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WILHELM DILTHEY
Einleitung
in die Geisteswissenschaften

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"Schon in Griechenland entsprangen aus den Aufgaben eines höheren politischen Unterrichts im Zeitalter der Sophisten Rhetorik und Politik, und die Geschichte der meisten Geisteswissenschaften bei den neueren Völkern zeigt den herrschenden Einfluß desselben Grundverhältnisses. Die Literatur der Römer über ihr Gemeinwesen empfing ihre älteste Gliederung dadurch, daß sie sich in Instruktionen für die Priestertümer und Magistrate entwickelte. Daher ist schließlich die Systematik derjenigen Wissenschaften des Geistes, welche die Grundlage der Berufsbildung der leitenden Organe der Gesellschaft enthalten, aus dem Bedürfnis der Übersicht über das für eine solche Vorbildung Erforderliche hervorgegangen."

"Die Geisteswissenschaften verknüpfen in sich drei unterschiedene Klassen von Aussagen. Die einen von ihnen sprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahrnehmung gegeben ist; sie enthhhalten den historischen Bestandteil der Erkenntnis. Die anderen entwickeln das gleichförmige Verhalten von Teilinhalten dieser Wirklichkeit, welche durch Abstraktion ausgesondert sind: sie bilden den theoretischen Bestandteil derselben. Die letzten drücken Werturteile aus und schreiben Regeln vor: in ihnen ist der praktische Bestandteil der Geisteswissenschaften befaßt."

III. Das Verhältnis dieses Ganzen
zu dem der Naturwissenschaften

Jedoch in einem weiten Umfang fassen die Geisteswissenschaften Naturtatsachen in sich, haben eine Naturerkenntnis zur Grundlage.

Dächte man sich rein geistige Wesen in einem aus solchen allein bestehenden Personenreich, so würde ihr Hervortreten, ihre Erhaltung und Entwicklung, wie ihr Verschwinden (welche Vorstellungen man sich auch von diesem Hintergrund bildet, aus welchem sie hervortreten sollen und in den sie zurückkehren würden), an Bedingungen geistiger Art gebunden sein; ihr Wohlsein wäre in ihrer Lage zur geistigen Welt gegründet; ihre Verbindung untereinander, ihre Handlungen aufeinander würden sich durch rein geistige Mittel vollziehen und die dauernden Wirkungen ihrer Handlungen würden rein geistiger Art sein; selbst ihr Zurücktreten aus dem Reich der Personen würde im Geistigen seinen Grund haben. Das System solcher Individuen würde in reinen Geisteswissenschaften erkannt werden. In Wirklichkeit entsteht ein Individuum, wird erhalten und entwickelt sich aufgrund der Funktionen des tierischen Organismus und ihrer Beziehungen zum umgebenden Naturlauf; sein Lebensgefühl ist zumindest teilweise in diesen Funktionen gegründet; seine Eindrücke sind von den Sinnesorganen und ihren Affektionen seitens der Außenwelt bedingt; den Reichtum und die Beweglichkeit seiner Vorstellungen und die Stärke sowie die Richtung seiner Willensakte finden wir vielfach von Veränderungen in seinem Nervensystem abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfasern zur Verkürzung, und so ist ein Wirken nach außen an Veränderungen in den Lageverhältnissen der Masseteilchen des Organismus gebunden; dauernde Erfolge seiner Willenshandlungen existieren nur in der Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt. So ist das geistige Leben eines Menschen ein nur durch Abstraktion loslösbarer Teil der psycho-physischen Lebenseinheit, als welche ein Menschendasein und Menschenleben sich darstellt. Das System dieser Lebenseinheiten ist die Wirklichkeit, welche den Gegenstand der geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften ausmacht.

Und zwar ist der Mensch als Lebenseinheit, vermöge des doppelten Standpunktes meiner Auffassung (gleichviel, welher der metaphysische Tatbestand ist), soweit inneres Gewahrwerden reicht, als ein Zusammenhang geistiger Tatsachen, soweit wir dagegen mit den Sinnen auffassen, als ein körperliches Ganzes für uns da. Inneres Gewahrwerden und äußere Auffassung finden niemals in demselben Akt statt, und daher ist und die Tatsache des geistigen Lebens nie mit der unseres Körpers zugleich gegeben. Hieraus ergeben sich mit Notwendigkeit zwei verschiedene, nicht ineinander aufhebbare Standpunkte für die wissenschaftliche Auffassung, welche die geistigen Tatsachen und die Körperwelt in ihrem Zusammenhang, dessen Ausdruck die psycho-physische Lebenseinheit ist, erfassen will. Gehe ich von der inneren Erfahrung aus, so finde ich die gesamte Außenwelt in meinem Bewußtsein gegeben, die Gesetze dieses Naturganzen unter den Bedingungen meines Bewußtseins stehend und sonach von ihnen abhängig. Dies ist der Standpunkt, welchen die deutsche Philosophie an der Grenze des 18. und unseres Jahrhunderts als Transzendentalphilosophie bezeichnete. Nehme ich dagegen den Naturzusammenhang, so wie er als Realität vor mir in meinem natürlichen Auffassen steht, und gewahre in die zeitliche Abfolge dieser Außenwelt sowie in ihre räumliche Verteilung psychische Tatsachen mit eingeordnet, finde ich von dem Eingriff, welchen die Natur selber oder das Experiment macht und welcher in materiellen Veränderungen besteht, wann diese an das Nervensystem herandringen, Veränderungen des geistigen Lebens abhängig, erweitert die Beobachtung der Lebensentwicklung und der krankhaften Zustände diese Erfahrungen zu einem umfassenden Bild der Bedingtheit des Geistigen durch das Körperliche: dann entsteht die Auffassung der Naturforscher, welcher von außen nach innen, von der materiellen Veränderung zur geistigen Veränderung vorandringt. So ist der Antagonismus zwischen dem Philosophen und dem Naturforscher durch den Gegensatz ihrer Ausgangspunkte bedingt.

Ich nehme nun meinen Ausgangspunkt in der Betrachtungsweise der Naturwissenschaft. Sofern diese Betrachtungsweise sich ihrer Grenzen bewußt bleibt, sind ihre Ergebnisse unbestreitbar. Sie empfangen nur vom Standpunkt der inneren Erfahrung aus die nähere Bestimmung ihres Erkenntniswertes. Die Naturwissenschaft zergliedert den ursächlichen Zusammenhang des Naturlaufs. Wo diese Zergliederung die Punkte erreicht hat, an welchen ein materieller Tatbestand oder eine materielle Veränderung regelmäßig mit einem psychischen Tatbestand oder einen psychischen Veränderung verbunden ist, ohne daß zwischen ihnen ein weiteres Zwischenglied auffindbar wäre: da kann eben nur diese regelmäßige Beziehung selber festgestellt werden, das Verhältnis von Ursache und Wirkung kann aber auf diese Beziehung nicht angewandt werden. Wir finden Gleichförmigkeiten des einen Lebenskreises regelmäßig mit solchen des anderen verknüpft, und der mathematische Begriff der Funktion ist der Ausdruck dieses Verhältnisses. Eine Auffassung desselben, vermöge deren der Ablauf der geistigen neben dem der körperlichen Veränderungen mit dem Gang von zwei gleichgestellten Uhren vergleichbar wäre, ist mit der Erfahrung so gut im Einklang als eine Auffassung, welche nur ein Uhrwerk als Erklärungsgrund annimmt, unbildlich, welche beide Erfahrungskreise als verschiedene Erscheinungen eines Grundes betrachtet. Abhängigkeit des Geistigen vom Naturzusammenhang ist also das Verhältnis, welchem gemäß der allgemeine Naturzusammenhang diejenigen materiellen Tatbestände und Veränderungen ursächlich bedingt, welche für uns regelmäßig und ohne eine weitere erkennbare Vermittlung mit geistigen Tatbeständen und Veränderungen verbunden sind. So sieht das Naturerkennen die Verkettung der Ursachen bis zum psycho-physischen Leben hin wirken: hier entsteht eine Veränderung, an welcher die Beziehung des Materiellen und Psychischen sich der ursächlichen Auffassung entzieht, und diese Veränderung ruft rückwärts in der materiellen Welt eine Veränderung hervor. In diesem Zusammenhang schließt sich dem Experiment des Physiologen die Bedeutung der Struktur des Nervensystems auf. Die verwirrenden Erscheinungen des Lebens werden in eine klare Vorstellung der Abhängigkeiten zerlegt, in deren Verfolgung der Naturlauf Veränderungen bis an den Menschen heranführt, diese alsdann durch die Pforten der Sinnesorgane in das Nervensystem dringen, Empfindung, Vorstellen, Gefühl, Begehren entstehen und auf den Naturlauf zurückwirken. Die Lebenseinheit selbst, welche uns mit dem unmittelbaren Gefühl unseres ungeteilten Daseins erfüllt, wird in ein System von Beziehungen aufgelöst, die zwischen den Tatsachen unseres Bewußtseins und der Struktur sowie den Funktionen des Nervensystems empirisch festgestellt werden können: denn jede psychische Aktion zeigt sich nur mittels des Nervensystems mit einer Veränderung innerhalb unseres Körpers verbunden, und eine solche ist ihrerseits nur mittels ihrer Wirkung auf das Nervensystem von einem Wechsel unserer psychischen Zustände begleitet.

Aus dieser Zergliederung der psycho-physischen Lebenseinheiten entspringt nun eine deutlichere Vorstellung der Abhängigkeit derselben vom ganzen Zusammenhang der Natur, innerhalb dessen sie auftreten, wirken und aus dem sie wieder zurücktreten, und somit auch des Studiums der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit von der Naturerkenntnis. Hiernach kann der Grad von Berechtigung festgestellt werden, der den Theorien von COMTE und HERBERT SPENCER über die Stellung dieser Wissenschaften in der von ihnen aufgestellten Hierarchie der Gesamtwissenschaft zukommt. Wie diese Schrift die relative Selbständigkeit der Geisteswissenschaften zu begründen versuchen wird, so hat sie als die andere Seite der Stellung derselben im wissenschaftlichen Gesamtganzen das System von Abhängigkeiten zu entwickeln, vermöge dessen sie durch die Naturerkenntnis bedingt sind, und sonach im Aufbau, welcher in der mathematischen Grundlegung anhebt, das letzte und höchste Glied bilden. Tatsachen des Geistes sind die oberste Grenze der Tatsachen der Natur, die Tatsachen der Natur bilden die unteren Bedingungen des geistigen Lebens. Eben weil das Reich der Personen oder die menschliche Gesellschaft und Geschichte die höchste unter den Erscheinungen der irdischen Erfahrungswelt ist, bedarf seine Erkenntnis an unzähligen Punkten die des Systems von Voraussetzungen, welche für seine Entwicklung im Naturganzen gelegen sind.

Und zwar ist der Mensch, gemäß seiner so dargelegten Stellung im kausalen Zusammenhang der Natur, von dieser in einer zweifachen Beziehung bedingt.

Die psycho-physische Einheit, so sahen wir, empfängt, vermittelt durch das Nervensystem, beständig Einwirkungen aus dem allgemeinsten Naturlauf und sie wirkt wieder auf ihn zurück. Nun liegt es aber in ihrer Natur, daß die Wirkungen, welche von ihr ausgehen, vornehmlich als ein Handeln auftreten, welches von Zwecken geleitet wird. Für diese psycho-physische Einheit kann also einerseits der Naturlauf und seine Beschaffenheit in Bezug auf die Gestaltung der Zwecke selber leitend sein, andererseits ist er für dieselbe als ein System von Mitteln zur Erreichung dieser Zwecke mitbestimmend. Und so sind wir selbst da, wo wir wollen, wo wir auf die Natur wirken, eben weil wir nicht blinde Kräfte sind, sondern Willen, welche ihre Zwecke überlegend feststellen, vom Naturzustand abhängig. Demnach befinden sich die psycho-physischen Einheiten in einer doppelten Abhängigkeit dem Naturlauf gegenüber. Dieser bedingt einerseits von der Stellung der Erde im kosmischen Ganzen ab als ein System von Ursachen die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit, und das große Problem des Verhältnisses von Naturzusammenhang und Freiheit in dieser Wirklichkeit zerlegt sich für den empirischen Forscher in unzählige Einzelfragen, welche das Verhältnis zwischen den Tatsachen des Geistes und den Einwirkungen der Natur betreffen. Andererseits aber entspringen aus den Zwecken dieses Personenreichs Rückwirkungen auf die Natur, auf die Erde, welche der Mensch in diesem Sinn als sein Wohnhaus betrachtet, in dem sich einzurichten er tätig ist, und auch diese Rückwirkungen sind an die Benutzung des naturgeschichtlichen Zusammenhangs gebunden. Alle Zwecke liegen dem Menschen ausschließlich innerhalb des geistigen Vorgangs selber, da ja nur in diesem etwas für ihn da ist; aber der Zweck sucht seine Mittel im Zusammenhang der Natur. Wie unscheinbar ist oft zuerst die Veränderung, welche die schöpferische Macht des Geistes in der Außenwelt hervorgebracht hat: und doch ruht in dieser allein die Vermittlung, durch welche der so geschaffene Wert auch für andere da ist. So sind die wenigen Blätter, welche, als ein materieller Rückstand tiefster Gedankenarbeit der Alten in der Richtung der Annahme einer Bewegung der Erde, in die Hand des KOPERNIKUS kamen, der Ausgangspunkt einer Revolution in unserer Weltansicht geworden.

An diesem Punkt kann eingesehen werden, wie relativ die Abgrenzung dieser beiden Klassen von Wissenschaften voneinander ist. Streitigkeiten, wie sie über die Stellung der allgemeinen Sprachwissenschaft geführt wurden, sind unfruchtbar. An den beiden Übergangsstellen, welche vom Studium der Natur zu dem des Geistigen führen, an den Punkten, an welchen der Naturzusammenhang auf die Entwicklung des Geistigen einwirkt, und an den anderen Punkten, an welchen derselbe von Geistigem eine Einwirkung empfängt oder auch die Durchgangsstelle für die Einwirkung auf anderes Geistiges bildet, vermischen sich überall Erkenntnisse beider Klassen. Erkenntnisse der Naturwissenschaften vermischen sich mit denen der Geisteswissenschaften. Und zwar verwebt sich in diesem Zusammenhang, gemäß der zweifachen Beziehung, in welcher der Naturlauf das geistige Leben bedingt, die Erkenntnis der bildenden Einwirkung der Natur häufig mit der Feststellung des Einflusses, welchen dieselbe als Material des Handelns ausübt. So wird aus der Erkenntnis der Naturgesetze der Tonbildung ein wichtiger Teil der Grammatik und der musikalischen Theorie abgeleitet, und wiederum ist das Genie der Sprache oder Musik an diese Naturgesetze gebunden, und das Studium seiner Leistungen ist daher bedingt durch das Verständnis dieser Abhängigkeit.

Es kann an diesem Punkt weiter eingesehen werden, daß die Erkenntnis der Bedingungen, welche in der Natur liegen und von der Naturwissenschaft entwickelt werden, in einem breiten Umfang die Grundlage für das Studium der geistigen Tatsachen bilden. Wie die Entwicklung des einzelnen Menschen, so ist auch die Ausbreitung des Menschengeschlechts über das Erdganze und die Gestaltung seiner Schicksale in der Geschichte durch den ganzen kosmischen Zusammenhang bedingt. Kriege bilden z. B. einen Hauptbestandteil aller Geschichte, da diese als politische es mit dem Willen von Staaten zu tun hat, dieser aber in Waffen auftritt und sich durch dieselben durchsetzt. Die Theorie des Krieges hängt aber in erster Linie von der Erkenntnis des Physischen ab, welches für die streitenden Willen Unterlage und Mittel darbietet. Denn mit den Mitteln der physischen Gewalt verfolgt der Krieg den Zweck, dem Feind unseren Willen aufzuzwingen. Dies schließt in sich, daß der Gegner auf der Linie bis zur Wehrlosigkeit, welche das theoretische Ziel des als Krieg bezeichneten Aktes der Gewalt bildet, zum dem Punkt hingezwungen wird, an welchem seine Lage nachteiliger ist als das Opfer, das von ihm gefordert wird, und nur mit einer nachteiligeren vertauscht werden kann. In dieser großen Rechnung sind also die für die Wissenschaft wichtigsten, die zumeist beschäftigenden Zahlen die physischen Bedingungen undd Mittel, während über die psychischen Faktoren sehr wenig zu sagen ist.

Und zwar haben die Wissenschaften des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte einmal die der Natur zu ihrer Grundlage, sofern die psycho-physischen Einheiten selber nur mit Hilfe der Biologie studiert werden können, alsdann aber, sofern das Mittel, in dem ihre Entwicklung und ihr Zwecktätigkeit stattfindet, auf dessen Beherrschung also diese letztere sich zu einem großen Teil bezieht, die Natur ist. In der ersteren Rücksicht bilden die Wissenschaften des Organismus ihre Grundlage, in der zweiten vorwiegend die der anorganischen Natur. Und zwar besteht der so aufzuklärende Zusammenhang einmal darin, daß diese Naturbedingungen Entwicklung und Verteilung des geistigen Lebens auf der Erdoberfläche bestimmen, alsdann darin, daß die Zwecktätigkeit des Menschen an die Gesetze der Natur gebunden und so durch ihre Erkenntnis und Benutzung bedingt ist. Daher zeigt das erstere Verhältnis nur die Abhängigkeit des Menschen von der Natur, das zweite aber enthält diese Abhängigkeit nur als die andere Seite der Geschichte seiner zunehmenden Herrschaft über das Erdganz. Derjenige Teil des ersteren Verhältnisses, welcher die Beziehungen des Menschen zur umgebenden Natur einschließt, ist von RITTER einer vergleichenden Methode unterworfen worden. Glänzende Blicke, wie besonders seine vergleichende Schätzung der Erdteile nach der Gliederung ihrer Umrisse, ließen eine in den Raumverhältnissen des Erdganzen festgelegte Prädestionation der Universalgeschichte ahnen. Die folgenden Arbeiten haben diese bei RITTER als Teleologie der Universalgeschichte gedachte, von einem BUCKLE in den Dienst des Naturalismus gezogene Anschauung doch nicht bestätigt: an die Stelle der Vorstellung einer gleichmäßigen Abhängigkeit des Menschen von den Naturbedingungen tritt die vorsichtigere Vorstellung, daß das Ringen der geistig-sittlichen Kräfte mit den Bedingungen der toten Räumlichkeit bei den geschichtlichen Völkern, im Gegensatz zu den geschichtslosen, das Verhältnis von Abhängigkeit beständig vermindert hat. Und so hat sich auch hier eine selbständige, die Naturbedingungen zur Erklärung benutzende Wissenschaft der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit behauptet. Das andere Verhältnis aber zeigt mit der Abhängigkeit, welche durch die Anpassung an die Bedingungen gegeben ist, die Bewältigung der Räumlichkeit durch den wissenschaftlichen Gedanken und die Technik so verbunden, daß die Menschheit in ihrer Geschichte eben mittels der Unterordnung die Herrschaft erringt. Natura enim non nisi parendo vincitur. [Man besiegt die Natur, indem man ihren Gesetzen gehorcht. - wp] (1)

Das Problem des Verhältnisses der Geisteswissenschaften zur Naturerkenntnis kann jedoch erst als gelöst gelten, wenn jener Gegensatz, von dem wir ausgingen, zwischen dem transzendentalen Standpunkt, und dem objektiv empirischen Standpunkt, für welchen die Entwicklung des Geistigen unter den Bedingungen des Naturganzen steht, aufgelöst sein wird. Diese Aufgabe bildet eine Seite des Erkenntnisproblems. Isoliert man dieses Problem für die Geisteswissenschaften, so erscheint eine für alle überzeugende Auflösung nicht unmöglich. Die Bedingungen derselben würden sein: Nachweis der objektiven Realität der inneren Erfahrung; Bewahrheitung der Existenz einer Außenwelt; alsdann sind in dieser Außenwelt geistige Tatsachen und geistige Wesen kraft eines Vorgangs von Übertragung unseres Inneren in dieselbe da; wie das geblendete Auge, das in die Sonne geblickt hat, ihr Bild in den verschiedensten Farben, an den verschiedensten Stellen im Raum wiederholt: so vervielfältigt meine Auffassung das Bild unseres Innenlebens und versetzt es in mannigfachen Abwandlungen an verschiedene Stellen des uns umgebenden Naturganzen; dieser Vorgang läßt sich aber logisch als ein Analogieschluß von diesem originaliter uns allin unmittelbar gegebenen Innenleben, mittels der Vorstellungen von den mit ihm verketteten Äußerungen, auf ein verwandten Erscheinungen der Außenwelt entsprechend Verwandtes, zugrunde Liegendes darstellen und rechtfertigen. Was immer die Natur ansich sein mag, das Studium der Ursachen des Geistigen kann sich daran genügen lassen, daß jedenfalls ihre Erscheinungen als Zeichen des Wirklichen, daß die Gleichförmigkeiten in ihrem Zusammensein und ihrer Folge als ein Zeichen solcher Gleichförmigkeiten im Wirklichen aufgefaßt und benutzt werden können. Tritt man aber in die Welt des Geistes und untersucht die Natur, sofern sie Inhalt des Geistes, sofern sie als Zweck oder Mittel in den Willen eingewoben ist: für den Geist ist sie eben, was sie in ihm ist, und was sie ansich sein mag, ist hier ganz gleichgültig. Genug, daß er so, wie sie ihm gegeben ist, auf ihre Gesetzmäßigkeit in seinen Handlungen rechnen und den schönen Schein ihres Daseins genießen kann.


IV. Die Übersichten über die
Geisteswissenschaften

Es muß versucht werden, dem, welcher in das vorliegende Werk über die Geisteswissenschaften eintritt, einen vorläufigen Überblick über den Umfang dieser anderen Hälfte des globus intellectualis zu geben, und mittels desselben die Aufgabe des Werkes zu bestimmen.

Die Wissenschaften des Geistes sind noch nicht als ein Ganzes konstituiert; noch vermögen sie keinen Zusammenhang aufzustellen, in welchem die einzelnen Wahrheiten nach ihren Abhängigkeitsverhältnissen von anderen Wahrheiten und von der Erfahrung geordnet wären.

Diese Wissenschaften sind in der Praxis des Lebens selber erwachsen, durch die Anforderungen der Berufsbildung entwickelt und die Systematik der dieser Berufsbildung dienenden Fakultäten ist daher die naturgewachsene Form des Zusammenhangs derselben. Wurden doch ihre ersten Begriffe und Regeln zumeist in der Ausübung der gesellschaftlichen Funktionen selber gefunden. JHERING hat nachgewiesen, wie juristisches Denken durch eine im Rechtsleben selber sich vollbringende bewußte geistige Arbeit die Grundbegriffe des römischen Rechts geschaffen hat. So zeigt auch die Analyse der älteren griechischen Verfassungen in ihnen die Niederschläge einer bewunderungswürdigen Kraft politischen Denkens aufgrund klarer Begriffe und Sätze. Der Grundgedanke, welchem gemäß die Freiheit des Individuums in seinem Anteil an der politischen Gewalt gelegen ist, dieser Anteil aber gemäß der Leistung des Individuums für das Ganze durch die staatliche Ordnung geregelt wird, ist zuerst für die politische Kunst selber leitend gewesen, danach von den großen Theoretikern der sokratischen Schule nur in einem wissenschaftlichen Zusammenhang entwickelt worden. Der Fortgang zu umfassenden wissenschaftlichen Theorien lehnte sich dann vorwiegend an das Bedürfnis einer Berufsbildung der leitenden Stände an. So entsprangen schon in Griechenland aus den Aufgaben eines höheren politischen Unterrichts im Zeitalter der Sophisten Rhetorik und Politik, und die Geschichte der meisten Geisteswissenschaften bei den neueren Völkern zeigt den herrschenden Einfluß desselben Grundverhältnisses. Die Literatur der Römer über ihr Gemeinwesen empfing ihre älteste Gliederung dadurch, daß sie sich in Instruktionen für die Priestertümer und Magistrate entwickelte (2). Daher ist schließlich die Systematik derjenigen Wissenschaften des Geistes, welche die Grundlage der Berufsbildung der leitenden Organe der Gesellschaft enthalten, sowie die Darstellung dieser Systematik in Enzyklopädien aus dem Bedürfnis der Übersicht über das für eine solche Vorbildung Erforderliche hervorgegangen, und die natürlichste Form dieser Enzyklopädien wird, wie SCHLEIERMACHER meisterhaft an der Theologie gezeigt hat, immer die sein, welche mit Bewußtsein von diesem Zweck aus den Zusammenhang gliedert. Unter diesen einschränkenden Bedingungen wird der in die Geisteswissenschaften Eintretende in solchen enzyklopädischen Werken einen Überblick über einzelne hervorragende Gruppen dieser Wissenschaften finden. (3)

Versuche, solche Leistungen überschreitend, die Gesamtglieerung der Wissenschaften zu entdecken, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zum Gegenstand haben, sind von der Philosophie ausgegangen. Sofern sie von metaphysischen Prinzipien her diesen Zusammenhang abzuleiten versuchten, sind sie dem Schicksal aller Metaphysik anheimgefallen. Einer besseren Methode bediente sich schon BACON, indem er mit dem Problem einer Erkenntnis der Wirklichkeit durch Erfahrung die vorhandenen Wissenschaften des Geistes in Beziehung setzte und ihre Leistungen wie ihre Mängel an der Aufgabe maß. COMENIUS beabsichtigte in seiner Pansophia aus dem Verhältnis der inneren Abhängigkeit der Wahrheiten voneinander die Stufenfolge, in welcher sie im Unterricht auftreten müssen, abzuleiten, und wie er so im Gegensatz den falschen Begriff der formalen Bildung den Grundgedanken eines künftigen Unterrichtswesens (das leider auch heute noch Zukunft ist) entdeckte, hat er durch das Prinzip der Abhängigkeit der Wahrheiten voneinander eine angemessene Gliederung der Wissenschaften vorbereitet. Indem COMTE die Beziehung zwischen diesem logischen Verhältnis von Abhängigkeit, in welchem Wahrheiten zueinander stehen und dem geschichtlichen Verhältnis der Abfolge, in welchem sie auftreten, der Untersuchung unterwarf: schuf er die Grundlage für eine wahre Philosophie der Wissenschaften. Die Konstitution der Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeiten betrachtete er als das Ziel seiner großen Arbeit, und in der Tat brachte sein Werk eine starke Bewegung in dieser Richtung hervor; MILL, LITTRÉ, HERBERT SPENCER haben das Problem des Zusammenhangs der geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften aufgenommen (4). Diese Arbeiten gewähren dem in die Geisteswissenschaften Eintretenden eine ganz andere Art von Überblick als die Systematik der Berufsstudien. Sie stellen die Geisteswissenschaften in den Zusammenhang der Erkenntnis, sie fassen das Problem derselben in seinem ganzen Umfang, und nehmen die Lösung in einer die ganze geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit umfassenden wissenschaftlichen Konstruktion in Angriff. Jedoch, erfüllt von der unter den Engländern und Franzosen heute herrschenden verwegenen wissenschaftlichen Baulust, ohne das intime Gefühl der geschichtlichen Wirklichkeit, welches sich nur aus einer vieljährigen Beschäftigung mit derselben in der Einzelforschung bildet, haben die Positivisten gerade denjenigen Ausgangspunkt für ihre Arbeiten nicht gefunden, welcher ihrem Prinzip der Verknüpfung der Einzelwissenschaften entsprochen hätte. Sie hätten ihre Arbeit damit beginnen müssen, die Architektonik des ungeheuren, durch Anfügung beständig erweiterten, von innen immer wieder veränderten, durch Jahrtausende allmählich entstandenen Gebäudes der positiven Geisteswissenschaften zu ergründen, durch eine Vertiefung in den Bauplan sich verständlich zu machen, und so der Vielseitigkeit, in welcher diese Wissenschaften sich tatsächlich entwickelt haben, mit gesundem Blick für die Vernunft der Geschichte gerecht zu werden. Sie haben einen Notbau errichtet, der nicht haltbarer ist, als die verwegenen Spekulationen eines SCHELLING und OKEN über die Natur. Und so ist es gekommen, daß die aus einem metaphysischen Prinzip entwickelten Geistesphilosophien Deutschlands, von HEGEL, SCHLEIERMACHER und dem späteren SCHELLING, den Erwerb der positiven Geisteswissenschaften mit tieferem Blick verwerten, als die Arbeiten einer umfassenden Gliederung auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften sind in Deutschland von der Vertiefung in die Aufgaben der Staatswissenschaften ausgegangen, wodurch freilich eine Einseitigkeit des Gesichtspunktes bedingt ist (5).

Die Geisteswissenschaften bilden kein Ganzes von einer logischen Konstitution, welche der Gliederung des Naturerkennens analog wäre; ihr Zusammenhang hat sich anders entwickelt und muß wie er geschichtlich gewachsen ist nunmehr betrachtet werden.


V. Ihr Material

Das Material dieser Wissenschaften bildet die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, soweit sie sich als geschichtliche Kunde im Bewußtsein der Menschheit erhalten hat, als gesellschaftliche, über den gegenwärtigen Zustand sich erstreckende Kunde der Wissenschaft zugänglich gemacht worden ist. So unermeßlich dieses Material ist, so ist doch seine Unvollkommenheit augenscheinlich. Interessen, welche dem Bedürfnis der Wissenschaft keineswegs entsprechen, Bedingungen der Überlieferung, welche in keiner Beziehung zu diesem Bedürfnis stehen, haben den Bestand unserer geschichtlichen Kunde bestimmt. Ab der Zeit, in welcher, um das Lagerfeuer versammelt, Stammes- und Kriegsgenossen von den Taten ihrer Helden und dem göttlichen Ursprung ihres Stammes erzählten, hat das starke Interesse der Mitlebenden aus dem dunklen Fluß des gewöhnlichen menschlichen Lebens Tatsachen emporgehoben und bewahrt. Das Interesse einer späteren Zeit und geschichtliche Fügung haben darüber entschieden, was von diesen Tatsachen auf uns gelangen sollte. Geschichtsschreibung, als eine freie Kunst der Darstellung, faßt einen einzelnen Teil dieses unermeßlichen Ganzen zusammen, der des Interesses unter einem Gesichtspunkt wert erscheint. Dazu kommt: die heutige Gesellschaft lebt sozusagen auf den Schichten und Trümmern der Vergangenheit; die Niederschläge der Kulturarbeit in Sprache und Aberglaube, in Sitte und Recht, wie andererseits in materiellen Veränderungen, die über Aufzeichnungen hinausgehen, enthalten eine Überlieferung, welche in unschätzbarer Weise die Aufzeichnungen unterstützt. Auch über ihre Erhaltung hat doch die Hand der geschichtlichen Fügung entschieden. Nur an zwei Punkten besteht ein den Anforderungen der Wissenschaft entsprechender Zustand des Materials. Der Verlauf der geistigen Bewegungen im neueren Europa ist in den Schriften, welche seine Bestandteile sind, mit einer zureichenden Vollständigkeit erhalten. Und die Arbeiten der Statistik gestatten für den engen Zeitraum und den engen Bezirk von Ländern, innerhalb deren sie zur Anwendung gekommen sind, einen zahlenmäßig festgestellten Einblick in die von ihnen umfaßten Tatsachen der Gesellschaft: sie ermöglichen, der Kunde des gegenwärtigen Zustandes der Gesellschaft eine exakte Grundlage zu geben.

Die Unanschaulichkeit in diesem Zusammenhang dieses unermeßlichen Materials kommt zu dieser Lückenhaftigkeit, ja hat nicht wenig dazu beigetragen, die letztere zu steigern. Als der menschliche Geist die Wirklichkeit seiner Gedanken zu unterwerfen begann, wandte er sich zuerst, von Staunen angezogen, dem Himmel entgegen; diese Wölbung über uns, die auf dem Rund des Horizonts zu ruhen scheint, beschäftigte ihn: ein in sich verbundenes räumliches, den Menschen und überall umgehendes Ganzes; so war die Orientierung im Weltgebäude der Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung, in den östlichen Ländern wie in Euroa. Der Kosmos der geistigen Tatsachen ist in seiner Unermeßlichkeit nicht dem Auge sichtbar, sondern nur dem sammelnden Geist des Forschers; in irgendeinem einzelnen Teil tritt er hervor, wo ein Gelehrter Tatsachen verbindet, und prüft und feststellt: im Innern des Gemütes baut er sich dann auf. Eine kritische Sichtung der Überlieferungen, Feststellung der Tatsachen, Sammlung derselben bildet daher eine erste umfassende Arbeit der Geisteswissenschaften. Nachdem die Philologie eine mustergültige Technik aum schwierigsten und schönsten Stoff der Geschichte, dem klassischen Altertum, herausgebildet hat, wird diese Arbeit teils in unzähligen Einzelforschungen geleistet, teils bildet sie einen Bestandteil von weitreichenden Untersuchungen. Der Zusammenhang dieser reinen Deskriptin der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie er auf dem Grund der Physik der Erde, angelehnt an die Geographie, die Verteilung des Geistigen und seiner Unterschiede auf dem Erdganzen in Zeit und Raum zu beschreiben zum Ziel hat, kann seine Anschaulichkeit immer nur durch die Zurückführung auf klare räumliche Maße, Zahlenverhältnisse, Zeitbestimmungen, durch die Hilfsmittel einer graphischen Darstellung empfangen. Bloße Sammlung und Sichtung des Materials geht hier in eine gedankenmäßige Bearbeitung und Gliederung desselben allmählich über.


VI. Drei Klassen von Aussagen in ihnen

Die Geisteswissenschaften, wie sie sind und wirken, kraft der Vernunft der Sache, die in ihrer Geschichte tätig war (nicht wie die kühnen Architekten, die sie neu bauen wollen, wünschen), verknüpfen in sich drei unterschiedene Klassen von Aussagen. Die einen von ihnen sprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahrnehmung gegeben ist; sie enthhhalten den historischen Bestandteil der Erkenntnis. Die anderen entwickeln das gleichförmige Verhalten von Teilinhalten dieser Wirklichkeit, welche durch Abstraktion ausgesondert sind: sie bilden den theoretischen Bestandteil derselben. Die letzten drücken Werturteile aus und schreiben Regeln vor: in ihnen ist der praktische Bestandteil der Geisteswissenschaften befaßt. Und die Beziehung zwischen der historischen Richtung in der Auffassung, der abstrakt-theoretischen und der praktischen geht als ein gemeinsames Grundverhältnis durch die Geisteswissenschaften. Die Beziehung dieser drei Aufgaben zueinander im denkenden Bewußtsein kann erst im Verlauf der erkenntnistheoretischen Analyse (umfassender: der Selbstbesinnung) entwickelt werden. Jedenfalls bleiben Aussagen über die Wirklichkeit von Werturteilen und Imperativen auch in der Wurzel gesondert: so entstehen zwei Arten von Sätzen, die primär verschieden sind. Und zugleich muß anerkannt werden, daß diese Verschiedenheit innerhalb der Geisteswissenschaften einen doppelten Zusammenhang in denselben zur Folge hat. Wie sie gewachsen sind, enthalten die Geisteswissenschaften neben der Erkenntnis dessen, was ist, das Bewußtsein des Zusammenhangs der Werturteile und Imperative, in welchem Werte, Ideale, Regeln, die Richtung auf eine Gestaltung der Zukunft verbunden sind. Ein politisches Urteil, das eine Institution verwirft, ist nicht wahr oder falsch, sondern richtig oder unrichtig, insofern seine Richtung, sein Ziel abgeschätzt wird; wahr oder falsch kann dagegen ein politisches Urteil sein, welches die Beziehungen dieser Institution zu anderen Institutionen erörtert. Erst indem diese Einsicht für die Theorie von Satz, Aussage, Urteil leitend wird, entsteht eine erkenntnis-theoretische Grundlage, die den Tatbestand der Geisteswissenschaften nicht in die Enge einer Erkenntnis von Gleichförmigkeiten nach Analogie der Naturwissenschaft zusammendrängt und solchergestalt verstümmelt, sondern wie sie gewachsen sind, begreift und begründet.


VII. Aussonderung der Einzelwissenschaften
aus der geschichtlich-gesellschaftlichen
Wirklichkeit

Die Zwecke der Geisteswissenschaften, das Singulare, Individuale der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen, die in seiner Gestaltung wirksamen Gleichförmigkeiten zu erkennen, Ziele und Regeln seiner Fortgestaltung festzustellen, können nur mittels der Kunstgriffe des Denkens, mittels der Analyse und der Abstraktion erreicht werden. Der abstrakte Ausdruck, in welchem von bestimmten Seiten des Tatbestandes abgesehen wird, andere aber entwickelt werden, ist nicht das ausschließliche letzte Ziel dieser Wissenschaften, aber ihr unentbehrliches Hilfsmittel. Wie das abstrahierende Erkennen nicht die Selbständigkeit der anderen Zwecke dieser Wissenschaften in sich auflösen darf; so kann weder die geschichtliche, die theoretische Erkenntnis noch die Entwicklung der die Gesellschaft tatsächlich leitenden Regeln dieses abstrahierenden Erkennens entraten. Der Streit zwischen der historischen und der abstrakten Schule entstand, indem die abstrakte Schule den ersten, die historische den anderen Fehler beging. Jede Einzelwissenschaft entsteht nur durch den Kunstgriff der Herauslöung eines Teilinhalts aus der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Selbst die Geschichte sieht von den Zügen im Leben der einzelnen Menschen und der Gesellschaft, welche in der von ihr darzustellenden Epoche denen aller anderen Epochen gleich sind, ab; ihr Blick ist auf das Unterscheidende und Singulare gerichtet. Hierüber kann sich der einzelne Geschichtsschreiber täuschen, da aus einer solchen Richtung des Blickes schon die Auswahl der Züge in seinen Quellen entspringt; aber wer die Wirkliche Leistung desselben mit dem ganzen Tatbestand der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit vergleicht, muß es anerkennen. Hieraus ergibt sich der wichtige Satz, daß jede einzelne Wissenschaft des Geistes nur relativ, in ihrer Beziehung zu anderen Wissenschaften des Geistes mit Bewußtsein erfaßt, die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit erkennt. Die Gliederung dieser Wissenschaften, ihr gesundes Wachstum in ihrer Besonderung ist sonach an die Einsicht in die Beziehung jeder ihrer Wahrheiten auf das Ganze der Wirklichkeit, in der sie enthalten sind, sowie an das stete Bewußtsein der Abstraktion, vermöge deren diese Wahrheiten da sind, und den begrenzten Erkenntniswertes, der ihnen gemäß ihrem abstrakten Charakter zukommt, gebunden.

Nun kann vorgestellt werden, welche die fundamentalen Zerlegungen sind, vermöge deren die einzelnen Wissenschaften des Geistes ihren ungeheuren Gegenstand zu bewältigen haben.


VIII. Wissenschaften der Einzelmenschen
als der Elemente dieser Wirklichkeit

Die Analyse findet in den Lebenseinheiten, den psycho-physischen Individuis die Elemente, aus welchen Gesellschaft und Geschichte sich aufbauen, und das Studium dieser Lebenseinheiten bildet die am meisten fundamentale Gruppe von Wissenschaften des Geistes. Den Naturwissenschaften ist der Sinnenschein von Körpern verschiedener Größe, die sich im Raum bewegen, sich ausdehnen und erweitern, zusammenziehen und verringern, in welchen Veränderungen der Beschaffenheiten vorgehen, als Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen gegeben. Sie haben sich nur langsam richtigeren Ansichten über die Konstitution der Materie genähert. In diesem Punkt besteht ein viel günstigeres Verhältnis zwischen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und der Intelligenz. Dieser ist in ihr selber die Einheit unmittelbar gegeben, welche das Element im vielverwickelten Gebilde der Gesellschaft ist, während dasselbe in den Naturwissenschaften erschlossen werden muß. Die Subjekte, in welche das Denken die Prädizierungen, durch die alles Erkennen stattfindet, nach seinem unweigerlichen Gesetz heftet, sind in den Naturwissenschaften Elemente, welche durch eine Zerteilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zerschlagen, Zersplittern der Dinge nur hypothetisch gewonnen sind; in den Geisteswissenschaften sind es reale, in der inneren Erfahrung als Tatsachen gegebene Einheiten. Die Naturwissenschaft baut die Materie aus kleinen, keiner selbständigen Existenz mehr fähigen, nur noch als Bestandteile der Moleküle denkbaren Elementarteilchen auf; die Einheiten, welche in einem wunderbar verschlungenen Ganzen der Geschichte und der Gesellschaft aufeinander wirken, sind Individua, psycho-physische Ganze, deren jedes von jedem anderen unterschieden, deren jedes eine Welt ist. Ist doch die Welt nirgend anders als eben in der Vorstellung eines solchen Individuums. Diese Unermeßlichkeit eines psycho-physischen Ganzen, in der schließlich die Unermeßlichkeit der Natur nur enthalten ist, läßt sich an der Analyse der Vorstellungswelt verdeutlichen, als in welcher sich aus Empfindungen und Vorstellungen eine Einzelanschauung aufbaut, dann aber, aus welcher Fülle von Elementen sie auch besteht, als ein Element in die bewußte Verknüpfung und Trennung der Vorstellungen eintritt. Und diese Singularität eines jeden solchen einzelnen Individuums, das an irgendeinem Punkt des unermeßlichen Kosmos wirkt, läßt sich, gemäß dem Satz: individuum est ineffabile [Das Einzelne liegt jenseits aller Worte. - wp], in seine einzelnen Bestandteile verfolgen, wodurch sie erst in ihrer ganzen Bedeutung erkannt wird.

Die Theorie dieser psycho-physischen Lebenseinheiten ist die Anthropologie und Psychologie. Ihr Material bildet die ganze Geschichte und Lebenserfahrung, und gerade die Schlüsse aus dem Studium der psychischen Massenbewegungen werden in ihr eine stets wachsende Bedeutung erlangen. Die Verwertung des ganzen Reichtums der Tatsachen, welche den Stoff der Geisteswissenschaften überhaupt bilden, ist der wahren Psychologie sowohl mit den Theorien, von denen demnächst zu sprechen sein wird, als mit der Geschichte gemeinsam. Alsdann aber ist festzuhalten: außerhalb der psychischen Einheiten, welche den Gegenstand der Psychologie bilden, gibt es überhaupt keine geistige Tatsache für unsere Erfahrung. Da nun die Psychologie keineswegs alle Tatsachen in sich schließt, welche Gegenstand der Geisteswissenschaften sind, oder (was dasselbe ist) welche die Erfahrung uns an psychischen Einheiten auffassen läßt: so ergibt sich hieraus, daß die Psychologie nur einen Teilinhalt dessen, was in jedem einzelnen Individuum vorgeht, zum Gegenstand hat. Sie kann daher nur durch eine Abstraktion von der Gesamtwissenschaft der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesondert und nur in beständiger Beziehung auf sie entwickelt werden. Wohl ist die psycho-physische Einheit dadurch in sich geschlossen, daß für sie nur Zweck sein kann, was in ihrem eigenen Willen gesetzt ist, nur wertvoll, was in ihrem Gefühl so gegeben ist, nur wirklich und wahr, was sich als gewiß, als evident vor ihrem Bewußtsein bewährt. Aber dieses so geschlossene, im Selbstbewußtsein seiner Einheit gewisse Ganze ist andererseits nur im Zusammenhang der gesellschaftlichen Wirklichkeit hervorgetreten; seine Organisation zeigt es als von außen Einwirkungen empfangend und nach außen zurückwirkend; seine ganze Inhaltlichkeit ist nur eine inmitten der umfassenden Inhaltlichkeit des Geistes in der Geschichte und Gesellschaft vorübergehend auftretende einzelne Gestalt; ja der höchste Zug seines Wesens ist es, vermöge dessen es in etwas lebt, das nicht es selber ist. Der Gegenstand der Psychologie ist also jederzeit nur das Individuum, welches aus dem lebendigen Zusammenhang der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesondert ist, und sie ist darauf angewiesen, die allgemeinen Eigenschaften, welche psychische Einzelwesen in diesem Zusammenhang entwickeln, durch einen Vorgang von Abstraktion festzustellen. Den Menschen, wie er, abgesehen von der Wechselwirkung in der Gesellschaft, gleichsam vor ihr ist, findet sie weder in der Erfahrung, noch vermag sie ihn zu erschließen: wäre das der Fall, so würde der Aufbau der Geisteswissenschaften sich ungleich einfacher gestaltet haben. Selbst der ganz enge Umkreis unbestimmt ausdrückbarer Grundzüge, welche wir geneigt sind, dem Menschen an und für sich zuzuschreiben, unterliegt dem ungeschlichteten Streit hart aneinander stoßender Hypothesen.

Hier kann also sofort ein Verfahren abgewiesen werden, welches den Aufbau der Geisteswissenschaften unsicher macht, indem es in die Grundmauern Hypothesen einfügt. Das Verhältnis der Individualeinheiten zur Gesellschaft ist von zwei entgegengesetzten Hypothesen aus konstruktiv behandelt worden. Seitdem dem Naturrecht der Sophisten PLATOs Auffassung des Staates als des Menschen im Großen gegenübertrat, befehden sich diese beiden Theorien, ähnlich wie die atomistische und die dynamische, in Bezug auf die Konstruktion der Gesellschaft. Wohl nähern sie sich einander in ihrer Fortbildung, aber die Auflösung des Gegensatzes ist erst möglich, wenn die konstruktive Methode, die ihn hervorbrachte, verlassen wird, wenn die einzelnen Wissenschaften der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Teile eines umfassenden analytischen Verfahrens, die einzelnen Wahrheiten als Aussagen über Teilinhalte dieser Wirklichkeit aufgefaßt werden. In diesem analytischen Gang der Untersuchung kann die Psychologie nicht, wie durch die erste dieser Hypothesen geschieht, als Darstellung der anfänglichen Ausstattung eines vom geschichtlichen Stamm der Gesellschaft losgelösten Individuums entwickelt werden. Haben doch z. B. die Grundverhältnisse des Willens wohl den Schauplatz des Wirkens in den Individuen, aber nicht den Erklärungsgrund. Eine solche Isolierung und dann eine mechanische Zusammensetzung von Individuen, als Methode der Konstruktion der Gesellschaft, war der Grundfehler der alten naturrechtlichen Schule. Die Einseitigkeit dieser Richtung ist immer wieder bekämpft worden durch eine entgegengesetzte Einseitigkeit. Diese hat, gegenüber einer mechanischen Zusammensetzung der Gesellschaft, Formeln entworfen, welche die Einheit des gesellschaftlichen Körpers ausdrücken und so der anderen Hälfte des Tatbestandes genugtun sollten. Eine solche Formel ist die Unterordnung des Einzelnen zum Staat unter das Verhältnis des Teils zum Ganzen, welches vor dem Teil ist, in der Staatslehre des ARISTOTELES; ist die Durchführung der Vorstellung vom Staat als einem wohlgeordneten tierischen Organismus bei den Publizisten des Mittelalters, welche von bedeutenden gegenwärtigen Schriftstellern verteidigt und näher ausgebildet wird; ist der Begriff einer Volksseele oder eines Volksgeistes. Nur durch den geschichtlichen Gegensatz haben diese Versuche, die Einheit der Individuen in der Gesellschaft einem Begriff unterzuordnen, eine vorübergehende Berechtigung. Der Volksseele fehlt die Einheit des Selbstbewußtseins und Wirkens, welche wir im Begriff der Seele ausdrücken. Der Begriff des Organismus substituiert für ein gegebenes Problem ein anderes, und zwar wird vielleicht, wie schon JOHN STUART MILL bemerkt hat, die Auflösung des Problems der Gesellschaft früher und vollständiger gelingen als die des Problems des tierischen Organismus; schon jetzt aber kann die außerordentliche Verschiedenheit dieser beiden Arten von Systemen, in denen zu einer Gesamtleistung einander gegenseitig bedingende Funktionen zusammengreifen, gezeigt werden. Das Verhältnis der psychischen Einheiten zur Gesellschaft darf sonach überhaupt keine Konstruktion unterworfen werden. Kategorien, wie Einheit und Vielheit, Ganzes und Teil, sind für eine Konstruktion nicht benutzbar: selbst wo die Darstellung ihrer nicht entbehren kann, darf nie vergessen werden, daß sie in der Erfahrung des Individuums von sich selber ihren lebendigen Ursprung gehabt haben, daß sonach durch keine Rückanwendung mehr am Erlebnis, welches das Individuum sich selber in der Gesellschaft ist, aufgeklärt werden kann, als die Erfahrung für sich zu sagen imstande ist.

Der Mensch als eine der Geschichte und Gesellschaft vorhergehende Tatsache ist eine Fiktion der genetischen Erklärung; derjenige Mensch, den eine gesunde analytische Wissenschaft zum Objekt hat, ist das Individuum als ein Bestandteil der Gesellschaft. Das schwierige Problem, welches die Psychologie aufzulösen hat, ist: analytische Erkenntnis der allgemeinen Eigenschaften dieses Menschen.

So aufgefaßt, ist Anthropologie und Psychologie die Grundlage aller Erkenntnis des geschichtlichen Lebens, wie aller Regeln der Leitung und Fortbildung der Gesellschaft. Sie ist nicht nur eine Vertiefung des Menschen in die Betrachtung seiner selbst. Ein Typus der Menschennatur steht immer zwischen dem Geschichtsschreiber und seinen Quellen, aus denen er Gestalten zu pulsierendem Leben erwecken will; er steht nicht minder zwischen dem politischen Denker und der Wirklichkeit der Gesellschaft, welcher dieser Regeln ihrer Fortbildung entwerfen will. Die Wissenschaft will nur diesem subjektiven Typus Richtigkeit und Fruchtbarkeit geben. Sie will allgemeine Sätze entwickeln, deren Subjekt diese Individualeinheit ist, deren Prädikate alle Aussagen über sie sind, welche für das Verständnis der Gesellschaft und der Geschichte fruchtbar werden können. Diese Aufgabe der Psychologie und Anthropologie schließt aber in sich eine Erweiterung ihres Umfangs. Über die bisherige Erforschng der Gleichförmigkeiten des geistigen Lebens hinaus muß sie typische Unterschiede desselben erkennen, die Einbildungskraft des Künstlers, das Naturell des handelnden Menschen der Beschreibung und Analysis unterwerfen und das Studium der Formen des geistigen Lebens durch die Beschreibung der Realität seines Verlaufs sowie seines Inhaltes ergänzen. Hierdurch wird die Lücke ausgefüllt, welche in den bisherigen Systemen der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit zwischen der Psychologie einerseits, der Ästhetik, Ethik, den Wissenschaften der politischen Körper sowie der Geschichtswissenschaft andererseits existiert: ein Platz, der bisher nur von den ungenauen Generalisationen der Lebenserfahrung, den Schöpfungen der Dichter, Darstellungen der Weltmänner von Charakteren und Schicksalen, unbestimmten allgemeinen Wahrheiten, welche der Geschichtsschreiber in seine Erzählung verwebt, eingenommen war.

Die Aufgaben einer solchen grundlegenden Wissenschaft kann die Psychologie nur lösen, indem sie sich in den Grenzen einer deskriptiven Wissenschaft hält, welche Tatsachen und Gleichförmigkeiten an Tatsachen feststellt, dagegen die erklärende Psychologie, welche den ganzen Zusammenhang des geistigen Lebens durch gewisse Annahmen ableitbar machen will, von sich reinlich unterscheidet. Nur durch dieses Verfahren kann ür die letztere ein genaues, unbefangen festgestelltes Material gewonnen werden, welches eine Verifikation der psychologischen Hypothesen gestattet. Vor allem aber: nur so können endlich die Einzelwissenschaften des Geistes eine Grundlegung erhalten, die selber fest ist, während jetzt auch die besten Darstellungen der Psychologie Hypothesen auf Hypothesen bauen.

Wir ziehen das Ergebnis für den Zusammenhang dieser Darlegung. Der einfachste Befund, welchen die Analysis der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit abzugewinnen vermag, liegt in der Psychologie vor; sie ist demnach die erste und elementarste unter den Einzelwissenschaften des Geistes; dementsprechend bilden ihre Wahrheiten die Grundlage des weiteren Aufbaus. Aber ihre Wahrheiten enthalten nur einen aus dieser Wirklichkeit ausgelösten Teilinhalt und haben daher die Beziehung auf diese zu Voraussetzung. Demnach kann nur mittels einer erkenntnistheoretischen Grundlegung die Beziehung der psychologischen Wissenschaft zu den anderen Wissenschaften des Geistes und zur Wirklichkeit selber, deren Teilinhalte sie sind, aufgeklärt werden. Für die Psychologie selber aber ergibt sich aus ihrer Stellung im Zusammenhang der Geisteswissenschaften, daß sie als deskriptive Wissenschaft (ein in der von der erklärenden Wissenschaft, welche, ihrer Natur nach hypothetisch, einfach Annahmen die Tatsachen des geistigen Lebens zu unterwerfen unternimmt.

Die Darstellung der einzelnen psycho-physischen Lebenseinheit ist die Biographie. Das Gedächtnis der Menschheit hat sehr viele Individualexistenzen des Interesses und der Aufbewahrung würdig befunden. CARLYLE sagt einmal von der Geschichte: "Weises Erinnern und weises Vergessen, darin liegt alles." Das Singulare des Menschendaseins ergreift eben, nach der Gewalt, mit der das Individuum die Anschauung und die Liebe anderer Individuen zu sich hinreißt, stärker als irgendein anderes Objekt oder irgendeine Generalisation. Die Stellung der Biographie innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft entspricht der Stellung der Anthropologie innerhalb der theoretischen Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Daher wird der Fortschritt der Anthropologie und die wachsende Erkenntnis ihrer grundlegenden Stellung auch die Einsicht vermitteln, daß die Erfassung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaseins, seine Naturbeschreibung in seinem geschichtlichen Milieu, ein Höchstes an Geschichtsschreibung ist, gleichwertig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geschichtlichen Darstellung, die aus einem breiteren Stoff gestaltet ist. Der Wille eines Menschen, in seinem Verlauf und seinem Schicksal, wird hier in seiner Würde als Selbstzweck erfaßt, und der Biograph soll den Menschen sub specie aeterni [im Licht der Ewigkeit - wp] erblicken, wie er selbst sich in Momenten fühlt, in welchen zwischen ihm und der Gottheit alle Hülle, Gewand und Mittel ist und er sich dem Sternenhimmel so nahe fühlt, wie irgendeinem anderen Teil der Erde. Die Biographie stellt so die fundamentale geschichtliche Tatsache rein, ganz, in ihrer Wirklichkeit dar. Und nur der Historiker, der sozusagen von diesen Lebenseinheiten aus die Geschichte aufbaut, der durch den Begriff von Typus und Repräsentation sich der Auffassung von Ständen, von gesellschaftlichen Verbänden überhaupt, von Zeitaltern zu nähern sucht, der durch den Begriff von Generationen Lebensläufe aneinanderkettet, wird die Wirklichkeit eines geschichtlichen Ganzen erfassen, im Gegensatz zu den toten Abstraktionen, die zumeist aus den Archiven entnommen werden.

Ist die Biographie ein wichtiges Hilfsmittel für die weitere Entwicklung einer wahren Realpsychologie, so hat sie andererseits in m dermaligen Zustand dieser Wissenschaft ihre Grundlage. Man kann das wahre Verfahren des Biographen als Anwendung der Wissenschaft der Anthropologie und Psychologie auf das Problem, eine Lebenseinheit, ihre Entwicklung und ihr Schicksal lebendig und verständlich zu machen, bezeichnen.

Regeln persönlicher Lebensführung haben zu allen Zeiten einen weiteren Zweig der Literatur gebildet; einige der schönsten und tiefsten Schriften aller Literatur sind diesem Gegenstand gewidmet. Sollen sie aber den Charakter der Wissenschaft erlangen: so führt eine solche Bestrebung zurück in die Selbstbesinnung über den Zusammenhang zwischen unserer Erkenntnis von der Wirklichkeit der Lebenseinheit und unserem Bewußtsein von den Beziehungen der Werte zueinander, welche unser Wille und unser Gefühl im Leben finden.

An der Grenze der Naturwissenschaften und der Psychologie hat sich ein Gebiet von Untersuchungen ausgesondert, welches von seinem ersten genialen Bearbeiter als Psychophysik bezeichnet worden ist und welches sich durch das Zusammenwirken hervorragender Forscher zu dem Entwurf einer physiologischen Psychologie erweitert hat. Diese Wissenschaft ging davon aus, ohne Rücksicht auf den metaphysischen Streit über Körper und Seele die tatsächlichehen Psychologie erweitert hat. Diese Wissenschaft ging davon aus, ohne Rücksicht auf den metaphysischen Streit über Körper und Seele die tatsächlichen Beziehungen zwischen diesen beiden Erscheinungsgebieten möglichst genau feststellen zu wollen. Der neutrale, in der äußersten hier denkbaren Abstraktion verbleibende Begriff der Funktion in seiner mathematischen Bedeutung wurde hierbei von FECHNER zugrunde gelegt und die Feststellung der bestehenden so in zwei Richtungen darstellbaren Abhängigkeiten als das Ziel dieser Wissenschaft festgehalten. Den Mittelpunkt seiner Untersuchungen bildete das Funktionsverhältnis zwischen Reiz und Empfindung. Will jedoch diese Wissenschaft die Lücke, welche zwischen Physiologie und Psychologie besteht, vollständig ausfüllen, will sie alle Berührungspunkte des körperlichen und psychischen Lebens umfassen und zwischen Physiologie und Psychologie die Verbindung so vollständig und wirksam wie möglich herstellen: dann findet sie sich genötigt, diese Beziehung in die umfassende Vorstellung des ursächlichen Zusammenhangs der gesamten Wirklichkeit einzuordnen. Und zwar bildet die einseitige Dependenz [Abhängigkeit - wp] psychischer Tatsachen und Veränderungen von physiologischen den Hauptgegenstand einer solchen physiologischen Psychologie. Sie entwickelt die Abhängigkeit des geistigen Lebens von seiner körperlichen Unterlage; untersucht die Grenzen, innerhalb deren eine solche Abhängigkeit nachweisbar ist; stellt alsdann auch die Rückwirkungen dar, welche von den geistigen Veränderungen zu den körperlichen gehen. So verfolgt sie das geistige Leben, von den Beziehungen, welche zwischen der physiologischen Leistung der Sinnesorgane und dem psychischen Vorgang von Empfindung und Wahrnehmung obwalten, zu denen zwischen dem Auftreten, Verschwinden, der Verkettung der Vorstellungen einerseits, der Struktur und der Funktionen des Gehirns andererseits, bis zu denen, welche zwischen dem Reflexmechanismus und motorischen System und entsprechend der Lautbildung, Sprache und geregelten Bewegung bestehen.
LITERATUR: Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Leipzig 1883
    Anmerkungen
    1) Baconis aphorismi de interpretatione naturae et regno hominis [Aphorismus 3].
    2) Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht I, Seite 3f.
    3) Für den Zweck einer so bedingten Übersicht über einzelne Gebiete der Geisteswissenschaften kann auf folgende Enzyklopädien verwiesen werden: Mohl, Enzyklopädie der Staatswissenschaften, Tübingen 1859. Vgl. dazu Übersicht und Beurteilung anderer Enzyklopädien in seiner Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 1, Seite 111-164. Warnkönig, Juristische Enzyklopädie oder organische Darstellung der Rechtswissenschaft, 1853. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, Berlin 1810. Böckh, Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von Bratuschek, 1877.
    4) Eine Übersicht der Probleme der Geisteswissenschaften nach dem inneren Zusammenhang, in welchem sie methodisch zueinander stehen, und in welchem folgerecht ihre Auflösung herbeigeführt werden kann, findet man entworfen in: Auguste Comte, "Cours de philosophie positive", 1830-1842, vom 4. bis 6. Band. Seine späteren Werke, welche einen veränderten Standpunkt enthalten, können einem solchen Zweck nicht dienen. Der bedeutendste Gegenentwurf des Systems der Wissenschaften ist von Herbert Spencer. Dem ersten Angriff auf Comte in Spencer, "Essays", first series, 1858 folgte die genauere Darlegung in: "The classification of sciences", 1864 (vgl. die Verteidigung Comtes in Littré, "Auguste Comte et la philosophie positive). Die ausgeführte Darstellung der Gliederung der Geisteswissenschaften gibt nunmehr sein System der synthetischen Philosophie, von welchem die Prinzipien der Psychologie zuerst 1855 erschienen, die der Soziologie seit 1876 hervortreten (mit Beziehung auf das Werk: "Descriptive Sociology"), der abschließende Teil, die Prinzipien der Ethik (von welchem er selber erklärt, daß er ihn "für denjenigen halte, für welchen alle vorhergehenden nur die Grundlage bilden sollen") in einem ersten Band 1879 die "Tatsachen der Ethik" behandelt. Neben diesem Versuch einer Konstitution der Theorie der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit ist noch der von John Stuart Mill bemerkenswert; er ist enthalten im 6. Buch der Logik, das von der Logik der Geisteswissenschaften oder der moralischen Wissenschaften handelt, und in der Schrift Mills, "Auguste Comte and Positivism", 1865.
    5) Den Ausgangspunkt bildeten die Diskussionen über den Begriff der Gesellschaft und die Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften, in denen eine Ergänzung der Staatswissenschaften gesucht wurde. Den Anstoß gaben Lorenz Stein, Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich, zweite Auflage 1848 und Robert Mohl, Zeitschrift für Staatswesen, Tübingen 1855, Seite 67f: Die Staatswissenschaften und die Gesellschaftswissenschaften. Ich hebe beide Versuche der Gliederung als besonders bemerkenswert hervor: Stein, System der Staatswissenschaft, 1852, und Albert Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers, 1875.