwort ist nur die Antwort, die das Denken mit seinen Mitteln erteilt. Jener Träger, jene Substanz ist "Idee", sie ist der ideelle Einheitspunkt, auf den alle einzelnen geschichtlichen Erscheinungen logisch zurückbezogen werden, u. z.  einzig und allein  zu dem Zwecke, um die Erkenntnis, um die Wissenschaft des geschichtlichen Lebens zu gewinnen, um die Struktur dieser Erkenntnis blosszulegen, um Einblick zu gewinnen in den prinzipiellen Charakter derjenigen Erkenntnis, die sich mit den geschichtlichen Phänomenen beschäftigt. Wer immer das geschichtliche Leben als solches in seinem Ansichsein gefasst zu haben glaubt, der täuscht sich über den Charakter dieses Gefaßt-Habens, der sieht nicht, dass er, wenn er zu irgend einer Klarheit, zu einer Einsicht in das geschichtliche Leben gelangt ist, alles dieses einzig und allein mit den Mitteln des Denkens, nur unter den Bedingungen der Erkenntnis erreicht hat.

Wenn FICHTE nun behauptet, daß alle wahrhaft geschichtlichen Erscheinungen ihren Halt und Grund in der metaphysischen Einheit der Idee haben, die in diesen Erscheinungen sich auswirkt, so ist doch diese Behauptung der metaphysischen Existenz der Einheit der Idee und der Idee der Einheit als Behauptung ein theoretischer Akt, sie ist ein Urteil. Daraus aber folgt, daß sich der Begriff der Systemidee nicht auf deren Existenz, sondern auf deren Erkenntniswert bezieht oder beschränkt, dass hier garnicht deren  Sein  ins Auge gefaßt, sondern daß deren Erkenntnisdignität, deren Geltung als Erkenntnisgrundlage gedacht wird. Die angebliche Transzendenz und metaphysische Absolutheit der Idee ist im Grunde nichts als die transzendentallogische Bedeutung, die die Idee für den Zusammenhang der Erkenntnis besitzt. Die Idee als "Wesen" ist nur Erkenntniswesen, ist  gedachtes  Wesen; die Idee des Systems ist, wenn dieser Gedanke einen wissenschaftlichen Sinn, wenn er begriffsmäßige Bedeutung behalten will, der Gedanke der Einheit der Erkenntnis, welcher Gedanke sich dann im System der Erkenntnis im unendlichen Fortgang der Erkenntnis verwirklicht. Man ergreift nie das "Wesen" selber, sondern immer nur die Gedanken, die die Erkenntnis über das "Wesen" sich macht.
LITERATUR, Arthur Liebert, Das Problem der Geltung, Berlin 1914
    Anmerkungen
  1. Vgl. COHEN, Logik der reinen Erkenntnis, Seite 512: "Die Philosophie kommt nur als System zu ihrem Begriff." Vgl. auch oben Seite 108 ff
  2. Vgl. WALTHER POLLACK, Über die philosophischen Grundlagen der wissenschaftlichen Forschung, als Beitrag zu einer Methodenpolitik, 1907, S. 14 ff. P. weist in klarer Weise die hohe Bedeutung nach, die überhaupt dem "Gesichtspunkt" als methodischem Grundmittel der Erkenntnis zukommt. Seite 41 Anmerkg. heißt es, daß der Gesichtspunkt selbst "der primäre Faktor alles wissenschaftlichen Denkens" sei. Vgl. ibid. § 6: "Die Wissenschaft als Kombination von Gesichtspunkten"; ferner § 10: "Die Naturwissenschaften als Kombination von Gesichtspunkten"; § 16: "Die Geisteswissenschaften als Produktion und Kombination von Gesichtspunkten".
  3. KANT, Kr. d. rein. Vern., besonders Seite 355 - 389, die Theorie der Vernunft und die Ideenlehre.
  4. KANT, Kr. d. rein. V., Seite 575 u. ö.
  5. KANT, ebenda
  6. VAIHINGER, a. a. O. Seite 619 ff., Seite 65 u. a. a. O.
  7. (siehe unten)
  8. In demselben Sinne wendet sich gegen die VAIHINGERsche Fiktionstheorie auch BERTHOLD von KERN, "Zur Erkenntnislehre der Marburger Schule," Vortrag 1912, Seite 16 f., der im übrigen die "Philosophie des Als Ob" nach manchen Richtungen hin anerkennt.
  9. Bekanntlich widerlegt PLATO mit ähnlichen Ausführungen den sophistischen Relativismus, z. B. im THEAITETOS
  10. Daß VAIHINGERs Theorie auf psychologistischer Grundlage ruht und keine transzendentalkritische Analyse der Erkenntnis ist, zeigen auch RICHARD HÖNIGSWALD in seiner eingehenden Besprechung der Philosophie des Als Ob in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen, 1912, Nr. 6, Seite 352 - 368 und KURT STERNBERG in den Kantstudien XVI, Heft 2 - 3, Seite 328 - 338.
  11. FICHTE, Werke VII, Seite 128 (Ausgabe von Medicus, IV Seite 522). Betreffendes von mir gesperrt.
  12. ebenda, Seite 129 (IV Seite 523); das Betreffende von mir gesperrt.
  13. ebenda, Seite 107 f. (IV Seite 501 f). Betreffendes von mir gesperrt.
  14. ebenda, VII 55. (IV Seite 449).
  15. ebenda, VII 56. (IV Seite 450).
  16. ebenda, VII 58 ff. (IV Seite 452 ff).
  17. FICHTE, Über d. Bestimmung des Gelehrten; Vorbericht, Werke VI, 292 (I, 220)