![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() | |||
Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart [3/7]
III. Der Begriff der Erkenntnis 1. Vorbemerkung Aufgrund der vorangegangenen Schilderung der allgemeinsten Tatsachen unseres Bewußtseinsverlaufs ist es nun möglich, dem Vorgang der Erkenntnis die ihm zukommende Stelle anzuweisen; daraus aber wird sich wieder die geneigte Grundlage für eine genauere Präzisierung des Begriffs der Erkenntnis gewinnen lassen. Es wird freilich zu diesem Zweck notwendig sein, andererseits auch eine gewisse Kenntnis der wissenschaftlichen Bestrebungen vorauszusetzen; denn an und für sich kann ja, wenn gar nichts vorweg angenommen wird, das Wort "Erkenntnis" wie jedes andere Wort der deutschen Sprache was auch immer bedeuten. Man wird daher nicht umhin können, von der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes auszugehen oder diese in mehr oder weniger deutlich ausgeprägten Umrissen sich beständig vor Augen zu halten. Die Aufgabe wird sich dann darauf beschränken müssen, den bereits vorgefundenen Begriff näher zu präzisieren, seine Stellung zu den psychischen Grundtatsachen zu umschreiben und die volle Tragweite seiner Bedeutung zu entwickeln. Es ist nach den vorausgegangenen Erörterungen ja bereits klar, daß die Entwicklung des Begriffs aufgrund des vorliegenden Tatsachenmaterials nicht in eindeutiger Weise möglich ist. Sie wird immer eine willkürliche Konstruktion bleiben müssen, bei der die Tatsachen nur den notwendigen Hintergrund abgeben. Die Rechtfertigung des aufgestellten Begriffs wird sich daher erst aus seiner Benutzbarkeit ergeben, und es wird daher notwendig werden, hernach auf seine Bedeutung in der Praxis des Denkens aufmerksam zu machen. Dies wird den Gegenstand eines oder mehrerer nachfolgender Abschnitte bilden müssen. Insofern sich der Erkenntnisakt als eine besondere Art einer übergeordneten Gattung allgemeinerer Vorgänge unterordnen läßt, folgt, daß für ihn auch all jene Momente charakteristisch sein müssen, die es für die ganze übergeordnete Gattung sind. Nun ist, wie an erster Stelle hervorgehoben worden ist, die allerallgemeinste Charakterisierung die gewesen, daß alles, was uns überhaupt zugänglich ist, sich uns in der Form psychischer Vorgänge darstellt. Somit ist auch die Erkenntnis zunächst als psychischer Vorgang zu betrachten. Aus dieser Notwendigkeit lassen sich bereits wichtige Folgerungen ziehen. Die unmittelbarste, selbstverständlichste und doch so oft mißachtete derselben ist die, daß die Elemente, mit denen die Erkenntnis operiert, und aus denen alles Wissen gebildet ist, von der Natur der uns bekannten und geläufigen psychischen Vorgänge sein müssen. Nur was als Inhalt unseres Bewußtseins uns bekannt ist, vermag als Baustein der Erkenntnis zu dienen. Wenn mir jemand eine Sache dadurch erklären wollte, daß er sie mir als etwas beschreibt, das mir aus meiner Erfahrung gar nicht bekannt ist, so hat er mir nichts erklärt. Das wäre gerade so, als wenn man einem Blinden unter Benützung der Ausdrücke "rote Farbe", "blaue Farbe" usw. etwas auseinandersetzen wollte. Das ist nun aber in der Geschichte der Philosophie sehr oft versucht worden. Es scheint, als ob ein eigenes Verhängnis den Menschen dazu antreiben würde, diese Schranke - wenn man das so nennen will - seiner Erkenntnis zu überschreiten, und ein Reden in Ausdrücken, die absolut keinen Sinn haben, als eine Erkenntnis zu betrachten. Ein bekanntes Beispiel dieser Art ist die "Wesenserklärung" der Seele als einfacher, unausgedehnter Substanz. Da mir eine solche aus meiner Erfahrung gar nicht bekannt ist, ist diese Erklärung keine Erklärung und nicht nur vollständig nichtssagend, sondern auch verwerflich aus dem Grund, weil sie weniger Urteilsfähige zu verwirren oder zu blenden imstande ist. Die Ausmerzung von derlei Sinnlosigkeiten bildet eine nicht unwichtige Aufgabe der Erkenntniskritik. Das Material dazu ist auch noch heute umfangreich genug. Der ganze mundus ingelligibilis [die intelligente Welt - wp] der Philosophen von den seltsamen Phantasmen PLATONs an bis zur Reserverolle, die er bei KANT spielt, gehört zu diesen absonderlichen "Abenteuern der Vernunft". Schon das Reden von der Denkbarkeit eines intuitiven Verstandes ist verwerflich, denn ein solcher ist für uns eben nicht denkbar. Ungereimtheiten werden stets die unvermeidliche Folge der Einführung derart unmöglicher "Möglichkeiten" sein, ja es können förmliche Scheinprobleme daraus erwachsen, wie die Geschichte der Philosophie reichlich lehrt. Von etwas zu reden, das nie Gegenstand meines Bewußtseins werden kann, ist demnach ganz und gar sinnlos. Verfehlungen gegen dieses Prinzip haben stets die Aufwerfung des "Problems" zufolge, wie denn dieses X, das als etwas meinem Bewußtsein Fremdes, für sich selbständig Existierendes, aufgefaßt wird, auf mich wirken kann. In der Anschauungsweise des gemeinen Mannes wie vieler Naturforscher und der sogenannten realistischen Philosophen - einschließlich KANTs - erscheint es als selbstverständlich, daß es außer mir Gegenstände gibt, die auf mich einwirken. Dem Kenner der Entwicklungsgeschichte der kantischen Philosophie ist es bekannt, was für eine Unmasse an Verwirrung aus diesem Begriff des "Dings-ansich" entstanden sind. Es unterscheidet sich aber KANTs Ding-ansich vom Ding-ansich der gewöhnlichen Auffassung des Lebens nur dadurch - daß es keine Eigenschaften hat. KANT hat eingesehen, daß es keine haben kann, nicht gesehen, daß ein Ding ohne Eigenschaften nicht mehr existiert, d. h. daß dieser Begriff ein hinfälliger, ein falscher, zu verwerfender ist. BERKELEY hatte da schon vor KANT recht gesehen.
Somit kann es unsere Erkenntnis nur mit möglichen Inhalten des Bewußtseins zu tun haben. Im Zusammenhang damit steht die bereits eingangs hervorgehobene Unmöglichkeit einer absoluten Erkenntnis in der zuerst von PLATON angestrebten Weise. Eine Erkenntnis kann nämlich nur dann einen Sinn haben, wenn sie in Ausdrücken abgefaßt ist, die Hinweise auf unsere psychischen Elemente bedeuten; eine davon unabhängige für Götter und andere Wesen in gesetzgebender Weise verbindliche Wahrheit bleibt ein Unding. Es gibt kein Reich ansich seiender Ideen. PROTAGORAS hat recht, wenn er seinen Ausspruch "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" so verstanden hat, daß alle Erkenntnis nur in Ausdrücken menschlicher Erfahrung, also in Bezug auf die Eigenschaften der Gattung Mensch möglich ist, so daß diese das unvermeidliche Bezugssystem bleibt, was eben die Bedeutung des Wortes "Maß" ist. Eine Erkenntnis, die es versuchen würde, mir Unbekanntes bekannt zu machen durch einen Vergleich oder eine Bezugnahme auf Nichtmenschliches, würde für mich nicht die Bedeutung einer Erkenntnis besitzen. Eine von der Erkenntnisweise des Menschen unabhängig gedachte Wahrheit ist dem Begriff nach unmöglich. Es dürfte vielleicht nicht überflüssig sein, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß die Forderung nach der Verwendung von nur erfahrbaren (d. h. psychischen) Elementen nicht zusammenfällt mit der Notwendigkeit der Einschränkung auf wirklich feststellbare Tatsachen. Die Annahme eines fremden Bewußtseins ist eine solche, die sich nie durch die Erfahrung bestätigen läßt; aber sie verstößt nicht gegen die erhobene Forderungf. Wenn der Naturmensch die Welt, die der Kulturmensch als unbelebt zu betrachten sich gewöhnt hat, als belebt ansieht, vergeht er sich nicht gegen die Forderung der Verwendung rein psychisch erfahrbarer Elemente; denn die Bewußtheit ist ein solches. Nicht konstatierbar durch die Erfahrung - und darum jenseits der Grenzen derselben gelegen - ist lediglich die Verbindungsweise, die der Naturmensch zwischen der Erscheinung der Bewußtheit als solcher und anderen aus der Erfahrung uns zugänglichen Elementen annimmt. Ferner ergibt sich aus der psychischen Natur einer jeden Erkenntnis die zunächst immer nur rein individuelle Bedeutung derselben. Wenn wir uns gewöhnt haben, nur von objektiver Wahrheit oder Erkenntnis zu reden, so darf doch nie vergessen werden, daß eine solche stets nur ein sekundäres Produkt einer weiteren Entwicklung sein kann. Bei ihrer Entstehung hat jede Erkenntnis nur Bedeutung für das Individuum, das sie geschaffen hat. Erst bei der Erfüllung gewisser Voraussetzungen erhält die Denkarbeit des einen Individuums eine Bedeutung für andere. Es ist sozusagen zufällig, daß so etwas überhaupt möglich ist. MACH nennt gelegentlich die Sprache "jenes wirkliche Wunder gegen welches das Spiritistenwunder nur eine Spottgeburt ist", und nicht mit Unrecht. Ich weiß zunächst gar nicht, ob es außer mir noch andere Ich überhaupt gibt. Mich geht nur das an, was ich erfahre; mein Leben beschränkt sich auf den Kreis meines Bewußtseins. Nichts, was außerhalb desselben liegt, kann für mich überhaupt eine Bedeutung beanspruchen. Komme ich daher - was nur auf dem Weg eines psychischen Vorgangs in meinem Bewußtsein möglich ist - zu irgendeiner Erkenntnis, so besitzt dieselbe zunächst nur Gültigkeit für mich selbst. Ja, noch mehr, sie besitzt auch für mich selbst nicht schlechthin schon Gültigkeit, sie gilt zunächst nur für den Augenblick ihres Entstehens. Das scheint beinahe so viel, als hätte sie gar keine Gültigkeit, und in der Tat haben manche Denker hier einen Unterschied nicht wahrzunehmen vermocht. Und doch ist ein solcher vorhanden. Der anfänglich nur für den Augenblick Wert besitzenden Erkenntnis kann ein dauernder gesichert werden: durch die Angabe der Bedingungen, unter denen sie Gültigkeit behält. Ein günstiger Zufall - mehr läßt sich vorläufig nicht sagen - hat es gefügt, daß diese Erweiterung des Gültigkeitsbereiches praktisch in vielen Fällen - nicht in allen - sich ohne alle Schwierigkeit vollzieht und zwar derart, daß es eben sogar möglich geworden ist, sie völlig zu übersehen. Es ist eine Folge dieser Möglichkeit, daß wir Menschen Wissenschaft haben, anderen Organismen dieselbe aber abgeht. Jede Wissenschaft und jede Erkenntnis muß demnach zuerst unter dem Gesichtspunkt der Erzeugung durch ein einzelnes Individuum betrachtet werden. So ist z. B. die Mechanik KIRCHHOFFs zunächst als Erzeugnis des KIRCHHOFFschen Geistes zu betrachten. Das allein genügt freilich noch nicht. Soll eine derartige Leistung Anspruch auf mehr als bloß individuelle oder gar nur momentane Bedeutung erheben, so muß sie außerdem gewisse Bedingungen erfüllen, die dies zu ermöglichen haben. Man kann also zweierlei unterscheiden: den Vorgang der Bildung von Erkenntnissen in einem Individuum und die Übertragung derselben auf andere. Daraus ergibt sich unmittelbar eine wichtige Folgerung. Ist der Erkenntnisakt einerseits ein Vorgang, der sich in einem Individuum abspielt und der andererseits auf andere Rücksicht zu nehmen hat, so stellt er sich damit als Zweck- oder Willenshandlung dar. Er muß somit an den charakteristischen Eigenschaften einer solchen partizipieren. Auch dagegen ist viel gefehlt worden. Man hat sich bemüht, das Denken nach Analogie der Vorgänge in der anorganischen Natur zu deuten und es dementsprechend als eine Art automatischen Mechanismus zu begreifen. Nun ist aber gerade jener Vorgang, der auf psychischem Gebiet diesem Ideal am nächsten kommt und der sich in uns abspielt, wenn wir uns ohne jeden Zwang dem Ablauf unserer Gedanken einfach hingeben, vom Denken am weitesten entfernt. Der Ablauf der Gedanken nach den Gesetzen der Assoziation tritt ja am reinsten und augenfälligsten in dem Träumen des Schlafenden wie des Wachenden und in der Ideenflucht des Irren hervor; also dort, wo von einem Denken überhaupt gar keine Rede sein kann. Umgekehrt müssen bei einem anstrengenden Denken sich einmengende Assoziationen zurückgewiesen und dem Gedankenverlauf gleichsam künstliche Bahnen geschaffen werden. Denken und mechanischer Gedankenablauf nach psychologischen Gesetzen der Ideenassoziation sind also zwei sehr verschiedene Dinge, und jedenfalls ist es unmöglich, den einen Vorgang auf den andern zurückzuführen. Solange wir uns lediglich dem Spiel der Assoziationen überlassen und die Gedanken kommen und gehen, wie es ihrer jeweiligen Stärke und ihren sonstigen gegenseitigen Verhältnissen entspricht, solange kann nur von einem Träumen und nicht von einem Denken gesprochen werden. Gerade durch das tätige Eingreifen eines freikombinierenden Willens unterscheidet sich das letztere vom ersteren. Denken wir uns entwa einen künstlichen Apparat zusammengestellt aus eine photographischen Kamera mit einer Einrichtung zu kinematographischen Aufnahmen, einen Phonographen usw., so könnten wir uns allenfalls denken, daß diesem Apparat eine Reihe von Eindrücken zukommen würden, die den uns durch die Sinne vermittelten analog wären. Wir könnten auch noch einen Schritt weiter gehen und uns die Sache so eingerichtet denken, daß der Apparat auf gewisse Eindrücke hin tätig reagieren würde; aber auch dann würde derselbe noch nicht einmal ein Analogon zu unserem "Denkapparat" darstellen (natürlich immer noch ganz abgesehen vom fehlenden Bewußtsein), denn er wäre noch immer ein reiner Automat, unfähig jeder Willenshandlung. Welches sind nun die charakteristischen Eigenschaften einer Willenshandlung? Wodurch unterscheidet sich dieselbe von einem mechanisch, d. h. automatisch sie abspielenden Vorgang und welche Bedeutung kommt diesen Unterschieden zu? Auch auf diese Fragen sind verschiedene Antworten gegeben worden. Es ist namentlich auf wissenschaftlichem Gebiet vielfach versucht worden, das Vorhandensein besonderer Zweckhandlungen völlig zu leugnen und nach Analogie der Erscheinungen in der anorganischen Natur jedes geistige Geschehen lediglich als kausal bedingt zu betrachten. Psychologisch ist ein derartiges Vorgehen begreiflich; es liegt darin, wie AVENARIUS ausgeführt hat, nichts anderes als eine Betätigung des Prinzips des kleinsten Kraftmaßes vor. Allein daraus folgt weder, daß es anstrebenswert noch auch daß es logisch berechtigt ist. Wir müssen uns vor allem an unsere unmittelbare Erfahrung halten und vor der Aufstellung einer theoretischen Lehrmeinung jeden Schritt vorher sorgfältig überlegen. Diese unsere unmittelbare Erfahrung lehrt uns nun zunächst die Verknüpfung jeder Willenshandlung mit einem Gefühl der Freiheit. Soviel ich sehen und beurteilen kann, erscheint mir der schließliche Erfolg nicht vorherbestimmt durch meinen früheren Zustand. Es erscheint mir als ein hoffnungsloses Unternehmen, etwa beim Diktieren beliebiger Zahlen mir vorzustellen, daß alle diese bereits vorher bestimmt in meinem Inneren bereit lagen und es einer gesteigerten Intelligenz möglich wäre, deren Aufeinanderfolge vorauszusagen. Indessen, dem mag sich wie immer verhalten, die Frage nach der Möglichkeit einer durchgängigen eindeutigen Bestimmtheit aller geistigen Vorgänge ist eine Frage der Psychologie (oder Biologie) und nicht eine solche der Erkenntnistheorie. Jedenfalls darf die Erfüllbarkeit dieser Forderung nicht als ein Postulat der Naturwissenschaft betrachtet werden, welche die Aufgabe hat, die Dinge zu betrachten, wie sie sind, und nicht mit vorgefaßten Ideen an sie heranzutreten. Die Übertragung einer auf anorganischem Gebiet gewonnenen und bewährten Forschungsmaxime auf ein hiervon wesentlich verschiedenes stellt nichts anderes als eine bedenkliche Extrapolation vor, die ebenso wahr wie falsch sein kann. Hingegen muß die Unterscheidbarkeit aller meiner psychischen Erlebnisse in die zwei großen Hauptgruppen der erzwungenen und der Willkürhandlungen als eine feststehende Tatsache betrachtet werden. Zu den ersteren zählen sämtliche "Eindrücke einer Außenwelt", also alle Empfindungen, aber auch sehr viele Erlebnisse, die nicht auf einen sogenannten äußeren Reiz hin eintreten, und bei denen ich mich gleichwohl in einer psychischen Zwangslage befinde. Ich kann dieselbe durch Reize erklären, die ihren Sitz innerhalb unseres eigenen Körpers besitzen, so daß sie sich dann nicht prinzipiell von denen der ersten Klasse unterscheiden. Halluzinationen, fixe Ideen, Instinkthandlungen und dgl. gehören hier herein. Es verbleibt dann noch immer eine Gruppe von Erlebnissen, die wir als Willkürhandlungen bezeichnen, weil bei ihnen eine derartige vorgängige Bestimmtheit noch nicht besteht. Vielmehr durchläuft bei ihnen das Bewußtsein eine Reihe von Phasen, die sozusagen ein labiles Gleichgewicht vorstellen, bis endlich eine definitive Verbindung von Bewußtseinselementen geschaffen wird. Zu dieser letzteren Klasse gehört nun ohne Frage auch das sogenannte Denken. Auch bei ihm wird eine definitive Entscheidung erst nach vorhergegangener Überlegung gefällt, d. h. zuerst treten im Bewußtsein Elemente auf, die sich zwar verbinden, aber ebenso schnell auch wieder auflösen, erst nach einiger Zeit tritt ein stabiler Zustand ein, indem dann zwei oder mehrere Elemente miteinander zu einem Gebilde verschmelzen. Dieser Vorgang ist nun als solcher durch ein ihn begleitendes Gefühl erkennbar und von zwangsläufig eintretenden ununterscheidbar. Eine weitere Eigentümlichkeit desselben besteht ferner darin, daß die Einstellung des definitiven Zustandes nicht nach planlosen Versuchen geschieht, sondern daß dabei die Vorstellung eines Zweckes mitwirkt. Auch dieser Begriff des Zwecks hat eine vielbewegte ganze Leidensgeschichte hinter sich. Zu einer Zeit, als sich die Naturwissenschaft noch in ihren Anfängen befand, oder auch in späteren Zeiten, wo sie ihre Maximen noch nicht zur allgemeinen Geltung und Anerkennung zu bringen vermocht hatte, wurde dieser Begriff von den Philosophen dazu mißbraucht, um billige Erklärungen naturwissenschaftlicher Tatsachen vorzutäuschen. Das brauchte ihn dann schließlich derart in Mißkredit, daß kein Naturforscher, der etwas auf seine Reputation hielt, von ihm mehr etwas wissen wollte. Er galt als förmlich verfehmt, und die Aufgabe der Naturwissenschaft wurde, um einen möglichst kräftigen Gegensatz zu schaffen - was ja ein allgemeines psychologisches Entwicklungsgesetz ist -, dahin formuliert, daß diese Erscheinungen aus dem Vergangenen und nicht aus dem Zukünftigen, kausal und nicht final (oder teleologisch) zu erklären hätten. Das wurde namentlich um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit besonderer Vorliebe hervorgehoben. Im Verein mit dem Aufschwung der naturwissenschaftlichen Forschungsmethode hatte dann dies wieder eine starke Rückwirkung auf die Philosophie zur Folge; daß das Wesen der Naturerklärung sich mit kausalem Denken förmlich deckt, wurde Dogma und in unvernünftiger Weise denen gegenüber gehalten, die von derselben eine etwas weitere Auffassung zu verbreiten sich bemühten. Der Zweckbegriff aber kam nun auch bei den meisten jener Philosophen in Mißkredit, die sich gerne rühmen wollten, der Naturforschung besonders nahe zu stehen. Es entwickelte sich - um ein von PAULSON daraufhin gemünztes Wort zu gebrauchen - eine förmliche "Teleophobie". Es war nun das Verdienst von MACH, diesem Begriff auf theoretischem Gebiet jene Bedeutung zurückzuerobern, die ihm da gebührt. Durch die Aufstellung seines Prinzips der Denkökonomie und die auf demselben beruhende Erklärung wissenschaftlicher Verfahrensweisen hat er auf rein geistigem Gebiet demselben zu seinem Recht verholfen. Der Hinweis auf die Arbeiten und Werke der Technik ist geeignet, dem auf das anorganische Gebiet Eingewöhnten die reelle Bedeutung des Zweckbegriffs vorzuhalten. MACH vergleicht nun die Wissenschaft mit der Technik. Beide haben bestimmte Zwecke anzustreben, beide sind gehalten, die einfachsten ökonomischsten Mittel zu deren Erreichung anzuwenden. Mit anderen Worten:
Daß so etwas überhaupt möglich ist, daß man in der Tat auf verschiedenen Wegen ein und dieselbe Erkenntnis vermitteln und daher in die Lage kommen kann, eine Wahl treffen zu dürfen, das ist es, was, wie es scheint, gleichfalls lange verkannt worden ist und zu einer Hauptquelle des merkwürdigen Widerspruches wurde, der von zeitgenössisch philosophischer Seite dem Ökonomieprinzip entgegengesetzt worden ist. Daß eine Erkenntnis nebenbei noch - um mich der Terminologie von HEINRICH HERTZ zu bedienen - logisch zulässig und richtig sein muß, wird natürlich bei der Betonung der Wichtigkeit des Ökonomieprinzips nicht geleugnet, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Daß es aber möglich ist, von einem Tatsachengebiet mehrere Theorien zu geben, über deren gegenseitige Vorzüge sich streiten läßt und von denen keine als falsch zurückgewiesen werden kann, ist eine dem Physiker ebenso wohlbekannte wie mit den Voraussetzungen einer absoluten Erkenntnistheorie allerdings unvereinbare Tatsache. Auch sie hängt mit dem Willenscharakter unseres Denkens zusammen; auch in ihr spricht sich die Ungebundenheit unseres Willens durch die äußeren Umstände aus. Ein Automat reagiert auf einen Reiz stets in ein und derselben Weise. Daß das Ökonomieprinzip eine für den Begriff der Wissenschaft noch weitergehende Bedeutung besitzt, als schon aus diesen Feststellungen hervorgeht, wird sich im späteren Verlauf herausstellen. Hier mag noch darauf aufmerksam gemacht werden, daß das Ökonomieprinzip noch von einem anderen Gesichtspunkt aus und zwar von einem psychologisch-biologischen gleichsam als ein Naturgesetz der Seele erwiesen wurde. Es geschah dies durch AVENARIUS in einer seiner ersten Veröffentlichungen "Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes". Die Verwandtschaft eines Denkaktes mit einer äußeren Willenshandlung äußert sich noch in manch anderer Beziehung. So wird durch häufige Wiederholung eine äußere Willenshandlung nach und nach in einem automatisch vor sich gehenden Vorgang, eine Reflexbewegung, überführt. Ein Gleiches tritt auch auf dem Gebiet des Denkens ein; auch da bilden sich durch Übung feste Assoziationen aus. Ferner könnte man das Subjekt eines Urteils in Analogie setzen zum Reiz bei einer gewöhnlichen Willenshandlung; das Prädikat aber zur vorhandenen Disposition, die für den Ablauf des Prozesses maßgebend wird. Isolation und Superposition. Erkenntnis wird also geschaffen durch gewisse Tätigkeiten des Individuums, die sich uns als freie Willenshandlungen darstellen. Die nächste Frage also, die sich uns zur Beantwortung darbietet, ist die nach der Art und Weise dieser Tätigkeiten. Daß dieselben auf unsere Bewußtseinsinhalte gerichtet sein müssen, ist selbstverständlich; es frägt sich nur, welcher Art da ihre Betätigung ist. Wie aus den vorausgegangenen Erörterungen offenbar, bildet ein gegenwärtiger Bewußtseinsinhalt den Ausgangspunkt des Prozesses. Soll eine Aussage über ihn möglich werden, so muß noch ein zweiter Bewußtseinsinhalt gleichzeitig im Bewußtsein vorhanden sein. Derselbe kann entweder ohne unser Zutun da sein (so daß dann zwei Wahrnehmungsinhalte uns zu gleicher Zeit vorliegen), oder er muß erst herbeigeschaffen werden, was der allgemeinere Fall sein wird, da selbst bei Wahrnehmungen, die gleichzeitig da sein könnten, sich meistens nur die eine im Blickpunkt des Bewußtseins befinden wird. Im letzteren Fall geht ein Suchen und Probieren der definitiven Zusammenstellung voraus, doch geschieht auch während dessen dasselbe, was beim Endprozeß: Die beiden Inhalte werden gegeneinander gehalten, miteinander verglichen. Infolgedessen kann man sagen, daß der eigentliche Erkenntnisakt in einer Vergleichung zweier Inhalte besteht, bzw. im Urteil, das über das Verhältnis der beiden Inhalte gefällt wird. Auch diese Erkenntnis ist eine der fundamentalsten auf dem ganzen Gebiet der Erkenntnislehre und ist von den weittragendsten Folgen begleitet. MACH hat ihre Verkündigung zum Gegenstand eines seiner interessantesten Vorträge gewählt, den er im Jahre 1894 auf der Wiener Naturforscherversammlung unter dem Namen "Das Prinzip der Vergleichung in der Physik" gehalten hat. Indem ich auf diesen Vortrag verweise, der in der Sammlung der "Populärwissenschaftlichen Vorlesungen" (dritte Auflage, Leipzig 1903, Seite 263f) erschienen ist, will ich hier nur einige Hauptpunkt desselben hervorheben. Ausgehend von der Unzulänglichkeit unserer eigenen direkten Erfahrung, die uns wegen der Kürze unseres Lebens nur ein äußerst bescheidenes Ausmaß an Wissen zu vermitteln vermöchte, wird auf die Wichtigkeit der Mitteilung der Erfahrungen anderer verwiesen, die ihrerseits wieder nur möglich sind auf der Grundlage von Vergleichungen. Wenn wir etwa einen Gegenstand als rot bezeichnen, meinen wir damit eine gewisse Übereinstimmung zwischen ihm und einer Rose. Wird der Gegenstand Rose oft zu diesem Zweck gebraucht, so hat das zur Folge, daß das ihn bezeichnende Wort allmählich eine andere, nämlich adjektive Bedeutung erhält. Auf diese Weise kann man sich dann alle Adjektiva entstanden denken. Bei manchen, wie z. B. violett, ist der Zusammenhang an der sprachlichen Form noch deutlich zu erkennen, bei andern ist er überhaupt nicht mehr nachweisbar. Eine neuere Bildung dieser Art wäre z. B. das Wort "Cicerone". Auf diese Weise haben sich aus den Worten für einzelne Gegenstände die abstrakten Begriffe entwickelt, die zur Mitteilung der Tatsachen dienen. Eine Beschreibung, die sich nur dieser Mittel bedient, nennt MACH eine direkte; eine indirekte hingegen eine solche, die einen ganzen Komplex durch Vergleichung (d. h. Analogiesetzung) mit einem zweiten bereits bekannten vergleicht. Daherein gehört z. B. der bekannte Satz, das Licht "ist" eine Wellenbewegung, der eben nichts anderes ausdrückt als eine Analogie zwischen der Fortpflanzung des Lichts in einem Lichtstrahl und der einer sichtbaren Welle etwa längs eines Drahtseils. Was hier MACH eine indirekte Beschreibung nennt, fällt demnach zusammen mit dem, was sonst als theoretische Idee bezeichnet zu werden pflegt. Erblicken wir also in letzterer eine Erklärung der physikalischen Erscheinung, so besteht dieselbe in nichts anderem als in einer Vergleichung der neuen Erscheinung mit einer bereits bekannten alten. So erklärt z. B. das Gravitationsgesetz NEWTONs die Bewegung der Planeten dadurch, daß es allen Himmelskörpern die von der Erde her bekannte Eigenschaft der Schwere beilegt. Der Mond verhält sich wie ein fallender Apfel, ein Planet zur Sonne wie der Mond zur Erde. Eine jedes physikalisches Gesetz spricht irgeneine Allgemeinheit des Verhaltens aus, es ist also geeignet, eine noch unbekannte kommende Erscheinung in eine Parallele zu setzen mit irgendeiner bereits geläufigen. Eine reiche Fülle interessanter Beispiele zur Jllustrierung der allgemeinen Bedeutung des Vergleichsprinzips bietet die mathematische Physik. Lord KELVIN hat bereits die interessantesten hervorgehoben wie z. B. die Analogie zwischen der Anziehung gravitierender Körper und der Wärmeleitung in homogenen Medien oder die zwischen Stoff und Wirbelringen, von näher liegenden nicht zu reden; und MAXWELL spricht schon den Satz aus, daß
Ich kann aller mit aller Beruhigung den Satz hinnehmen, daß eine jede Erkenntnis aus der Vergleichung von mindestens zwei Gliedern entspringt, und kann mich jetzt der weiteren Frage zuwenden nach der Art des Ergebnisses, das die Vergleichung liefern kann. Die erste Möglichkeit bildet die Konstatierung einer Verschiedenheit. Wäre dies nicht möglich, so gäbe es überhaupt kein Denken. Schon HOBBES sagt: "Sentire semper idemt et non sentire ad idem recidunt". (Immer dasselbe und nichts zu empfinden kommt auf dasselbe hinaus.) Erst dann, wenn wir zu unterscheiden vermögen, können wir überhaupt dazu kommen, von zwei Teilinhalten zu reden, was schon im Vorausgegangenen als Bedingung für die Möglichkeit eines Urteils und somit einer Erkenntnis hingestellt worden ist. Könnte man zwei Inhalte nicht unterscheiden, müßten sie ja vollständig zusammenfallen. Selbst in dem Satz A = A sind die beiden Seiten der Gleichung nicht identisch, denn sonst müßten sie ja zusammenfallen und es wäre nicht möglich, das eine A von dem anderen zu trennen. Unbedingte Identitäten gibt es also gar nicht und kann es nicht geben, ihr Aussprechen wäre eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp]. Die Erkennbarkeit von Verschiedenheiten ist also eine nirgends vermeidbare Grundforderung; sie stellt das erste Vermögen des menschlichen Geistes dar. Ist nun die Erkennung von Unterschieden eine Vorbedingung allen Denkens, so beginnt doch das eigentliche Denken erst mit der Erkennung von Beziehungen zwischen den vorgefundenen Teilinhalten. Hierfür ist es üblich geworden, das Wort Ähnlichkeitsrelation zu gebrauchen. Solche bestehen im Vorhandensein einer Gleichheit oder "Identität", wenn man so sagen will, nach einer gewissen Richtung hin. Wie schon bemerkt, ist der Begriff Gleichheit oder Identität ohne letzteren Zusatz überhaupt nicht denkbar; man kann ihn also, sobald Mißverständnisse nicht zu befürchten sind, auch weglassen. In diesem Sinne stellt z. B. JEVONS den Satz: "Science arises from the discovery of Identity amidst Diversity" (Wissenschaft entsteht aus der Entdeckung von Identitäten im Mannigfaltigen) an die Spitze seiner Logik. Auch sonst ist die hier vorgetragene Auffassung in der englischen Logik seit längerer Zeit - das Buch von JEVONS erschien in erster Auflage 1872 - heimisch. Der menschliche Geist ist imstande eine Ähnlichkeit zu sehen, auch wenn es ihm nicht gelingt, die Art der Identität oder Gleichheit festzustellen. Wir können diesen Sachverhalt als einen aus der Erfahrung genügend bekannten ansehen, ohne weiter in seine Analyse einzudringen. Er erklärt den Widerspruch, der von mancher Seite dagegen erhoben worden ist, die Erkennung von Ähnlichkeiten auf die von Gleichheiten zurückzuführen. Psychologisch ist in der Tat die Erkenntnis von Ähnlichkeiten das Frühere. Sachlich muß uns aber offenbar daran liegen, zur Erkenntnis von Gleichheiten vorzudringen. weil eine dementsprechende Aussage mehr enthält, bzw. exakter ist als eine, die sich mit der bloßen Konstatierung einer Ähnlichkeit begnügt und nicht sagt, worin dieselbe liegt. In der Tat wird in der Mathematik der Begriff der Ähnlichkeit auf den Gleichheit zurückgeführt. Die Definition derselben für ebene Figuren lautet: Ähnlichkeit besteht in der bezüglichen Gleichheit der Winkel und Seitenverhältnisse. Um nun von der bloßen Konstatierung von Ähnlichkeit zur Erkennung der Art der Gleichheit vorzudringen, ist es notwendig, den vorliegenden Bewußtseinsinhalt zu analysieren und jenen Teil, worauf es im speziellen Fall ankommt, womöglich bloßzulegen. Die Notwendigkeit oder doch Erwünschtheit dieser Zerlegung ist von VOLKMANN als Prinzip der Isolation bezeichnet worden. (23) In der Tat bildet die Auflösung einer verwickelten Erscheinung in ihre Elemente eine wichtige Aufgabe fast jeder wissenschaflichen Arbeit, namentlich jener, die es mit komplizierten, durch eine überreiche Mannigfaltigkeit sich auszeichnenden Tatbeständen zu tun hat. Die Regeln, die für die Induktion von manchen Seiten angegeben worden sind, beziehen sich eigentlich auf die Unterstützung dieser Analyse. Diese Trennung, die man vielleicht auch als Betätigung des Vermögens der Unterscheidung auffassen könnte, so daß man nicht durchaus nötig hätte, von einem besonderen Prinzip zu reden, kann natürlich eine jeweilig nur zu einem bestimmten Zweck dienende sein; d. h. sie ist nach einem üblichen Sprachgebrauch als eine künstliche und nicht als eine natürliche zu bezeichnen. Es ist infolgedessen notwendig, für andere Zwecke das Getrennte wieder zu vereinen, und diese Notwendigkeit, Verbindungen der durch Isolation erhaltenen Elemente herzustellen, ist von VOLKMANN als Prinzip der Superposition bezeichnet worden, ein Name, der eigentlich eine erweiterte Bedeutung eines in der mathematischen Physik sehr häufig angewendeten Verfahrens (Superposition von Bewegungen, Kräften, Schwingungen etc.) darstellt. Die Tätigkeiten, in deren Ausübung das Denken des Einzelnen besteht, sind demnach die Unterscheidung von Verschiedenem, die Erkennung von Ähnlichkeitsrelationen zwischen dem Verschiedenen, die Analyse der vorgefundenen Inhalte und damit die Zurückführung der Ähnlichkeit auf Gleichheit im oben angegebenen Sinn und endlich die Synthese der vorher getrennten Elemente. Die beiden letzten Operationen gehören eigentlich erst einer späteren Stufe an und sind nur des sich darbietenden Zusammenhangs wegen hier mitgenannt worden; weder die Analyse noch die Synthese schafft als solche Erkenntnis, beide dienen nur der Vorbereitung derselben. Daß aber die beiden ersten die Grundfunktionen des erkennenden Denkens bilden, hängt auch zusammen mit der Einteilung der Urteile in die beiden Hauptklassen der bejahenden und verneinenden. Wer also der überlieferten Form der Logik eine höhere Autorität zuschreibt, kann von da zurückschließen; umgekehrt kann von hier aus auf die Bedeutung dieser Urteilseinteilung geschlossen werden. Die Behauptung WUNDTs, daß alles Denken seiner Natur nach affirmierend ist und infolgedessen die Einteilung der Urteile in bejahende und verneinende nicht dem logischen Wesen der Urteilsfunktion entspricht, wird sich demnach nicht halten lassen. Näher darauf einzugehen ist hier aber nicht der Ort, das muß den Lehrbüchern der Logik überlassen bleiben. Endlich kommt auch noch das dem vorgestellten Zweck einer Willenshandlung entsprechende Ziel der Erkenntnis zu besprechen. Worauf will eigentlich das Erkennen hinaus? Was soll erreicht werden? Welchem Zweck sollen die eben genannten Operationen dienen? Dieses Ziel besteht, wie bereits feststeht, in einer Verbindung von mindestens zwei Elementen; nachdem es aber im Wesen des Erkenntnisaktes wie jeder freien Willenshandlung gelegen ist, zuerst (während der Überlegung) mehrere Paare solcher Verbindungen versuchsweise zusammenzustellen, bis auf eines derselben dann die definitive Entscheidung fällt, so muß sich das letztere offenbar durch eine besondere Eigenschaft auszeichnen, die es als Zielpunkt des Strebens begreiflich erscheinen läßt. Fragen wir uns nun, worin das Unterscheidende einer Erkenntnis von einer aufs Geratewohl getroffenen Verbindung, dem sogenannten bloßen Meinen oder Glauben, besteht, so kann, denke ich, darauf die Antwort nicht zweifelhaft sein. Unter Wissen verstehen wir im gewöhnlichen Leben eine Aussage, die jeder anerkennen muß, die für mich zu allen Zeiten und ebenso auch für andere Personen verbindlich ist; unter Meinen und Glauben eine Aussage, deren Annahme oder Nichtannahme eine Sache persönlichen Beliebens ist, zu der niemand verhalten werden kann. Die Wissenschaft stellt demnach die Lehre von den Schranken der persönlichen Freiheit des Menschen dar, und daraus erhellt sich dann unmittelbar ihre praktische Bedeutung für das Leben. Indem sie uns die Grenzen unserer Macht zeigt, steckt sie jenes Gebiet ab, auf dem sich die Kräfte des Menschen frei bewegen können. Sie lehrt uns z. B. die Vergeblichkeit der Anstrengungen zur Erfindung eines perpetuum mobile oder zur Quadratur des Kreises. Sie lehrt uns auch die Schranken kennen, denen der freie Wille anderer unterworfen ist, so daß uns dadurch die Möglichkeit geboten ist, auf andere einzuwirken und sie zu zwingen, das oder jenes hinzunehmen. Und sie lehrt uns auch die Schranken knnen, denen der Wille aller unterworfen ist und die die Veranlassung zur Bildung des Begriffs "Natur" gegeben haben. Insoweit wäre alles in schönster Ordnung. Die Frage ist nur die, woher dieser Zwang kommen soll. Und damit stoßen wir auf das eigentliche erkenntnistheoretische Grundproblem, das im Laufe der Jahrhunderte die verschiedentliche Auffassung erlebt hat. Es ist identisch mit der Frage nach der Quelle allen Wissens. Denn wenn auch die vorausgegangenen Erörterungen der Beantwortung dieser Frage gedient haben, so haben sie doch zum größten Teil Dinge berührt, die, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch stillschweigend ziemlich allgemein in praktisch gleicher Weise aufgefaßt worden sind. Denn wiewohl z. B. viele behauptet haben, daß das Denken es mit der Erkenntnis physischer Realitäten zu tun hat, und dieselben so die psychische Natur all unserer Erlebnisse, Bestrebungen und Inhalte übersehen hatten, so hatte doch in der Praxis des wirklichen Denkens dieser wenn auch theoretisch noch so bedeutsame Unterschied meistens nur eine geringere Bedeutung. Ob ich einen Körper als ein außerhalb meines Bewußtseins befindliches Ding-ansich oder als einen Komplex meiner Empfindungen ansehe, darauf wird es in den meisten Fällen des praktischen Denkens wenig ankommen. Anders verhält es sich mit der vorliegenden Frage. Sie ist es, deren verschiedene Beantwortung den großen fundamentalen Unterschied zwischen dem antik-mittelalterlichen Denken einerseits und dem der Neuzeit andererseits ausmacht und innerhalb der letzteren wieder die einzelnen philosophischen Richtungen charakterisiert. PLATON, ARISTOTELES, BACON, HOBBES, DESCARTES, LOCKE, HUME, BERKLEY, KANT, FICHTE bezeichnen fast ebensoviel verschiedene Richtungen in dieser Hinsicht wie Namen. Bei den einen ist es das reine abstrakte Denken, bei den anderen das angewandte, das wieder in verschiedener Weise auf die Gegenstände der Wahrnehmung gerichtet sein kann, und bei anderen ist es das Denken, das fast gar nicht mehr in Betracht kommt, und einzig und allein noch die Wahrnehmung eine Rolle spielt. Fragen wir so unbefangen, als es bei einer so tiefgehenden Streitfrage möglich ist, nach der Quelle des Zwanges, so kann die Antwort darauf, denke ich, zunächst eine zweifache sein. Der Zwang kann entweder aus einer Verpflichtung stammen, die ich mir selbst früher freiwillig auferlegt habe, oder er kann anderswoher, "von außen", wie man zu sagen pflegt, herrühren. Habe ich z. B. den Beschluß gefaßt, ein Mineral von bestimmten Eigenschaften immer Bleiglanz zu nennen, so liegt jedesmal, wenn mir ein solcher Körper unterkommt, für mich ein Zwang vor, denselben "Bleiglanz" zu nennen. Beobachte ich hingegen einen Vulkanausbruch, d. h. will ich ein Urteil fällen darüber, was an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geschehen ist, so bin ich genötigt, mit diesen letzteren Umständen einen Inhalt zu verbinden, der mir von außen aufgenötigt wird. Ich habe in diesem Fall keine Wahl; ich muß jene Verbindung zwischen Zeit und Ort einerseits und dem Ergebnis andererseits hinnehmen, die sich mir ohne mein Zutun darbietet. Diese Unterscheidung hängt zusammen mit der Einteilung aller Wissenschaften in reale und formale, wie sie sich z. B. in der Ausdehnungslehre von GRASSMANN (aus dem Jahr 1844) ausgesprochen findet. Dort heißt es gleich zu Beginn des ganzen Werkes:
Berücksichtigt man, daß es sich vorderhand nur um die Fällung eines Urteils in einem besonderen Einzelfall handelt, so wird man wohl zuzugeben vermögen, daß stets eine der beiden Zwangslagen vorliegt. Entweder werde ich genötigt, eine Verbindung zweier Elemente anzuerkennen, die sich mir in einem bestimmten Moment aufdrängt, oder ich fühle mich durch meine eigenen früheren Festsetzungen gebunden. Was den letzten Fall betrifft, so mag noch bemerkt werden, daß die Definitionen stets auf freien Willenshandlungen beruhen, ich daher imstande bin, dieselben mir jederzeit vorzuhalten. Im Gegensatz zu den mir "von außen" aufgenötigten Erlebnissen, die kommen und gehen, somit nur ein Augenblicksdasein führen, kann ich mir die Definitionen jederzeit wieder erzeugen und vermag sie daher sozusagen als stets gegenwärtig zu betrachten. Es ist daher möglich, auf formalem Gebiet ein allgemeines Wissen zu haben, während das historische in dem Augenblick entschwindet, in dem es dagewesen ist. Habe ich z. B. bestimmte Definitionen der Rechnungsarten - was eine Sache des freien Beliebens ist - festgesetzt, so lassen sich aus denselben Sätze ableiten, wie (a + b) (a - b) = a2 - b2. Der Zwang, der uns nötigt, diesen und ähnliche Sätze als wahr anzuerkennen, ist ein freiwillig übernommener und liegt in den Definitionen der Addition und Mulitplikation sowie der benutzten Bezeichnungen. Zu diesem Zweck müssen die Definitionen so umfassend gewählt sein, daß sie viele spezielle Behauptungen mit umschließen, andererseits müssen sie sich in eine so einfache Form bringen lassen, daß dieselbe gegenüber den aus ihr ableitbaren Folgerungen eine wesentliche Vereinfachung bedeutet. Dies wird dadurch möglich, daß die Definitionen Aussagen enthalten, die sich auf die Eigenschaften vieler Elemente beziehen. So lautet z. B. der Grundsatz der Arithmetik, den die Mathematiker als Definition des Zahlbegriffs ansehen: Das Resultat des Zählens ist von der Reihenfolge desselben unabhängig. Offenbar ist das ein Satz, der sich auf eine unendliche Zahl von Zahlen anwenden läßt. Ebenso verhält es sich mit dem Satz von der Identität. Tatsächlich ist es möglich, aus Definitionen allein den Inhalt einer formalen Wissenschaft abzuleiten, einer Erkenntnis, die schon von GRASSMANN (vgl. das obige Zitat) 1844 klar erkannt worden ist. Was hingegen die historische Kenntnis von Tatsachen betrifft, so ist, wie ohne weiteres ersichtlich, ein allgemeines Wissen über dieselben unmöglich. In der Tat folgt schon hieraus, daß eine apodiktische Behauptung über irgendeine Tatsache der Zukunft ein Ding der Unmöglichkeit ist, was ja schon HUME mit völliger Klarheit erkannt und woran ein KANT vergebens zu rütteln versucht hat. Die vom ersteren gegeben Einteilung stimmt dann auch mit der alleinigen Ausnahme der Geometrie, der heute eine andere Stellung zugeschrieben werden muß, mit der hier vorgenommenen überein. Sie lautet:
"Tatsachen, der zweite Gegenstand der menschlichen Erkenntnis, werden nicht in derselben Weise festgestellt, und unsere Überzeugung von ihrer Wahrheit, so groß sie auch sein mag, ist doch nicht von derselben Art, wie bei der ersten. Das Gegenteil einer Tatsache bleibt immer möglich; denn es ist niemals ein Widerspruch; es kann von der Seele mit derselben Leichtigkeit und Bestimmtheit vorgestellt werden, als wenn es genau mit der Wirklichkeit übereinstimmen würde. Daß die Sonne morgen nicht aufgehen wird, ist ein ebenso verständlicher und widerspruchsfreier Satz wie die Behauptung, daß sie aufgehen wird. Man würde vergeblich den Beweis ihrer Unwahrheit versuchen. Könnte man sie beweisbar widerlegen, so müßte sie einen Widerspruch enthalten und könnte gar nicht deutlich von der Seele vorgestellt werden." Bevor diese zur Sprache kommen können, muß jedoch noch die Art und Weise besprochen werden, durch welche die Erkenntnisse eines einzelnen Individuums allgemeine, d. h. für eine größere Zahl von Individuen gültige Bedeutung erlangen. Eine unmittelbare Gewißheit besitzt nur die unmittelbare, direkte Erfahrung, deren Gültigkeit aber auf den Augenblick und das Individuum beschränkt ist. Von einer allgemeinen Gültigkeit kann zunächst bei einem Individuum im Falle der formalen Erkenntnisse gesprochen werden, sofern man annehmen kann, daß es gewisse Bewußtseinsinhalte zu verschiedenen Zeiten in derselben Weise zu produzieren vermag. Da die Herstellung derselben von keinen äußeren, d. h. vom Willen des Individuums unabhängigen, ihm übergeordneten Einflüssen abhängig ist, so ist die Erfüllung dieser Forderung denkbar, und die Erfahrung lehrt, daß sie auch oft als erfüllt anzusehen ist. Die Übertragung dieser von einem Individuum erworbenen formalen Erkenntnisse auf ein anderes wird offenbar davon abhängen, ob dasselbe imstande ist, die erforderlichen Bewußtseinsakte in gleicher Weise wie das erstere auszuführen. Ist die Übereinstimmung zwischen beiden Individuen so groß, daß dies möglich ist, und nimmt das zweite Individuum dieselben Definitionen als zu Recht bestehend an, so werden die vom ersten Individuum erworbenen Erkenntnisse auch für das zweite gültig sein. Ohne die Erfüllung dieser Bedingung wäre eine Übertragung nicht möglich; sie ist somit keineswegs ansich selbstverständlich. Nehmen wir an, KANT hätte durch folgerichtiges Denken, ohne auch nur einmal in einen Irrtum zu verfallen, sein System der Kritik der reinen Vernunft ausgedacht, so müßte dasselbe trotzdem für eine zweite Person nicht verbindlich sein, was ja auch KANT selbst eingesehen hat, insofern er ausdrücklich hervorhebt, daß die da entwickelten Gesetze für einen intuitiven Verstand nicht gültig sind; ob nun aber eine zweite Person einen "menschlichen" oder "intuitiven" oder sonst einen anderen Verstand besitzt, weiß KANT nicht; sein System wird für einen Zweiten erst dann maßgebend, wenn derselbe zugibt, einen ebensolchen Verstand zu besitzen, d. h. wenn er sich mit den Grundsätzen von denen die Ableitung ausgegangen war, und die selbst nicht beweisbar sind, einverstanden erklärt hat. In diesem Sinne ist also jede Wissenschaft von empirischer Gültigkeit; wie bereits einmal hervorgehoben, kann immer nur eine subjektive Überzeugung, nie eine ansich seiende objektive Gültigkeit erstrebt werden. Niemals läßt sich einem Zweiten gegen seinen Willen etwas beweisen; wer nichts zugibt, mit dem läßt sich nicht einmal streiten. Ich habe freilich das Recht, einen solchen Menschen als geistig unzurechnungsfähig zu bezeichnen; allein was hilft uns das? Die Grenze zwischen normal und abnormal ist oft recht schwer zu ziehen, und von der Allgemeingültigkeit irgendeines Wissens zu reden haben wir gar kein Recht. Um uns das streitig zu machen, reicht die Existenz eines "Narren" vollständig aus. Wissen beruth eben auf Zwang und durch philosophische oder wissenschaftliche Erörterungen sieht sich niemand als gezwungen an. Die Erkenntnis einer Person wird für eine zweite erst dann maßgebend, wenn dieselbe sich freiwillig einem Zwang unterwirft, d. h. wenn dieselbe zugibt, gewisse Annahmen als auch für sie bindend anzuerkennen. Die Erkenntnis dieses Sachverhalts ist eine uralte, wenn derselbe auch, wie mir scheint, noch niemals ausdrücklich formuliert worden ist. Zwei berühmte Denker des Altertums sind aber bereits in ganz offenkundiger Weise von ihm ausgegangen: SOKRATES und EUKLID. In der Erkenntnis, daß es ganz unmöglich ist, jemandem etwas gegen seinen Willen aufzudisputieren, hat SOKRATES all seinen Witz darauf verwendet, zuerst seinem Gegner das Zugeständnis jener Grundsätze zu entlocken, deren er zu dem von ihm beabsichtigen Beweise bedurfte. Er erklärt deshalb seinem Gegner ganz offen, daß niemand anderer über seine (des Gegners) Ansichten entscheiden soll als er (der Gegner) selbst. Darauf beruth dann auch die Überzeugungskraft der sokratischen Methode. Ganz analog verfährt EUKLID. An die Spitze seiner Geometrie setzt er eine Reihe allgemeinster Sätze. Ich glaube, daß man diese sämtlich als Postulate ansehen kann. Die Bedeutung des Wortes Axiom scheint mir seiner Ableitung nach, wie ich bereits bemerkt habe (25), keine andere zu sein als die eines Postulates. Auch FELIX KLEIN scheint dieser Auffassung zuzuneigen (26). EUKLID verfährt also so; an die Spitze seiner Entwicklungen stellt er eine Reihe allgemeiner Sätze, deren Zugeständnisses von Seiten des Lesers er bedarf (da er sie ja nicht zu beweisen vermag), um ann auf ihrer Grundlage eine Reihe anderer Sätze abzuleiten, d. h. zu beweisen. Wer die ersten Sätze zugibt, muß auch die Folgerungen zugeben. Wer das erstere nicht tut (was ja in der nicht-euklidischen Geometrie faktisch zutrifft), für den gelten auch all die weiterhin entwickelten Sätze nicht. Weder die Lehren des SOKRATES noch die Sätze EUKLIDs vermögen deshalb einen Anspruch auf unbedingte Gültigkeit zu erheben; wenn aber trotzdem namentlich der letztere als Muster der Exaktheit gegolten hat und noch immer gilt, so mußte dies auf einem anderen Grund beruhen. Und dieser besteht zwar nicht in der Unbedingtheit des Wissens, wohl aber in der Vollzähligkeit der angeführten Bedingungen. (27) Und in der Tat ist das das eigentliche Grundprinzip aller Exaktheit. Von exaktem Wissen wird dann gesprochen, wenn alle Bedingungen seiner Gültigkeit sorgfältig aufgezählt sind und keine stillschweigenden Voraussetzungen mit unterlaufen. Und gerade das ist zugleich derjenige Umstand, wegen dessen die meisten philosophischen Entwicklungen nicht den Charakter der Exaktheit besitzen; sie enthalten immer in sich eine Reihe stillschweigender, nicht eigens hervorgehobener Voraussetzungen, was dann überdies noch in den meisten Fällen zu inneren Widersprüchen führt. Auch die Sätze einer formalen Wissenschaft werden also für eine zweite Person erst dann von Bedeutung, wenn dieselbe gewisse Grundannahmen zugegeben hat. Freilich sind diese bei den formalen Wissenschaften so gering an Zahl und so beschaffen, daß sie tatsächlich von allen Denkern zugegeben werden und keiner von dem ihm zustehenden Recht der Ablehnung Gebrauch macht. Praktisch hat also die Formel: "gib zuerst offiziell die und die Grundsätze zu" keine Bedeutung, was ja eben dazu geführt hat, ihre theoretische Notwendigkeit zu übersehen. Eben darauf beruth auch die große Macht der formalen Erkenntnisse; sie erwecken den Anschein, als stellten sie ein absolutes unbedingtes Wissen dar, das von keinen besonderen Voraussetzungen abhängig ist. Allein dies ist ein Irrtum; die Voraussetzungen sind nur gering an Zahl, einfach in ihrer Art und so beschaffen, daß sie sich allgemeine Anerkennung verschaffen. Daraus muß sich also die Macht der formalen Wissenschaften erklären lassen; und das ist in der Tat möglich. Es ist das Prinzip der Denkökonomie, das uns ihre theoretische Vollkommenheit vollkommen zufriedenstellend zu erklären vermag. Denn was leistet uns die Wissenschaft? Die Erkenntnis der Grundsätze verschafft sie uns nicht, diese müssen vielmehr vom Individuum zugegeben werden, wenn die betreffende Wissenschaft für dasselbe überhaupt eine Bedeutung erhalten soll. Was die Wissenschaft einer jeden zweiten Person leistet, ist, daß sich dieselbe persönlich nur von der Richtigkeit der Grundsätze zu überzeugen braucht. Hat sie diese eingesehen, so erhalten für sie auch alle im betreffenden wissenschaftlichen System abgeleiteten Sätze zugleich Gültigkeit. Die Wissenschaft erspart es also einem jeden, sich auch noch von der Richtigkeit dieser Sätze auf direkte Weise zu überzeugen. Und somit ist klar, daß jene Wissenschaft das meiste leistet, bei der die Zahl der unbeweisbaren Annahmen die kleinste und ihre Beschaffenheit die einfachste ist. Das ist aber bei den formalen Wissenschaften der Fall; bei ihnen ist die Denkökonomie die ausgeprägteste. Alle anderen Wissenschaften unterscheiden sich von den formalen schließlich nur dadurch, daß die Zahl der zuzugebenden Voraussetzungen eine größere und ihre Art eine solche ist, daß eine Verallgemeinerung nicht ebenso leicht und auch nicht immer so oft durchführbar erscheint. Da wäre, um zunächst noch bei einem Individuum zu bleiben, die Konstatierbarkeit einer Tatsache der Vergangenheit nur unter der Voraussetzung der Treue des Gedächtnisses möglich. Das ist aber, wie ohne weiteres ersichtlich, ein sehr variabler Faktor. Die Benützung mechanischer Hilfsmittel zur Unterstützung des Gedächtnisses schließt aber, wie ebenfalls leicht ersichtlich, eine Menge anderer Voraussetzungen in sich. Soll nun gar die Beobachtung einer Person für andere Personen Bedeutung erlangen, so ist dies offenbar nur unter der Zulassung weiterer Voraussetzungen möglich. Die Qualität des Beobachters ist ja stets von sehr wesentlichem Einfluß auf den Wert eines Beobachtungsergebnisses. Berichte von unbekannten Beobachtern sind daher von sehr zweifelhaftem Wert. Je nach der Natur der Beobachtung ist auch der Wert derselben für andere Personen ein verschiedener; gewisse auffallende Erscheinungen werden in ihren Grundzügen von der Mehrzahl der Menschen in ungefähr gleicher Weise aufgefaßt; je feiner aber die zu machende Beobachtung ist, desto geringer wird die Zahl jener, die sich als Zeugen für dieselbe eignen. Handelt es sich, wie es ja in den genannten Naturwissenschaften der Fall ist, um Tatsachen, die nicht von lediglich historischem Interesse sind, sondern die Bedeutung erhalten sollen auch für Zeiten außerhalb jener, in der sie vorgefallen sind, also für die vorhergegangene und die zukünftige, dann muß eine weitere Voraussetzung über die Gleichförmigkeit des Naturgeschehens hinzutreten. Dies ist in Bezug auf die Physik von MAXWELL klar erkannt und ausgesprochen worden. In dem kleinen Büchlein "Matter and motion" (Substanz und Bewegung, deutsche Übersetzung von Ernst von Fleischl) findet sich unter der Überschrift "Aufstellung des allgemeinen Grundsatzes der Physik" folgende bemerkenswerte Stelle, die hier im Wortlaut abgedruckt werden soll:
"Die folgende Behauptung, welche dem obigen Satz äquivalent ist, scheint deutlicher zu sein, ausdrücklicher mit den Begriffen von Raum und Zeit verknüpft und leichter anwendbar auf einzelne Fälle:
Weiter auf diese Verhältnisse einzugehen, ist Sache der betreffenden Wissenschaften; aber schon aus diesen kurzen Andeutungen geht wohl hervor, daß durch die Einführung einer genügend großen Zahl von Voraussetzungen eine jede Wissenschaft eine exakte Gestaltung annehmen kann; der Unterschied zwischen den einzelnen Zweigen wird lediglich darin bestehen, daß die Zahl der erforderlichen Voraussetzungen hier kleiner, dort größer ist. Die Schuld daran kann entweder in einer weniger vollkommenen Ausbildung der betreffenden Wissenschaft oder in der Natur ihres Gegenstandes gelegen sein. Dessenungeachtet wird noch eine weitere Aufklärung über das Wesen der Naturwissenschaften, die sich auf eine regelmäßige Wiederkehr von Tatsachen beziehen, als wünschenswert empfunden werden. Es ist auch bereits an einer früheren Stelle angedeutet worden, daß derartige Wissenschaften in einer Verbindung formaler und historischer Elemente bestehen. Während in den formalen Wissenschaften nur von Geistestätigkeiten im engeren Sinn des Wortes die Rede ist, d. h. von solchen, die unabhängig von speziellen Daten der sogenannten äußeren Erfahrung sind, kommen bei den sogenannten realen Wissenschaften auch noch speziellere Geistestätigkeiten, die sich auf bestimmte Erinnerungen usw. beziehen, mit in Betracht. Während die ersteren ein ständiges Gemeingut aller Menschen bilden, hängt die Möglichkeit der letzteren von speziellen Voraussetzungen ab, die nicht bei allen Menschen erfüllt sind, sondern vom Grad ihrer Erfahrung abhängen. Infolgedessen erscheinen die ersteren unabhängig von besonderen Erfahrungen, während bei den letzteren hingegen eigene Beobachtung und Experimente notwendig werden. Ein anderer wichtiger Unterschied besteht darin, daß es bei den ersteren nur auf die gegenseitige Beziehung verschiedener Gruppen von Geistestätigkeiten ankommt, bei den letzteren hingegen dieselben nur ein Mittel zum Zweck darstellen. Die Operationen, die das Wesen einer realen Wissenschaft ausmachen und die jeder mitdenken muß, um sich den Inhalt einer Wissenschaft anzueignen, sind nämlich nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Dieser letztere aber besteht in der Vermittlung einer historischen Kenntnis. Die Physik und ebenso die anderen realen Wissenschaften haben den Zweck, die Kenntnis nicht gegenwärtiger Tatsachen uns zu vermitteln. Das Brechungsgesetz sagt uns z. B. im Voraus, welchen Weg ein Lichtstrahl unter gewissen ihm angewiesenen Bedingungen nehmen wird, und die Gesetze der Wärmeleitung in festen Körpern können, wie es Lord KELVIN tatsächlich versucht hat, dazu benutzt werden, uns über den früheren Zustand unserer Erdkugel zu unterrichten. Allerdings kann man auch hier sagen, daß es sich nur um eine bestimmte Verknüpfungsart der Elemente handelt, denn Raum und Zeit sind uns ja auch nur durch solche gegeben, und es kommt somit nur darauf an, zu bestimmen, welche Verbindung zwischen einer gewissen Elementargruppe, die Zeit und Raum bestimmt, und einer anderen vorhanden ist. Aber auch dann noch bleibt der Unterschied bestehen, daß das durch die realen Wissenschaften vorausgesagte Ergebnis, sofern es sich auf die Zukunft bezieht, durch die Erfahrung verifizierbar ist, was in den formalen Wissenschaften niemals möglich ist. Ohne auf die besondere Natur der einzelnen Wissenschaften einzugehen, erscheint es nicht weiter angänglich, den Begriff der Erkenntnis näher klarzulegen. Fassen wir noch einmal die Hauptmomente desselben zusammen, so ergeben sich uns als solche die folgenden: Erkenntnis stellt sich uns zuerst in der Form eines psychischen Vorgangs eines einzelnen Individuums dar; und zwar reden wir dann von einer solchen, wenn wir in der Lage sind, einen gewissen Zwang zu konstatieren, der sich der sonstigen Willkürlichkeit unseres psychischen Lebens in den Weg stellt. Dieser Zwang kann sich entweder als Folge einer freiwillig übernommenen Verpflichtung ergeben, an bestimmten Annahmen - Definitionen - festzuhalten; oder er kann uns durch eine fremde Macht aufgenötigt werden, die wir im gewöhnlichen Leben gegenwärtig mit dem Namen der "Natur" zu bezeichnen pflegen (wir können natürlich ebensogut mit BERKELEY sie Gott nennen). Verbleiben wir innerhalb des Bereichs selbstgewählter beliebiger Definitionen, so kommen wir zu Resultaten, die durch Funktionen unseres Geistes allein zustande kommen, bei denen eine Berufung auf die besondere Einzelerfahrung nicht notwendig ist; sie übertragen sich ohne weiteres auf andere Geister, wenn dieselben die gleiche Organisation besitzen. Man nennt sie deshalb formale oder Geisteswissenschaften. Die Übertragung von Erkenntnissen auf dem Gebiet der Tatsachenwelt ist nicht ohne weitere Hypothesen möglich. Um dieselben einem zweiten Individuum vermitteln zu können, ist die Ausführung gewisser Willkürhandlungen vonnöten, d. h. die Konstruktion eines formalen Systems. Jede physikalische Theorie stellt sich als solche dar und unterliegt daher zunächst der Prüfung nach der formalen Seite hin. Sie muß, wie sich HERTZ ausdrückt, logisch zulässig sein. Das allein genügt freilich nicht; es muß noch die Bedingung ihrer Richtigkeit hinzukommen, d. h. es müssen die Tatsachen, die sich aus ihr ergeben, übereinstimmen mit den Tatsachen der direkten Erfahrung eines jeden einzelnen. Was ferner den Inhalt der einzelnen Wissenschaften betrifft, so kann derselbe niemals aus etwas anderem bestehen als den uns einzig und allein zugänglichen Elementen unseres Bewußtseins, und zwar besteht er in einer besonderen Verbindungsweise derselben. Jede Erkenntnis läßt sich als irgendeine gesetzmäßige Abhängigkeit unserer Bewußtseinselemente darstellen, besitzt also, mathematisch ausgedrückt, immer die Form f (x, y, z, t ...) = 0. ![]()
20) Mach, Mechanik, fünfte Auflage, Seite 523 und ähnlich an anderen Stellen. 21) Vgl. Paulsen, Einleitung in die Philosophie, elfte Auflage, Seite 404. 22) Über Faradays Kraftlinien, deutsche Übersetzung von Ludwig Boltzmann, Leipzig (Ostwalds Klassiker, Nr. 69, Seite 4) Vgl. auch Mach, Prinzipien der Wärmelehre 23) Erkenntnistheoretische Grundzüge der Naturwissenschaften und ihre Beziehungen zum Geistesleben der Gegenwart, Leipzig 1896, sowie "Einführung in das Studium der theoretischen Physik"; Leipzig 1900. 24) Diese Einteilung dürfte - soweit ich nach bloßen Berichten urteilen darf - zuerst von Rickert in seinem Werk "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" - eine logische Anleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen, 1902 aufgestellt worden sein, in das ich bis jetzt noch nicht in die Lage gekommen bin, einen näheren Einblick zu nehmen, woran zum Teil der auf einen mir ferner stehenden Gegenstand weisende Untertitel die Schuld trägt. 25) "Über Axiome", Zeitschrift für das Realschulwesen, 26. Jhg., Wien 1901, Seite 398. 26) Felix Klein, Autographierte Vorlesungshefte über nicht-euklidische Geometrie, 1890. 27) Damit soll jedoch keineswegs die Möglichkeit seiner Änderung und Vervollständigung geleugnet werden; gemeint ist nur, daß es für seine Zeit einen außergewöhnlichen Grad an Vollkommenheit hatte. |