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FRITZ BRÜGGEMANN
[mit NS-Vergangenheit]
Aus der Frühzeit der
deutschen Aufklärung


"Die protestantischen ebenso wie die katholischen Universitäten ... erkannten in Aristoteles den großen Meister allen philosophischen Denkens an, ja sie machten das Bekenntnis zu ihm fast schon zu einem moralischen Postulat. Es war noch keine hundert Jahre her, daß man jeden jungen neuen Gelehrten sich schriftlich zur Lehre des Aristoteles verpflichten ließ. ... War die schriftliche Erklärung, nie etwas gegen das geheiligte Wort des Aristoteles sagen zu wollen, auch fortgefallen, der Geist dieser Verpflichtung herrschte auch noch, als Thomasisus in Leipzig in die Wissenschaften eingeführt wurde."

"Thomasius ist ein Revolutionär, aber er ist kein Zerstörer. ... Es gibt Tatsachen, an denen ... ein vernünftiger Mensch nicht zweifeln darf, nämlich die Tatsachen des gesunden Menschenverstandes. Thomasius will keinen Skeptizismus und er will keine Autoritätslosigkeit, er will nur keine geistige Vergewaltigung durch das Prinzip der falschen Autorität. Er will Begründung und Belehrung durch Ratschlag und Überzeugung, nur nicht durch Befehl."

Dieser Eingangsband soll einen Überblick gewähren über die leitenden Gedanken und über die praktischen Bestrebungen, die die geistig Freien beschäftigt haben in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Unter der Frühzeit der Aufklärung sind jene Jahrzehnte zu verstehen, die der Ausbildung und Verbreitung der leibniz-wolffischen Philosophie vorausgegangen sind seit dem Auftreten des CHRISTIAN THOMASIUS in Leipzig, also die Jahrzehnte von 1690 bis 1720. Gegenüber der nachfolgenden Zeit charakterisiert diese Frühzeit eine größere Ungebundenheit der Anschauungen. Welt- und Lebensanschauung sind noch nicht in ein fest umrissenes System gebracht, dessen Verbindlichkeit zu allgemeingültigen Maximen und zu objektiven Anschauungen von Gott und der Trefflichkeit der Welt geführt haben. Es zeigen sich vielmehr Ansätze zu einer viel subjektiveren Auffassung der Dinge, und es entsteht damit die Frage, welche Kräfte diese glücklichen Keime nicht haben zur Blüte kommen lassen, welche retardierenden [verzögenernden - wp] Momente dieser jungen Bewegung gegenüber die objektivistischen Tendenzen der Aufklärung von WOLFF bis LESSING zum Sieg geführt haben. Der geistige Entwicklungsgang von CHRISTIAN THOMASIUS mag zur Klärung dieser Frage einige Hinweise geben.

Man hat CHRISTIAN THOMASIUS den Vater der deutschen Aufklärung genannt. Sicherlich ist er derjenige gewesen, der den Hebel angesetzt hat, durch den die Bewegung der Aufklärung in Deutschland ausgelöst worden ist. Nun ist jede Bewegung des geistigen und kulturellen Lebens in ihren Anfängen radikal. Sie muß es sein, um sich zunächst einmal gegen die übermächtigen Momente der Beharrung durchzusetzen. Aber dieser Radikalismus des Anfangs ist nicht charakteristisch für die Bewegung selbst. Die Erfahrung lehrt, daß er ganz von selber in Wegfall gerät, sobald sich das Wahre und Lebensfähige der Bewegung durchgerungen hat. In dem Augenblick tritt eine Klärung ein, und es wird alles abgestoßen, was übers Ziel geschossen ist, oder wozu die Zeit noch nicht reif erscheint.

CHRISTIAN THOMASIS war eine Kampfnatur. Sein erstes Auftreten war das eines geistigen Revolutionärs. Aber er mußte erst seine eigene Individualität finden, um zur Initiative des Handelns zu gelangen. In jungen Jahren finden wir THOMASIUS noch gebunden in herrschenden Anschauungen der Leipziger Universität, in deren Welt er aufgewachsen ist. Und diese Welt sah der mittelalterlichen Welt des Geistes in vielen Stücken noch überraschend ähnlich. Die Theologie genuß eine unantastbare Vorrangstellung unter allen Wissenschaften; und war es auch die Theologie der neuen protestantischen Kirche der Reformation, so waren doch auch in dieser alle Auffassungen wieder derart in Dogmen festgelegt, daß der alte Autoritätszwang in der neuen Kirche nicht weniger herrschte, als er je in der alten geherrscht hatte. Die Lehren der Dogmatiker waren einseitig, biblisch orthodox. Sie wurden biblisch anders gerichteten und sonstigen freieren Meinungen nicht gerecht. Sie erhoben den Anspruch auf widerspruchslose Allgemeingültigkeit für jeden, der guter Christ sein wollte. Als solchen sah man aber nur den evangelisch-lutherischen an.

Die Philosophie, die allein von der kirchlichen Orthodoxie anerkannt wurde, war die Neuscholastik des FRANZ SUAREZ, die von 1620 bis 1690 die protestantischen ebenso wie die katholischen Universitäten ausschließlich beherrscht hat. Wie die mittelalterliche Scholastik erkannte sie in ARISTOTELES den großen Meister allen philosophischen Denkens an, ja sie macht das Bekenntnis zu ihm fast schon zu einem moralischen Postulat. Es war noch keine hundert Jahre her, daß man jeden jungen neuen Gelehrten sich schriftlich zur Lehre des Aristoteles verpflichten ließ. Kein anderer als THOMASIUS selbst hat auf diese Tatsache in seinen Schriften hingewiesen. War die schriftliche Erklärung, nie etwas gegen das geheiligte Wort des Aristoteles sagen zu wollen, auch fortgefallen, der Geist dieser Verpflichtung herrscht auch noch, da THOMASIUS in Leipzig in die Wissenschaften eingeführt wurde.

THOMASIUS selbst stammte aus einem Leipziger Professorenhaus. Durch seinen eigenen Vater wurde er in die Schriften des HUGO GROTIUS eingeführt. Wenn dieser Unterricht auch gewiß in keiner Weise gegen die herrschenden Anschauungen der Leipziger Orthodoxie verstoßen haben wird, so werden wir doch in Betracht ziehen müssen, daß eben GROTIUS der erste gewesen ist, der das Kirchen- vom Naturrecht unterschieden hat und nur für das erste die Tatsachen der Offenbarung gelten ließ. Bald zog dann auch das berühmte Werk über das Natur- und Völkerrecht von SAMUEL PUFENDORF die Aufmerksamkeit des jungen THOMASIUS auf sich. Anfangs wehrte er sich noch gegen die vielbestrittenen Anschauungen dieses modernen Gelehrten. Und als er 1675 selbst begann, in Frankfurt an der Oder akademisch zu unterrichten, sah er es noch als seine Aufgabe an, die Anschauungen PUFENDORFs zu bekämpfen. Ein Jahr zuvor war PUFENDORFs "Apologie" erschienen. THOMASIUS lernte sie in Frankfurt kennen. Sie übte den entscheidensten Einfluß auf ihn aus. Von einem Gegner wurde er nunmehr zu einem Anhänger PUFENDORFs und der entschiedenste Verfechter seiner Anschauungen unter den akademischen Lehrern Deutschlands.

Durch die Beschäftigung mit PUFENDORF war THOMASIUS zu der Einsicht gelangt, daß man sich durch keine menschliche Autorität binden lassen darf, sondern selbst untersuchen und entscheiden muß. Sein eigenes selbständiges geistiges Leben hatte damit begonnen, daß er es wagte, seinem eigenen Urteil zu folgen. Nun erst fühlte er sich innerlich frei geworden und faßte den Entschluß, fortan in seinen Überzeugungen nur sachlichen Gründen, nie aber der Autorität eines Menschen zu folgen. Auch PUFENDORF sollte in der Folge nur sein "Anführer", nicht aber sein "gebietender Herr" sein. Als er sich durch seinen Anschluß an PUFENDORF vom Joch der Autorität frei gemacht hatte, begann er auch über manche andere Fragen, die nur durch das Herkommen und die Gewohnheit entschieden waren, nachzudenken. Als den Grundirrtum erkannte er die Vermischung der kirchlich-religiösen mit den rein wissenschaftlichen Fragen, die "Mixtur" oder den "Mischmasch" der Theologie und der Philosophie. Die Bekämpfung der Vorurteile, der unbegründeten Autoritäten, sah er von da an als die Aufgabe an, die er im deutschen Geistesleben zu erfüllen hat. Und die Erfüllung dieser Aufgabe hat ihm die geschichtliche Stellung gesichert, die er als Vater der Aufklärung gewonnen hat.

Dadurch, daß THOMASIUS in seiner Zeit begonnen hat, mit dem Vorurteil der Autorität aufzuräumen - wer könnte da behaupten, daß die Aufgabe schon heute erfüllt wäre? -, hat er die Tür offen gestoßen und den Weg ins Freie gewiesen, den die deutsche Aufklärung nach ihm beschritten hat. Die gefährlichste Autorität, die er in seinen Tagen vorfand und die jede freie und unabhängige Regung des Geistes zu unterbinden drohte, erkannte er in ARISTOTELES. Den Glauben an die unantastbare Richtigkeit der aristotelischen Philosophie zu zerstören hat er kein Mittel der Überredung und der satirischen Verunglimpfung gescheut, dabei gelegentlich auch übers Ziel schießend. THOMASIUS wird nicht müde, ARISTOTELES als die Quelle der Irrtümer und den Einfluß seiner Philosophie als die stetige Nahrung des Vorurteils zu verkünden. Denn mit ihm hat die Neuscholastik des 17. Jahrhunderts die Vorstellung großgezogen, als sei das Wesen des Menschen allein im Verstand und sein höchstes Glück im Spekulieren zu suchen. Den allzu einseitig rationalistischen Tendenzen finden wir den Vater der Aufklärung aber durchaus abgeneigt. Er verwirft jedes rein spekulative System des bloßen Denkens, da doch der Umgang mit lebendigen Menschen, selbst mit Toren viel mehr Nutzen bringt. Er tut gelegentlich den kecken Ausspruch: Gelahrtheit bestände nicht in der Kenntnis vieler Dinge, die der Pöbel nicht weiß, sondern darin, daß man vieles nicht weiß, was die Gelehrten wissen. In vielem werden wir so beim jungen THOMASIUS an Auffassungen erinnert, die für die Tage GOETHEs in Straßburg charakteristisch waren. Dazu paßt auch, daß die Neigung zum Praktischen THOMASIUS bald den Bestrebungen der Pietisten nahebringt. Die mathematische Art des Denkens eines DESCARTES lehnt er vollends ab, wenn er auch gelegentlich diesem Philosophen ein Wort der Anerkennung nicht versagen kann. Doch DESCARTES ist ihm schon viel zu radikal in seinem Zweifel. THOMASIUS ist ein Revolutionär, aber er ist kein Zerstörer. Es zeichnet ihn viel eher ein Zug zum Positivisten aus. Er weiß wohl, daß die Vorurteile zerstört werden müssen und daß diese Zerstörung mit dem Zweifel beginnt, aber doch nicht mit dem Zweifel an allem, wie bei DESCARTES. Es gibt Tatsachen, an denen nach THOMASIUS ein vernünftiger Mensch nicht zweifeln darf, nämlich die Tatsachen des gesunden Menschenverstandes. THOMASIUS will keinen Skeptizismus und er will keine Autoritätslosigkeit, er will nur keine geistige Vergewaltigung durch das Prinzip der falschen Autorität. Er will Begründung und Belehrung durch Ratschlag und Überzeugung, nur nicht durch Befehl.

Zeichnen wir so das Bild des THOMASIUS, wie er in bleibender Bedeutung für die Geschichte des deutschen Geistes geworden ist, so mag es freilich mehr dem des reifen und fertigen Mannes entsprechen als dem des jungen Brausekopfes, der 1680 von Frankfurt nach Leipzig zurückkehrte und sich im folgenden Jahr als Privatdozent der Rechte an der dortigen Universität niederließ. Wir sehen ihn in den folgenden Jahren in einen Kampf mit den herrschenden Männern der Leipziger Universität geraten, der an Kühnheit und fast an Unmöglichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Als eine Handlung von symbolischer Bedeutung für die Geschichte der Popularisierung der Wissenschaften im Sinne der Auflärung sind wir gewohnt, die Tatsache aufzufassen, daß er 1687 am schwarzen Brett der Universität eine Vorlesung mit einem Programm in deutscher statt der damals an der Universität allein geltenden lateinischen Sprache ankündigte, und daß er damals auch eine Vorlesung in deutscher Sprache gehalten hat. Nicht anders werten wir die Gründung der ersten gelehrten Monatsschrift in deutscher Sprache, durch die THOMASIUS die gelehrte Welt im Januar 1688 überrascht hat. Er hatte sich damit ein Organ geschaffen, das ihm als Mittel zum Kampf gegen Autoritäten, die ihr Ansehen nicht verdienen, gegen die Scharlatanerie der Gelehrten, wie es BURKHARD MENCKE hernach nannte, treffliche Dienste leistete. Die satirische Schreibart bereitete ihm aber immer mehr Feinde. Vor allen Dingen geriet wer mit den Professoren CARPZOW und ALBERTI in einen Streit, der seine Stellung an der Leipziger Universität immer unhaltbarer machte. Mit welchen unanständigen Mitteln der Kampf von der Gegenseite geführt worden ist, hat LUDEN in seiner Biographie des THOMASIUS ausführlich dargestellt. Es ist hier nicht der Ort, darauf näher eingehen zu können.

THOMASIUS sah sich schließlich im Jahr 1690 genötigt, Leipzig zu verlassen. Er fand unter dem Schutz des Kurfürsten FRIEDRICH III. von Brandenburg eine Unterkunft als Lehrer der Ritterakademie zu Halle. Schon der Große Kurfürst hatte den Plan gefaß, eine Heimstätte zu gründen für alle ohne Unterschied des Bekenntnisses oder der Nation, die um ihres Glaubens willen in ihrem Vaterland sich beengt fühlten oder verfolgt werden und, der Tyrannei müde, nach der Freiheit seufzen, eine Schule zu schaffen, in der alle Sprachen und alle Wissenschaften gelehrt werden und das ganze praktische Leben seinen Ausdruck findet. Dieser Plan wurde von seinem Nachfolger, der jeden liebte, der frei und offen seine Meinung ausgesprochen hat und dieselbe in die Schranken trat, wenigstens zum Teil ausgeführt, als die Ritterakademie zu Halle 1693 zur Universität erhoben wurde. Für diese Neuschöpfung war ein Mann wie THOMASIUS mit seinen ausgesprochen praktischen Interessen bei der Bildung der jungen Akademiker von großem Wert. War es THOMASIUS doch besonders darum zu tun, keine pedantischen Gelehrten zu erziehen, sondern gebildete junge Männer von Welt, die vor allem als Juristen auch über die für ihre künftige Staatsstellung erforderlichen Formen im Umgang mit Menschen verfügen.

Er hatte sich schon in Leipzig dazu angeboten:
    "einen jungen Menschen, der sich vorgesetzt hat, Gott und der Welt in vita civile [bürgerlichen Leben - wp] rechtschaffen zu dienen und als ein honnéte [ehrbarer - wp] und galant homme [höflich zuvorkommender Mensch - wp] zu leben, binnen drei Jahren in der Philosophie und singulis juris prudentiae partibus [Jeder Mensch hat das Recht der Klugheit teilhaftig zu werden. - wp] zu informieren."
Zu diesem Zweck wollte er ihn unterrichten in Logik, Geschichte, insbesondere der Philosophie, Ethik, Politik, Ökonomie, Galanterie, Oratorie [Rhetorik - wp] und Jurisprudenz. Dabei ist ihm Logik "die Anleitung zu räsonnieren [argumentieren - wp] und die Säuberung des Kopfes von Vorurteilten", Ethik "die Kunst, angenehm zu leben", Politik ist "die Lehre vom Verhalten der Menschen zum Staat und zu den anderen Menschen". Dieses muß auf Klugheit und Menschenkenntnis errichtet sein. Die Klugheitslehre ist ihm daher stets ein besonderer Gegenstand des akademischen Unterrichts gewesen. Für den "politischen Menschen" legte er ferner das größte Gewicht auf die Beherrschung der Wissenschaft, "anderer Menschen Gemüt zu erkennen".

Zwei Jahre später als THOMASIUS siedelte auch AUGUST HERMANN FRANKE von Leipzig nach Halle über. Wie THOMASIUS als Vertreter der jungen Aufklärung, war FRANKE als Vertreter der modernen pietistischen Bewegung mit den Orthodoxen von Leipzig in Streit geraten. Wie THOMASIUS hatte er der brutalen Macht in Leipzig weichen müssen, wie THOMASIUS hatte er in Halle unter der schützenden Hand FRIEDRICHs III. eine Zuflucht gefunden. Sollte THOMASIUS der führende Geist der jungen Aufklärung an der neuen Universität werden, so war es FRANKE vorbehalten, die führende Persönlichkeit zu werden in der praktischen Bewegung des Pietismus [Reformierung des Protestantismus - wp], die in Halle eine Stätte gefunden hat. Eine gewisse Schicksalsverwandtschaft verband die junge Aufklärung mit dem jungen Pietismus. Aber auch in der Auffassung traten viele verwandte Züge zwischen dieser und jenem zutage. Gegenüber der unfruchtbaren Gelehrsamkeit in der dogmatischen Theologie entwickelte sich im Pietismus ein Zug praktischer Religiösität, wie THOMASIUS diesen praktischen Zug gegenüber der von einer herrschenden Theologie abhängigen Rechtswissenschaft vertreten hat. Auch bei den Pietisten zeigt sich der Kampf gegen ARISTOTELES und die Abneigung gegen das mathematische Beweisverfahren und die mechanische Weltanschauung des DESCARTES. THOMASIUS umgekehrt erwie sich in seinem Kampf gegen alle ungeprüften menschlichen Autoritäten, wie in seinem Anti-Intellektualismus, der den Vorrang des Denkens im menschlichen Wesen ablehnte, als ein echter Protestand und Erbe LUTHERs. Es war gewiß kein Zufall gewesen, daß er FRANKE bei seinem Kampf gegen die Leipziger Universität auch mit juristischen Gutachten praktisch zur Seite gestanden hatte. In seinen journalistischen Kämpfen gegen Pedanterie und Vorurteil hatte er sich des Pietismus öffentlich angenommen. Den Pietisten war dieser Mitstreiter nicht gerade bequem. Seine aggressive und satirische Art schien der pietätvollen Weise, zu der sie sich bekannten, fast diametral entgegengesetzt zu sein. Bald aber sollte sich zeigen, daß THOMASIUS ihnen auch im Wesen und nicht nur in den Anschauungen viel näher stand, als sie angenommen hatten.

THOMASIUS selbst stand vor einem Wandel. Schon in den letzten Stücken seiner Monatsschrift hatte er im Jahr 1689 seinen Ton geändert. Er wurde ernster und milder. Ohne seine bisherigen Überzeugungen aufzugeben, bedauerte er doch die Art, mit der er sie bisher vertreten hatte. In seiner "Kurzen Abfertigung" von 1693 erklärt er, Gott habe ihm vor einiger Zeit die Gnade erwiesen, ihm die Eitelkeit der satirischen Schreibart zu erkennen zu geben, und so habe er sich vorgenommen, zu zeigen, wie diese, auch wenn sie sich in Schranken hält, dem göttlichen Wort und den Regeln des Christentums zuwiderläuft. War THOMASIUS bisher kein Gegner des Pietismus gewesen, so war er in seiner unabhängigen Art geistiger Auffassung doch nichts weniger als ein Pietist gewesen. Mit der Wandlung, die bei Beginn der 90er Jahre in ihm einsetzt, wendet sich THOMASIUS aber immer mehr dem Pietismus zu. Zehn Jahre hat er in dieser pietistischen Haltung verharrt, ehe er wieder zu einer freieren geistigen Haltung zurückgekehrt ist. Wie ein Pendel, das zu weit nach der einen Seite ausgeschlagen hat, ebensoweit nach der entgegengesetzten Seite ausschlagen muß, ehe es wieder in den ihm gemäßen Gang inneren Gleichgewichts gelangt, muten uns diese wechselnden Schwingungen in der geistigen Entwicklung des THOMASIUS an. Bitter geht der kühne Verfechter freier Geistigkeit in seinen "Ostergedanken von Zorn und bitterer Schreibart" 1694 mit sich selbst ins Gericht. Wir glauben den unabhängigen Kämpen, der der Aufklärung den Weg bereitet hatte, gar nicht wiederzuerkennen. Die Keime eines jungen Subjektivismus [begin/nato-suob], der weit über die objektivistischen Tendenzen der späteren Aufklärung hinausgriff und zuweilen ein Vorbote der Auffassungsweise der 70er Jahre des kommenden Jahrhunderts zu sein schien, sind vernichtet. Die Ostergedanken von 1694 sind die furchtbarste Kapitulation des vorzeitigen Subjektivismus, zwar keine Kapitulation vor der bisher bekämpften Orthodoxie, aber eine Kapitulation vor dem Pietismus, der einen Grad seelischer Unabhängigkeit, wie er durch THOMASIUS bisher verkörpert worden war, nicht ertragen hat. Hier wird die verhängnisvolle Bedeutung des Pietismus für die Geschichte der Aufklärung sichtbar. Der Pietismus hat mit seinen religiösen Anschauungen die objektivistische Tendenz der deutschen Aufklärung bestimmt, die durch das philosophische System CHRISTIAN WOLFFs festgelegt war, einer Aufklärung, die in ihren Anfängen nichts weniger als objektivistisch gerichtet war. Wäre dieses aufhaltende Moment in der persönlichen Entwicklung des THOMASIUS nicht aufgetreten, wir hätten uns vielleicht schneller jener seelischen Haltung genähert, die das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts als eine hohe Zeit deutscher Kultur hat aufleuchten lassen. Aber es war vielleicht besser so. Es wäre sonst eine sprunghaft übereilte Entwicklung geworden, während durch den wirklichen Gang der Dinge eine reale Unterbauung jener Kultur geschaffen worden ist, die auf diese Weise davor behütet blieb, nur zu einer Scheinblüte deutschen Geisteslebens zu werden.

Das Verhältnis des THOMASIUS zum Pietismus hatte dadurch noch eine besondere Betonung erfahren, daß er sich seit dem Jahr 1694 einem Mystizismus und damit der radikalsten Strömung innerhalb des Pietismus zugewandt hatte. Es war die Bewegung des sogenannten "Enthusiasmus", der PHILIPP SPENER abhold war, und wie sie vor allem von GOTTFRIED ARNOLD vertreten worden ist. THOMASIUS ist besonders für ARNOLDs Hauptwerk "Die unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie" eingetreten, die freilich den Orthodoxen ein Dorn im Auge und insofern der Bewegung der Aufklärung nicht zuwider war. THOMASIUS hatte ARNOLDs Werk für das nützlichste Buch nächst der Bibel gehalten, und er mag besonders den gebildeten Deutschen außerhalb der pietistischen Kreise die Kenntnis und Wertschätzung dieses Buches vermittelt haben, das eine Wirkung wie wenige im 18. Jahrhundert ausgeübt und seine Schatten noch in die Jugend GOETHEs geworfen hat. Und wieder werden wir auch an die Jugend GOETHEs erinnert, wenn wir die Schrift zur Hand nehmen, die THOMASIUS unter dem Titel "Vom Wesen des Geistes" hat erscheinen lassen. THOMASIUS vertritt hier mit der mystischen Frömmigkeit die Naturphilosophie, die vom Neuplatonismus und der mittelalterlichen jüdischen Kabbala ausgegangen ist, und die im 16. Jahrhundert ihren Ausdruck in AGRIPPA von NETTESHEIM, THEOPHRASTUS PARACELSUS und VALENTIN WEIGEL gefunden hat, im 17. Jahrhundert in JAKOB BÖHME und seinen Geistesverwandten, vor allem aber in England im Alchimisten ROBERT FLUDD und den Mystikern BROMLEY und PORDAGE. Es würde noch viel mehr überraschen, THOMASIUS als den Vater der Aufklärung auf diesen Pfaden zu finden, wenn nicht so manche andere Züge in seinem Wesen vielfach über die Auffassungsweise der späteren Aufklärung hinausweisen würden. Aber einem erleuchteten Geist wie LEIBNIZ mochte diese Philosophie des THOMASIUS, die von der aufstrebenden Naturwissenschaft schon überholt zu werden begann, wohl als silvestris et antipodialis [wild und auf einem entgegengesetzten Standpunkt stehend - wp] erscheinen.

Mit Beginn des neuen Jahrhunderts sollte die mystische und pietistische Periode im Leben des THOMASIUS ihr Ende erreichen. Persönliche Verstimmungen zwischen THOMASIUS und FRANKE mögen den Anstoß gegeben haben. FRANKE nahm es THOMASIUS, der immer ein Mann von Welt geblieben ist, übel, daß er im Modekleid mit Degen und zierlichem Gehänge, wie er sich ausdrückte, das Katheder besteigt. Als FRANKE die Gattin des THOMASIUS sogar in öffentlicher Predigt des Kleiderluxus bezichtigte, da wurde der Bruch offenbar. In einem Gutachten über FRANKEs Pädagogium [Bildungseinrichtung mit überdurchschnittlichen Leistungsanforderungen - wp] und Waisenhaus sprach THOMASIUS 1699 aus, daß es bei äußerlicher Zucht doch nur Heuchelei, Hochmut und Unbrauchbarkeit zum öffentlichen Leben großzieht. Zu diesem Urteil mochte THOMASIUS freilich weniger eine persönliche Verstimmung gebracht haben als das höchst sonderbare Treiben, in dem der "Enthusiasmus" der Pietisten um die Jahrhundertwende ausartete. Man hatte THOMASIUS Lebensbeschreibungen frommer Männer und Frauen, besonders auch das Leben der heiligen Theresia, empfohlen. Als er aber hier las, wie die Heilige, in der Meinung, es sei in allem ihrem Vorhaben noch zuviel Vernunft und eigener Wille gewesen, sich den unterwürfigsten und brutalsten Mönch zum Leiter ihres Gewissens gewählt hat, da glaubte er die ganze Gefährlichkeit der pietistischen Mystik zu erkennen. Deutlich hat sich THOMASIUS gegen die mystische Theologie freilich erst 1707 in der Vorrede seiner deutschen Übersetzung von HUGO GROTIUS' Hauptwerk ausgesprochen. Die patristischen Schriften des arminianischen Gelehrten JOHANNES CLERIEUS hatten ihn weiter in seiner neuen Erkenntnis gefördert. CLERIEUS, der nahe Freund JOHN LOCKEs, hatte ihn auch mit dessen "Abhandlung über den menschlichen Verstand" bekannt gemacht. Dieses Buch, das THOMASIUS wahrscheinlich in der französischen Übersetzung kennenlernte, vor allem aber das Kapitel "Von dem Enthusiasmus", das erst in der vierten Auflage von 1699 neu hinzugekommen war, hat THOMASIUS nach wiederholtem eigenen Geständnis von den mystischen Gedanken befreit und ihm eine feste Handhabe zu ihrer Bekämpfung in den Anfangsjahrzehnten des neuen Jahrhunderts gegeben.

LOCKEs Kapitel "Von dem Enthusiasmus" ist also ebenso, wo nicht noch entscheidender für die Entwicklung des THOMASIUS geworden als die "Apologie" PUFENDORFs. Es hat THOMASIUS der Aufklärung zurückgegeben, es bedeutet damit einen Markstein in der Entwicklung der frühen Aufklärung selber. Von da an bis zu seinem Tod im Jahr 1728 hat THOMASIUS mit umso größerer Überzeugungskraft die aufklärerischen Gedanken seiner Jugend vertreten. Er war diesen Gedanken ja niemals untreu geworden, sie hatten sich im Jahrzehnt von 1690 bis 1700 nur in einer Gebundenheit gezeigt, die die Keime einer mehr als aufklärerischen Haltung im Sinne des späteren Subjektivismus nicht mehr zur Entfaltung gelangen ließen. Und schließlich hatte der mystische Pietismus doch auch die Fortentwicklung der aufklärerischen Gedanken seiner Jugend brachgelegt. Nach der Befreiung von der Bindung der 90er Jahre entfalteten sie sich aber wieder ungehemmt und umso wirkungsvoller, als sie vom unreifen Radikalismus der Jugend ihrer selbst und ihres Vertreters nicht mehr gestört wurden.

In diese Jahre fällt auch das Auftreten des THOMASIUS gegen die Vorstellung von der leibhaften Erscheinung des Teufels. In der Geschichte der Aufklärung wird man dieser Tatsache Bedeutung beimessen, für die literarische Entwicklung sollte sie aber noch von besonderen Folgen sein. Mit der Vorstellung von der leibhaften Erscheinung des Teufels fiel auch die Ansicht, daß Menschen mit diesem einen Pakt zu schließen vermögen, durch den sie Hexen und Zauberer werden können. Die Überlieferung vom Doktor Faust sank damit zu dem herab, was sie wirklich war, zu einer Sage, deren ernsthafte literarische Behandlung in den Augen des aufgeklärten Menschen des 18. Jahrhunderts so lange eine Unmöglichkeit blieb, als dieser sich nicht zu jenem höheren subjektivistischen Standpunkt emporgehoben hatte, der es ihm erlaubte, an der Sage um ihrer selbst willen und als dem symbolischen Ausdruck einer mehr typischen als individuellen Wahrheit sich zu erfreuen. Äußerlich aber erwies sich das Verdienst des THOMASIUS darin, daß die Zerstörung des Vorurteils vom Hexenglauben den Weibern, wie FRIEDRICH der Große sich ausgedrückt hat, das Recht vindizierte [zusprach - wp], in aller Sicherheit alt zu werden. War THOMASIUS auch nicht der erste, der gegen den Hexenwahn aufgetreten ist, so hat er es doch mit größerem Erfolg getan als irgendeiner vor ihm. Er hat in diesem Punkt zur Aufklärung der allerbreitesten Kreise des deutschen Volkes beigetragen.

Fassen wir die Gesamtansicht des THOMASIUS zusammen, dann stellt sie eine merkwürdige Mischung von Empirismus und Rationalismus dar. Wahrheit ist für ihn die innere Übereinstimmung menschlicher Gedanken unter sich und mit der Natur der Dinge außerhalb der Gedanken. Wahrheit ist ihm nicht das, was vieler subtiler Abstraktionen bedarf, sondern das, dessen Wahrheit jeder in sich fühlt, wenn er nur auf sich etwas aufmerksamer sein will. Wahrheit stimmt für ihn überein mit dem allgemeinen Menschenverstand. Angeborene Begriffe leugnet THOMASIUS ab, denn der Verstand ist ihm nach dem Sündenfall ein unbeschriebenes Blat, das erst Eindrücke aufnehmen soll. Die bei DESCARTES und seiner Schule beliebte Methode mathematischer Demonstration lehnt er ab, weil sie das Selbstverständliche beweisen will, wie auch, weil sie ebenso wie der Enthusiasmus des radikalen Pietismus zu Irrtümern zu führen droht.

Die praktischen Anschauungen des THOMASIUS haben zu jener Glückseligkeitslehre geführt, die nach ihm fast ein Jahrhundert in Deutschland geherrscht hat. Sie ist bei THOMASIUS zu erklären aus der Opposition gegen eine Richtung, die zur Vernachlässigung aller Lebensbeziehungen geführt hatte und die der menschlichen Natur mit Dogmen und Betäubungen Genüge zu tun vermeint hatte. Der Lasterhafte, erklärt THOMASIUS, lebt unangenehm, angenehm hingegen nur der Tugendhafte; Tugend schließt aber den vernünftigen Genuß des Lebens nicht aus. In dem Fundamentum juris naturae et gentium ex sensu communi deducta vom Jahr 1705 führt THOMASIUS aus: Glücklich ist das Leben, wenn es gerecht, anständig und ehrbar ist. Der Gerechte tut keinem andern das, wovon er nicht wünscht, daß der andere es ihm tut. Der Anständige tut dem andern das, wovon er wünscht, daß er es ihm tut. Der Ehrbare tut sich selbst das, was der andere sich selbst tut, und was er an ihm löblich findet. Die Lehre von der Gerechtigkeit ist nach THOMASIUS das Naturrecht, die Lehre von der Anständigkeit die Politik, die Lehre von der Ehrbarkeit die Ethik. Die Gesetze über das Gerechte und Anständige nennt er auch die Gesetze des äußeren, die Gesetze über das Ehrbare die des inneren Friedens. Mit den ersteren ist die Gewalt verbunden, jedoch nur für die Toren, die Weisen bedürfen nur des Rates.

Nachdem CHRISTIAN THOMASIUS Leipzig verlassen und seine Lehrtätigkeit nach dem aufstrebenden Halle hatte verlegen müssen, war es der Professor JOHANN BURKHARDT MENCKE, der Gründer der Deutschübenden-poetischen Gesellschaft in Leipzig, der dort den neuen Geist der jungen Aufklärung vertreten hat und wie ein Statthalter des vertriebenen THOMASIUS wirkte, bis sein Schützling JOHANN CHRISTOPH GOTTSCHED im Jahr 1724 nach Leipzig kam und alsbald an der Universität die neue Philosophie der Aufklärung zu lehren begann. GOTTSCHED stand aber bereits unter dem Einfluß des philosophischen Systems, das CHRISTIAN WOLFF den aufklärerischen Gedanken gegeben hatte. Für WOLFF und GOTTSCHED war dabei das Auftreten von LEIBNIZ schon von Bedeutung geworden. Gegenüber THOMASIUS verkörperten LEIBNIZ, WOLFF und GOTTSCHED eine jüngere Generation und eine veränderte seelische Haltung, die zu einer zweiten Stufe in der Entwicklung der Aufklärung führt, deren Frühzeit damit überschritten ist.

In dieser Frühzeit aber wirkte, fern von den Geisteskämpfen an den Universitäten Leipzig und Halle und doch auch noch in sächsischen Landen, ein Mann als Schulrektor in Zittau, der in seinen Komödien beweist, daß die für diese frühe Zeit der Aufklärung bezeichnenden Ansätze zu einem gelegentlichen Subjektivismus der Auffassung dann doch mehr in der Zeit lagen, als daß sie lediglich individuelle Eigenschaften des THOMASIUS allein gewesen sind. Dieser Mann war CHRISTIAN WEISE. Er hatte mit THOMASIUS als Lehrer gemeinsam das Streben, die ihm anvertraute Jugend zum praktischen Leben tüchtig zu machen. Die Aufführung der von ihm geschriebenen Schuldramen sollte wesentlich dazu dienen, den jungen Leuten Gewandtheit im öffentlichen Auftreten und Sprechen zu geben. Wie THOMASIUS die engen Schranken des Zunftgelehrtentums überschritten hat und durch seine deutschen Vorlesungen und seine deutschen Schriften zu einer Popularisierung der Wissenschaften beitrug, so sah WEISE im Gegensatz zum Kunstdrama den aufklärerischen Nutzen der Dramatik in der Pflege des Volksdramas. Wenn er dabei vom Vers zur Prosa überging und mit dem unglückseligen Alexandriner gebrochen hat, so steht er dabei LESSING und der Dramatik des Sturm und drang näher als GOTTSCHED, dem es gelang, das Leben dieses undramatischen aller deutschen Versmaße noch einige weitere Jahrzehnte künstlich zu erhalten. Aber auch dem Inhalt nach zeigen WEISEs Stücke ausgesprochene Züge, die bereits mit den Auffassungen der fortgeschrittenen Aufklärung des 18. Jahrhunderts übereinstimmen, wo nicht über diese hinaus weisen. Eines der interessantesten Dramen ist in diesem Zusammenhang WEISEs Schauspiel "Die unvergnügte Seele", das hier - wie übrigens alle Beiträge dieses Bandes - nach zweihundert Jahren zum erstenmal wieder im Druck erscheint.

Vertumnus, der Held dieses Stücks, sucht vergebens das Vergnügen seiner Seele in der Liebe, in lustiger Gesellschaft beim Wein, in amtlicher Stellung, im Reichtum und im Kreis von Philosophen, die ihm die Weisheit der Alten predigen. Gerade diese Ablehnung der alten Philosophie, sowohl des Stoizismus, wie des Epikureismus, ist ein sicher in der Zeit bedingter Zug, der WEISE und THOMASIUS verwandt erscheinen läßt. Auch die Weisheit, die schließlich dem allen gegenüber im letzten Aufzug des Stückes gepredigt wird, läuft im Grund genommen auf die gleichen Anschauungen hinaus, die THOMASIUS vertritt. Das Vertrauen auf die bloße Vernunft wird verworfen. Die Ergänzung, deren eine rein rationalistische Auffassung auch nach der Ansicht des THOMASIUS bedarf, wird bei WEISE im "Christentum" gesehen. Und das Christentum bedeutet WEISE nicht nur die Verheißung künftiger, sondern auch der diesseitigen Glückseligkeit. Die Glückseligkeitstheorie der Aufklärung gipfelt in WEISEs Drama in dem banalen Vers:
    "Gott im Herzen, die Liebste im Arm,
    Eins macht selig, das andere macht warm."
Lehrt THOMASIUS nicht die Abtötung, wohl aber die Mäßigung der Affekte, so finden wir ausgesprochener als bei ihm bei WEISE schon die Lehre von einer Mäßigung, die auf das Ideal der Genügsamkeit hinausläuft, dem vor allem in der Dichtung der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehuldigt worden ist, jener Genügsamkeit, die soviel bedeudet wie kein Begehren über die Grenzen des gegebenen Möglichen hinaus. Sofern diese Weisheit religiös unterbaut ist, wie das bei WEISE der Fall ist, führt sie zu einem freiwilligen Sichabfinden mit den Fügungen des Schicksals, dem willigen Sichunterwerfen unter die Providenz [Vorsehung - wp] Gottes. Auf dieser passiven seelischen Haltung, die THOMASIUS noch fremd ist, die aber so bezeichnend erscheint für die moralischen Auffassungen der nächsten Jahrzehnte der deutschen Aufklärung, beruth das Lebensglück jenes vorbildlichen Paares, das der unvergnügten Seele in WEISEs Stück vorgehalten wird, das uns an "Philemon und Baucis" erinnert, bei WEISE dagegen die charakterisierenden Namen Contento und Quiete führt, denn die Bedingungen dieses Glücks sind Genügsamkeit und Unbeweglichkeit. Nur die letztere verbürgt die Beständigkeit der beseligenden Liebe.

Weist die Glückseligkeitslehre in gewissem Sinn schon über THOMASIUS hinaus und nimmt Auffassungen vorweg, die eigentlich erst nach THOMASIUS zur vollen Ausbildung gelangt sind, so liegt das psychogenetisch Interessante an diesem Drama doch in einer ganz anderen Erscheinung. Prüfen wir den Charakter des Vertumnus, wie ihn WEISE in seinem Drama gezeichnet hat, genau nach, so ergibt sich, daß ihm die Lehre des Contento und der Quiete ganz zu Unrecht vorgehalten werden. Sein Fehler ist gar keine Ungenügsamkeit gewesen. Er kennt nichts von der Unersättlichkeit des Lebensgenusses eines Faust, der mit dem übersteigerten Temperament des ausgehenden 18. Jahrhunderts Befriedigung in den verschiedensten Lebensverhältnissen sucht, ohne sie zu finden, wenn nicht im Wirken für die Menschheit. Vertumnus hat von sich aus nicht die Vergnügung seiner Seele gesucht bald in der Liebe, bald in lustiger Gesellschaft, bald im Amt, bald im Reichtum, bald in der Philosophie der Alten. Immer ist er durch andere, durch Freunde und Verwandte, in diese verschiedenen Lebensbedingungen ohne seinen Willen gebracht worden. Und seine Schuld, seine Ungenügsamkeit vor allem, ist es nicht, wenn er in keiner dieser Bedingungen die Beruhigung seines Gemüts gefunden hat. Die Schuld lag immer außerhalb von ihm. In der Liebe fand er ein Weib, das zänkisch und herrisch war, und dem die Lehre zu Ausgang des Dramas ganz anders gebührte als ihm. In der Geselligkeit fand er Freunde, die ihn bitter im Stich gelassen haben, als er durch sie in arge Leibesnot geriet. Im Amt sah er sich Anforderungen ausgesetzt, an denen er notwendig scheitern mußte, wenn er ihrer nicht mit einem sehr robusten Gewissen Herr werden konnte, und auch beim Reichtum und bei der Weisheit der Alten lagen die Ursachen seines Mißvergnügens nicht in ihm, sondern außerhalb, in den Dingen, die er auf seinem Weg vorgefunden hat.

Es ist eine sehr eigentümliche Erfahrung mit der Trefflichkeit dieser Welt, die Vertumnus in WEISEs Drama macht. Diese Trefflichkeit stimmt so absolut nicht überein mit dem Weltbild, das sich die Philosophie WOLFFs und die ganze auf ihr fußende Aufklärung des 18. Jahrhunderts gemacht hat. WEISEs Drama von der unvergnügten Seele ist in seinen Voraussetzungen nicht eine Dichtung des Optimismus, sondern eine Dichtung des bittersten Pessimismus. Und in dieser Stimmung tun sich Ansätze einer seelischen Haltung kund, die ebenso wie bei THOMASIUS schon über die seelische Haltung der Aufklärung hinauszuweisen scheinen. Der bezeichnendste Zug im Wesen des Vertumnus ist die Melancholie. Und wir fühlen: ein melancholischer Charakter in einer literarischen Schöpfung von 1688 ist zumindest etwas, was wir normalerweise nicht erwarten. Um ein individual-psychologisches Problem handelt es sich hier kaum. Ist die Melancholie aber typisch, dann ist sie zeitlich bedingt. Welche Bedingungen haben diesen melancholischen Charakter geschaffen?

Zur Beantwortung dieser Frage muß man wohl darauf hinweisen, daß sich der Pessimismus in der "Unvergnügten Seele" noch nicht zu einer Anklage gegen Gott und das Schicksal steigert. WEISEs Drama fehlt noch durchaus der bedeutendere weltanschauliche Hintergrund. Vertumnus hat es nicht wie Ugolino oder Karl Moor mit Gott, sondern nur mit Menschen zu tun. Die Menschen sind schuld an seinem Mißvergnügen. Aber die Menschen sind darum nicht anders, als sie in seiner Zeit sein müssen. Nur er kann nicht mit diesen Menschen leben, ohne unvergnügt zu sein. Er ist selbst nicht wie sie, er ist ein anderer, und wir werden sagen: er ist schon ein anderer. Vertumnus ist der Typus des Übergangsmenschen, der mit seiner eigenen Zeit nicht fertig wird.

Das Bezeichnende am Menschen um die Wende des 17. zum 18. Jahrhunderts ist seine rein individuelle Haltung. Jeder steht für sich isoliert da. Eine gefühlsmäßige Beziehung verbindet die Menschen noch nicht untereinander. Sie sind reine Verstandesmenschen, die nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben und den Mangel einer gefühlsmäßigen Beziehung nicht empfinden. Vertumnus aber ist anders. Er muß anhören, daß jemand ihm sagt:
    "Dessentwegen fällt mir wohl kein Zahn aus, wenn mich der Schwiegervater nicht haben will; und dessentwegen geht mir wohl das Krause aus den Haaren nicht, wenn die Frau sauer schaut. Und dessentwegen bricht mir wohl kein Bein entzwei, wenn die Freunde böse sind."
Er aber antwortet: "Ich habe ein zart Gewissen, ich kann so nicht denken." Darauf wird ihm erwidert: "So darf niemand Mitleiden mit ihm haben, wenn er unvergnügt ist." (III, 2)

Hier finden wir die Erklärung für sein Unvergnügtsein. Vertumnus ist nicht ungenügsam, aber er ist nicht mehr individuell unabhängig genug, um in dieser robusten Welt von Menschen leben zu können, die unbillige Forderungen an andere stellen oder sie rücksichtslos im Stich lassen und keine gefühlsmäßige Gemeinschaft mit ihnen bilden. Vertumnus erleidet die Tragik des unzeitgemäßen Menschen, und seine Melancholie ist die Krankheit seiner Übergangszeit, wie sie hernach in ähnlicher Weise der Graf Appiani in der "Emilia Galotti" erleidet. Nur überrascht uns diese Krankheit um 1688. Sie scheint reichlich früh zu erscheinen. Um einen Übergang wie den von der objektivistischen Aufklärung zum Subjektivismus der Sturm-und-Drang-Zeit kann es sich hier nicht handeln. Das Ziel des neuen Menschen, auf das Vertumnus weist, muß näher liegen. Und doch liegt es um nicht weniger als zwei Generationen entfernt. Die Zeit der Erfüllung dessen, wonach Vertumnus sich sehnt, bringt noch nicht die kommende Generation der LEIBNIZ, WOLFF und GOTTSCHED, sie bringt erst die Generation der 40er Jahre, in deren Mittelpunkt FÜRCHTEGOTT GELLERT steht.

Wir sind 1688 noch weit von dieser Veränderung der Dinge entfernt, aber schon bilden sich Strudel, und die Wasser des seelischen Ablaufs der Dinge geraten in Unruhe. "Die unvergnügte Seele" ist der erste Vorläufer jener größeren Erregung des Seelenlebens, von dem uns der Roman JOHANN GOTTFRIED SCHNABELs aus dem Jahr 1731 Kunde tut, da man sich ganz hinaussehnt aus dieser unzulänglichen Welt individueller Rücksichtslosigkeit und sich in der Phantasie eine neue Gemeinschaft baut auf der "Insel Felsenburg".

Ebenso ist WEISEs Drama ein Zukunftsweiser. Noch ist auch diese Welt der Erfüllung der 40er Jahre weit entfernt vom Subjektivismus der 70er Jahre. Und wenn der Pessimismus der Lebensstimmung in der "Unvergnügten Seele" erst recht weit entfernt ist vom Pessimismus der Weltstimmung jener 70er Jahre, so hat WEISE doch allerhand nachgedacht über das Schicksal und die Providenz Gottes, das nicht mit den Anschauungen der Aufklärung in den Tagen GOTTSCHEDs und selbst GELLERTs von der Trefflichkeit der Welt ganz in Einklang zu bringen ist. So sagt er in dem unten abgedruckten Vorbericht zu "Liebesallianz" über die Verfertigung und den Nutzen der Komödien, daß man durch sie wohl sieht, "was die göttliche Providenz bei vielen gefährlichen Ausschlägen [muß offenbar heißen: Anschlägen] im Ausgang vor eine Direktion gebraucht hat", doch er fügt hinzu: "Allein was viele Personen dabei gelitten, verloren und vergebens gesucht haben, das wird erst bekannt, wenn allerhand Spezialia hinzukommen."

Weisen uns solche Einschränkungen über die unerläßliche Anschauungsweise der Aufklärung hinaus, so teilt WEISE auch nicht unbedingt die Vorstellung seiner Zeit, daß es in der künstlerischen Betätigung nicht auf persönliche Fähigkeiten ankommt, und daß jeder alles lernen kann. Hier berührt er sich wieder mit schon fast subjektivistischen Anschauungen von der Befähigung des Einzelnen, die THOMASIUS in seiner Kunstanschauung und besonders in seiner Klugheitslehre bezeugt hat.
LITERATUR: Fritz Brüggemann (Hg.), Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung (Christian Thomasius und Christian Weise), Leipzig 1938