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JOHANNES VOLKELT
Erfahrung und Denken
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"Es haftet nun einmal unserem sinnlichen Wahrnehmen der unwiderstehliche und nicht zu beseitigende Zwang an, daß wir in unseren Wahrnehmungsakten die entsprechenden Gegenstände selbst erfaßt zu haben meinen. Das Wahrnehmen glaubt und muß glauben, das Transsubjektive als solches zu erfahren; unwillkürlich deutet es seinen gesamten Inhalt ins Transsubjektive um; wobei natürlich auch der eigene Körper als ein Stück dieser transsubjektiven Welt zu verstehen ist."

"Denn mögen die Meinungen darüber, ob uns die sinnliche Wahrnehmung die Materie als solche oder vielleicht überdies auch noch die wirkenden Kräfte offenbart, und was sie uns sonst an transsubjektivem Gehalt zeigt und nicht zeigt, noch so weit auseinandergehen: stets reicht es zur Widerlegung aus, einfach zu wiederholen, daß und die sinnliche Wahrnehmung eben schlechterdings gar nichts Transsubjektives vorführt und verbürgt. Wer sich die Bedeutung dieses Satzes einmal zu Bewußtsein gebracht hat, kann nur lächeln, wenn immer neue Versuche gemacht werden, das sinnliche Wahrnehmen als hinreichenden und selbstkräftigen Zeugen einer transsubjektiven Welt aufzurufen."

"Es ist nicht nötig, auszuführen, daß Moleküle, Atome und deren Bewegungen noch weit mehr außerhalb aller Erfahrungen liegen. Denn daran läßt sich nicht rütteln, daß die Atome außerhalb des Bewußtseins fallen. Wer auf dem Standpunkt der reinen Erfahrung steht, muß demnach die ganze moderne Physik, Chemie, Physiologie, kurz alle Naturwissenschaft aufgeben, eine Konsequenz freilich, die noch kein Empirist zu ziehen den Mut besaß."

"Das Gelten enthält ein Hinausreichen ins Transsubjektive, der Beweis meint jedesmal ein Transsubjektives als sein eigentliches Ziel und ist daher eine Erkenntnistätigkeit, die von der Erfahrung nicht geleistet werden kann."

"Für die Mittel der reinen Erfahrung ist die Allgemeinheit unerreichbar. Gerade diese Schwäche ist dem Empirismus schon so oft und nachdrücklich, vor allem auch von Kant, entegengehalten worden, daß er doch endlich belehrt sein sollte. Es ist eines der tragenden Grundprinzipien der kantischen Vernunftkritik, daß Notwendigkeit und Allgemeinheit aus Erfahrung nicht abgenommen werden können."

Zweiter Abschnitt
Die reine Erfahrung als
Erkenntnisprinzip

[Fortsetzung]

Zweites Kapitel
Das Wissen von meinen eigenen
Bewußtseinsvorgängen als das einzig
unbezweifelbar gewisse Erkennen

1. Das Prinzip der reinen Erfahrung. Wer den Sinn der vorangegangenen Aufstellungen erfaßt hat, wird mir ohne Vorbehalt zustimmen, wenn ich meine eigenen bewußten Vorgänge für das einzige von mir wirklich Erfahrene und für das einzige für mich Erfahrbare erkläre und allem Transsubjektiven die Erfahrbarkeit in unbedingter Weise abspreche.

Wenn mit dem Ausdruck "Erfahrung" überhaupt eine bestimmte und eigentümliche Bedeutung verknüpft sein soll, so werden wir ihn nur mit Beziehung auf einen solchen Inhalt anwenden dürfen, den wir in unserem Bewußtsein besitzen, mit dem unser Wissen unmittelbar in Berührung gekommen ist. Erfahren ist unmittelbares, scheidewandloses Innewerden. Nur so hat es einen Sinn, wenn die moderne Wissenschaft den "Tatsachen der Erfahrung" absolute Evidenz, unbedingte Unwidersprechlichkeit zuschreibt. Es ist widersinnig, zu sagen, daß wir etwas, was außerhalb unseres Bewußtsein liegen geblieben ist, "erfahren" haben. Soll etwas Transsubjektive erfahren werden, so muß es der Aufmerksamkeit meines Bewußtseins unmittelbar begegnet, von ihr unmittelbar ergriffen sein, also die Form meines Bewußtseins angenommen haben; d. h. es muß aufgehört haben, transsubjektiv zu sein. Das aus reiner Erfahrung bestehende Wissen kann sich also immer nur auf meine eigenen Bewußtseinsvorgänge, nur auf das, was die Form meines Bewußtseins angenommen hat, beziehen. Hiermit ist nichts Neues gesagt, sondern nur das Resultat des vorigen Paragraphen in anderer Form ausgesprochen. Das Erkenntnisprinzip des Wissens von den eigenen Bewußtseinsvorgängen ist einerlei mit dem Erkenntnisprinzip der reinen Erfahrung.

Wenn ich also im Folgenden bei der weiteren Charakterisierung des ersten Erkenntnisprinzips und seiner Tragweite hauptsächlich - schon der Kürze halber - von einem Standpunkt der reinen Erfahrung reden werden, so sind damit nicht nur solche gemeint, die sich als Empiristen bezeichnen und die Erfahrung als ihr formales Grundprinzip verkünden; sondern es sind auch alle diejenigen mitgetroffen, die diesen Standpunkt mehr in der Weise unserer ersteren Formulierung, also mehr mit idealistisch klingenden Ausdrücken benennen und beschreiben. Der Positivismus und der subjektive oder Bewußtseinsidealismus in seiner strengsten Form beruhen auf demselben erkenntnistheoretischen Prinzip. Sie sind, wie wir weiterhin sehen werden, inkonsequente Ausgestaltungen unseres ersten Erkenntnisprinzips; nur bewegt sich die Inkonsequenz da und dort in wesentlich verschiedener Richtung. Vorderhand lasse ich diesen Unterschied beiseite und halte mich einfach an das beiden Auffassungen zugrunde liegen eine und gleiche Erkenntnisprinzip.

2. Der naive Realismus des Wahrnehmens. Ich will hiermit keineswegs der gewöhnlichen Redeweise und auch nicht der Wissenschaft verboten haben, von den Dingen und Kräften außerhalb unseres Bewußtseins und von den anderen bewußten Subjekten so zu reden, als ob wir sie selbst "erfahren". Es haftet nun einmal unserem sinnlichen Wahrnehmen der unwiderstehliche und nicht zu beseitigende Zwang an, daß wir in unseren Wahrnehmungsakten die entsprechenden Gegenstände selbst erfaßt zu haben meinen. Das Wahrnehmen glaubt und muß glauben, das Transsubjektive als solches zu "erfahren"; unwillkürlich deutet es seinen gesamten Inhalt ins Transsubjektive um; wobei natürlich auch der eigene Körper als ein Stück dieser transsubjektiven Welt zu verstehen ist. So oft sich auch der Physiologe vorgehalten haben mag, daß Farben, Töne, Wärme und Kälte, Gerüche und Geschmäcke nur seinem Empfinden angehören, so wird er doch niemals aufhören, diese Empfindungsqualitäten wie etwas außerhalb seines Bewußtseins Befindliches, an den realen Dingen selbst Haftendes oder von ihnen Ausgehendes wahrzunehmen, und wie sehr auch der Kantianer von der bloßen Subjektivität des Raumes überzeugt sein mag, so wird sich ihm seine Anschauung das Räumliche darum doch nicht weniger als eine Beschaffenheit der transsubjektiven Dinge selber darbieten.

Ja, diese naive Objektivierung, die das Wahrnehmen mit dem intersubjektiven Inhalt vornimmt, wird durch einen Umstand noch verwickelter. Indem nämlich die Wahrnehmung die farbigen räumlichen Gestalten als transsubjektiv auffaßt, legt sie ebenso unwillkürlich in diesen Inhalt selbst noch ein gewisses Element hinein, das in Wahrheit unwahrnehmbar ist, das sie nur wahrzunehmen glaubt, und das sie nun gleichfalls als transsubjektiv nimmt. Es ist dies die stoffliche, materielle Ausfüllung der räumlichen Gestalten. Wir haben keinen Sinn, mit dem wir die Materie als solche - auch ganz abgesehen von ihrer Verlegung ins Transsubjektive - geradezu wahrnehmen könnten. Die materielle Beschaffenheit ist etwas zu gewissen sinnlichen Wahrnehmungen Hinzuvorgestelltes, und dieses Hinzuvorstellen findet in so intimer und dunkler Weise statt, daß wir dies als Ergänzung Vorgestellte mit dem wirklich Wahrgenommenen zugleich wahrzunehmen glauben. Vor allem sind es Widerstandsempfindungen des Harten und Weichen, Glatten und Rauhen, womit sich die Vorstellung eines materiellen Substrates intim und dicht zusammenschließt. Diese Verdichtung der Tast- und Druckempfindungen, die ansich nichts Materielles darstellen, wird uns derart zur Gewohnheit, daß wir dann auch die farbigen räumlichen Konfigurationen unmittelbar als materielle zu sehen glauben. Selbst der kritischste Mensch unterliege in seinen Tast- und Gesichtswahrnehmungen diesem Glauben und meint instinktiv, auch die kompakte Masse, die materielle Konsisten der Dinge mit wahrzunehmen. Auf diese Weise verlegen wir also nicht nur den Wahrnehmungsinhalt, sondern auch die unwillkürlich zu ihm hinzuvorgestellte Ergänzung, die materielle Beschaffenheit, in das Transsubjektive hinaus.

Da, wie gesagt, diese Naivität des Wahrnehmens von allen Angriffen einer trennenden, zersetzenden Reflexion und Kritik völlig unberührt bleibt, so ist schon aus diesem Grund das gewöhnliche Leben durchaus berechtigt, z. B. von den Eigenschaften eines Steines oder des Wassers als von Tatsachen der "Erfahrung" zu sprechen oder zu sagen, daß nur die "Erfahrung" dieselben kennen lehrt, und damit immer zu meinen, daß es sich dabei um etwas handelt, was außerhalb der Bewußtseinsvorgänge des gerade Sprechenden irgendwie Bestand hat. Und auch die Wissenschaft wird sich ohne Nachteil dieser Redeweise bedienen dürfen, sobald es nicht gerade auf die Bestimmung des Anteils der Erfahrung am Zustandekommen der Erkenntnis überhaupt oder einer besonderen Art von Erkenntnissen ankommt. Wird es ja doch überhaupt der Wissenschaft freistehen, sich in ihren Ausdrücken der naturgemäßen, naiven Art des Vorstellens, nach der unsere ganze Sprache eingerichtet ist, selbst dort anzupassen, wo das naive Vorstellen im Unrecht ist. Für die Bequemlichkeit, Verständlichkeit und Deutlichkeit des Ausdrucks kann dadurch viel gewonnen werden. Nur hat diese Anpassung natürlich da aufzuhören, wo aus ihr Mißverständnisse entspringen können, und noch mehr, wo geradezu die Aufgabe vorliegt, eben das Irrige, das dem naiven Vorstellen anhaftet zu beseitigen. Aus diesem Grund sollte in der Erkenntnistheorie und Logik zu deren Aufgabe es doch gehört, den Beitrag der Erfahrung zum Erkennen prinzipiell abzugrenzen, der Ausdruck "Erfahrung" immer in kritischer Weise, nicht vom Standpunkt des naiv realistischen Wahrnehmens aus, angewendet werden.

Woher es kommt, daß die Wahrnehmung ihren gesamten Inhalt unmittelbar als ein Transsubjektives ansieht und auf diese Weise unwiderstehlich gezwungen wird, gegen die sonnenklare Erwägung, daß das Erfahren auf die eigenen Bewußtseinsvorgänge beschränkt ist, ohne Aufhören zu sündigen, dies habe ich hier nicht zu erörtern, da diese wesentlich psychologische Frage mich völlig von meinem erkenntnistheoretischen Gedankenzug ablenken würde. Im vierten Abschnitt übrigens wird mich der Gang der Untersuchung dahin führen, zu fragen, wodurch das Wahrnehmen zu dieser Selbsttäuschung genötigt wird, und da wird die Antwort vor allem auf die unbewußte Betätigung des Denkens hinweisen müssen. Ebenso liegt es abseits von meinem jetzigen Weg, zu untersuchen, ob diese naive Objektivierung, die das Wahrnehmen mit seinem Inhalt vornimmt, nicht doch bis zu einem gewissen Grad berechtigt ist. Was hier feststeht, ist nur dies, daß das Wahrnehmen sich darin täuscht, wenn es glaubt, seinen Inhalt als etwas Transsubjektives zu erfahren, seiner als eines solchen unmittelbar inne zu werden. Dagegen könnte es ganz wohl sein, daß dem Wahrnehmungsinhalt im Transsubjektiven eine gleiche oder zumindest teilweise ähnliche Welt entspräche. In diesem Fall würde der Inhalt jenes an die Wahrnehmung geknüpften instinktiven Glaubens durch die nachträgliche Reflexion ganz oder teilweise bestätigt werden, und es bliebe als einzige Selbsttäuschung am Wahrnehmen der transsubjektiven Welt lediglich die Form des unmittelbaren Habhaftwerdens übrig.

3. Unerfahrbarkeit der materiellen Außenwelt. Wenn wir in der philosophischen Literatur Umschau halten, so finden wir, daß kaum über einen anderen Punkt soviel Unklarheit herrscht wie über den Umfang des wirklich Erfahrbaren. In der mannigfaltigsten Weise, bald gröber, bald feiner, werden unerfahrbare Elemente zur Erfahrung hinzugeschlagen, außerhalb des Bewußtseins liegende Faktoren wie Bestandteile der Erfahrung behandelt. Man darf wohl behaupten, daß es nur sehr wenige philosophische Bücher gibt, die nicht voll von dieser verhängnisvollen Verwechslung wären. Ich beschränke mich darauf, die prinzipiell wichtigsten Fälle dieser unrechtmäßigen Erweiterung der Erfahrung abzuweisen. Dadurch erst wird sich die ganze folgenschwere Bedeutung der vorhin vollzogenen Gleichsetzung der Erfahrung mit den vermöge der Selbstgewißheit des Bewußtseins gewußten Vorgängen herausstellen.

Da ist nun zunächst zu erwähnen, daß auch in die Philosophie jener naiv realistische Glauben hinüberspielt, als erführen wir mit unseren äußeren Sinneswahrnehmungen zugleich das Dasein einer transsubjektiven Körperwelt oder zumindest eines der Körperwelt unmittelbar zugrunde liegenden, in seiner näheren Bestimmtheit unbekannt bleibenden Etwas. Hierbei sind zwei Fälle zu unterscheiden. Bald nämlich wird die Ansicht, daß wir durch die äußeren Sinneswahrnehmungen unmittelbar des Daseins einer Außenwelt versichert werden, ausdrücklich als ein eigenartiges Erkenntnisprinzip verkündet und mit vollem Bewußtsein anderen Erkenntnisprinzipien gegenübergestellt. Diese Erhebung der sinnlichen Wahrnehmung zu einer eigenartigen transsubjektiven Erkenntnisquelle werde ich im achten Abschnitt, wo von den wichtigsten unberechtigten transsubjektiven Erkenntnisprinzipien die Rede sein wird, näher berücksichtigen. Bald wieder wird jene Ansicht von der Verbürgerung einer Außenwelt durch die sinnliche Wahrnehmung nur so nebenbei ausgesprochen oder vorausgesetzt, als verstünde sie sich von selbst und bedürfte keiner Begründung und Verteidigung. Besonders die Literatur des Materialismus zeigt sich überall von dem unerschütterlichen Glauben erfüllt, daß wir mit unseren Sinne die materiellen Außendinge direkt erfahren. Wenn man etwa BÜCHNERs "Kraft und Stoff" liest, so wird überall, als wäre dies nicht anders möglich, vorausgesetzt, daß wir den Stoff, aus dem die Welt besteht, als solchen sehen und greifen können. Aber auch HAECKEL kommt in seiner "Generellen Morphologie" da, wo er der naturwissenschaftlichen und - was ihm dasselbe ist - philosophischen Methode ausführliche Auseinandersetzungen widmet, nicht einmal auf die Frage, ob unsere Erfahrung uns über unsere Bewußtseinsvorgänge hinausführen und die Tatsachen der Natur selber uns aufzeigen kann. Wohl sagt er über das Verhältnis von Erfahrung und Reflexion schöne, besonders für die Fanatiker des Exakten beherzigenswerte Worte. Allein nirgends verrät auch nur eine Wendung, daß er den gewöhnlichen Begriff der Erfahrung, wie ihn der naive Mensch hat, für viel zu weit und reich ansieht. Und doch will HAECKEL an dieser Stelle den methodischen Wert der Erfahrung bestimmen. (1) Indessen selbst bei Denkern, die an KANT geschult sind, stoßen wir nicht selten auf diese unbefangene Ausdehnung des Erfahrungsbegriffs: als wäre es die einfachste Sache von der Welt, daß das Bewußtsein mit den draußen befindlichen Dingen und Vorgängen in scheidewandlose Berührung kommt.

Es wäre eine überflüssige Mühe, den verschiedenen Ansichten über das Maß und die Beschaffenheit des Transsubjektiven, dessen uns angeblich die Sinneswahrnehmnung als solche versichern soll, zu folgen und nun im Einzelnen die Unhaltbarkeit derselben darzulegen. Denn mögen die Meinungen darüber, ob uns die sinnliche Wahrnehmung nur transsubjektive räumliche Konfigurationen oder auch die Materie als solche oder vielleicht überdies auch noch die wirkenden Kräfte offenbart, und was sie uns sonst an transsubjektivem Gehalt zeigt und nicht zeigt, noch so weit auseinandergehen: stets reicht es zur Widerlegung aus, einfach zu wiederholen, daß und die sinnliche Wahrnehmung eben schlechterdings gar nichts Transsubjektives vorführt und verbürgt. Wer sich die Bedeutung dieses Satzes einmal zu Bewußtsein gebracht hat, kann nur lächeln, wenn immer neue Versuche gemacht werden, das sinnliche Wahrnehmen als hinreichenden und selbstkräftigen Zeugen einer transsubjektiven Welt aufzurufen.

Besonders auffallend ist es, daß bisweilen in wissenschaftlichen Büchern sogar die Naturkräfte wie etwas durch die sinnliche Wahrnehmung unmittelbar Verbürgtes angesehen werden. Von ihnen gilt etwas Ähnliches wie von der Materie: sie kommen nicht einmal als subjektiver Bestandteil in unseren Wahrnehmungen vor. Wie die Materie, so werden auch die Kräfte und ihr Wirken zu gewissen äußeren Wahrnehmungen hinzuvorgestellt, und dieses Hinzuvorstellen bringt auch hier für das Wahrnehmen den Schein hervor, als ob die Kräfte und ihre Wirksamkeit selbst wahrgenommen werden. Nur ist dieser Glaube, daß wir auch die Kräfte der Natur mit wahrnehmen, nicht so innig und unwiderstehlich mit den Wahrnehmungen verbunden wie jener auf die Materie sich beziehende Glaube. Nur in der Wahrnehmung der Bewegung glauben wir die Wahrnehmung der Kraft mitenthalten, und auch da nur dann, wenn eine besondere Veranlassung vorliegt, z. B. wenn die Bewegung sehr heftig oder außergewöhnlich ist. Ich werde auf das Verhältnis des Kraftbegriffs zu den Tatsachen der Erfahrung noch im folgenden Kapitel zu sprechen kommen. Für den jetzigen Zweck wäre ein näheres Eingehen darauf ablenkend, da es hier nur darauf ankommt, die Behauptung, daß uns das sinnliche Wahrnehmen als solches das Vorhandensein und Walten der Naturkräfte als transsubjektiver Agentien [wirkende Kraft - wp] verbürgt, als unberechtigt darzulegen und dieser Nachweis bereits geliefert ist und selbst dann gültig wäre, wenn das Vorhandensein der Naturkräfte, wie etwa das der Farben und Töne, ein Bestandsstück der subjektiven sinnlichen Wahrnehmungen bilden würde. Aus demselben Grund kann ich es hier auch dahingestellt sein lassen, ob nicht auch schon der Begriff des Dings als einer Einheit oder Zusammengehörigkeit alle Erfahrung überschreitet und es aus diesem Grund unberechtigt ist, von einer Erfahrung der Außendinge zu sprechen. Denn selbst wenn das Ding in seiner einheitlichen Zusammenfassung einen subjektiven Bestandteil des Erfahrenen bildet, so bleibt es doch nach wie vor unerlaubt, zu behaupten, daß wir transsubjektive Dinge oder Außendinge erfahren.

Es ist nicht nötig, auszuführen, daß Moleküle, Atome und deren Bewegungen noch weit mehr außerhalb aller Erfahrungen liegen. Die stofflichen, kräftebegabten Dinge glauben wir zumindest wahrzunehmen; sie liegen insofern der Erfahrung näher als jene physikalischen Wesenheiten, die sich uns niemals mit der Täuschung des Wahrgenommenwerdens aufdrängen. Mögen auch, wie SCHUPPE hervorhebt, die Atome aus tatsächlich Wahrgenommenem und nache ben den Gesetzen und Methoden, die auf dem Gebiet des Wahrnehmbaren herrschen, erschlossen sein, so berechtigt ihn dieser Umstand doch keineswegs, die Atome zum "Erfahrungsmäßigen" zu rechnen. (2) Denn daran läßt sich nicht rütteln, daß die Atome außerhalb des Bewußtseins fallen. Überhaupt ist es ein durchaus überempirisches Verfahren, wenn man die sinnlichen Qualitäten, wie Licht, Farbe, Ton, Temperatur usw. auf mechanische Bewegungen zurückführt. Noch niemand hat die physikalischen und physiologischen Veranlassungen dieser sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten in seiner Erfahrung aufweisen können. Ja, es besteht eine völlige Unvergleichlichkeit zwischen dem, als was sich mir Licht, Farbe, Ton, Temperatur in meiner Erfahrung darstellen, und dem, was sie nach den Lehren der modernen Naturwissenschaft abgesehen von ihrem Erfahrenwerden sein sollen. Oder man denke gar an die Elektrizität. Hier entbehren die Empfindungen und Wahrnehmungen, die zur Annahme des erstaunlichen Reiches der Elektrizität führen, sogar jeder spezifischen Qualität und besitzen einen durchaus fragmentarischen Charakter. Wer auf dem Standpunkt der reinen Erfahrung steht, muß demnach die ganze moderne Physik, Chemie, Physiologie, kurz alle Naturwissenschaft aufgeben, eine Konsequenz freilich, die noch kein Empirist zu ziehen den Mut besaß.

4. Unerfahrbarkeit des Unbewußten. Eine besondere Hervorhebung verdient ferner der Begriff des Unbewußten. Das Unbewußte fällt gänzlich außerhalb des Bereichs der Erfahrung, sowohl in der Gestalt des unbewußt psychischen, wie auch des unbewußt ungeistigen, also etwa materiellen Daseins. In dieser zweiten Form übrigens ist das Unbewußte ein Merkmal der soeben als unerfahrbar dargelegten transsubjektiven Körperwelt. Doch ziehe ich auch dieses Unbewußte hier herein, da es mir darauf ankommt, vom Unbewußten in voller Allgemeinheit festzustellen, daß es nie und nirgends erfahren werden kann. Freilich ist und die Vorstellung des Unbewußten so geläufig, daß, indem wir die Wahrnehmung räumlicher Gestalten von unserem Bewußtsein ablösen, wir einen großen Teil derselben (Unorganisches und Pflanzen) in der Regel für überhaupt unbewußt ansehen. Ja, es meinen die meisten Menschen, des unbewußten äußeren Daseins unmittelbarer sicher zu sein als des bewußten Daseins. Nichtsdestoweniger ist es unumstößlich gewiß, daß das unbewußte Dasein unserer Erfahrung nicht etwa nur ferner liegt, als das bewußte, sondern sogar jenseits der Erfahrung fällt. Ein unbewußtes Dasein erfahren wollen, hieße die Forderung aussprechen, daß das Bewußtsein in sich selbst die absolute Negierung und Aufhebung seiner selbst finden soll.

Vom Standpunkt der bloßen Erfahrung läßt sich nur soviel sagen, daß ich mit verschiedenen Wahrnehmungen und Vorstellungen überhaupt (z. B. mit der Wahrnehmung dieses Steins oder mit der Vorstellung von meinem Gedächtnisinhalt) die Vorstellung von einem unbewußten Dasein der ihnen entsprechenden transsubjektiven Gegenstände verknüpfe. Nur diese meine Vorstellung von der unbewußten Daseinsweise erfahre ich, nie dagegen die unbewußte Daseinsweise als solche. Was mir die reine Erfahrung zeigt, ist immer nur das Licht des Bewußtseins, nie die Nacht des Unbewußten. Ich darf also zusammenfassend sagen: meine Erfahrung erstreckt sich weder auf die transsubjektive Körperwelt noch auf das unbewußte Dasein. Mit anderen Worten: auf der Grundlage des ersten Erkenntnisprinzips ist das Erkennen realer Dinge und unbewußten Daseins absolut unmöglich. So tritt die Armseligkeit des reinen Erfahrungswissens immer greller zutage.

5. Unerfahrbarkeit der übrigen Subjekte. Aber nicht nur die materiellen Außendinge und das gesamte Reich des unbewußten Daseins gehören zum Unerfahrbaren, sondern auch alles, was außerhalb meiner an tierischem, menschlichem und sonstigem Bewußtsein vorhanden sein mag. Auf der Grundlage einer Selbstbezeugung des Bewußtseins als des ersten Erkenntnisprinzips kann eben jeder nur seine eigenen Bewußtseinsvorgänge erkennen, die anderen Bewußtseinssphären sind ihm gerade so unzugänglich wie die materiellen Außendinge. Mag die Außenwelt in unbewußter oder bewußter Form, als Materie oder als ein Reich von Ichen existieren, sie bleibt für das reine Erfahrungswissen ein in gleicher Weise unerreichbares Gebiet. Die Selbstgewißheit meines Bewußtseins verbürgt mir lediglich die Wahrnehmungen von Menschenbildern und deren sichtbaren und hörbaren Äußerungen. Freilich knüpft nun jeder an diese Wahrnehmungsbilder intuitiv die Deutung, daß einem jeden von ihnen, da sie mit dem Wahrnehmungsbild von meinem eigenen Leib und dessen Äußerungen eine durchgängige, sich immer von neuem bestätigende Ähnlichkeit haben, auch ein selbständiges, dem meinigen prinzipiell gleiches Bewußtsein entsprechen muß. Allein ob diese Deutung richtig ist, bleibt für den Standpunkt des bloßen Wissens vom Bewußtsein vollkommen dahingestellt.

Dies ist so klar, daß es kaum nötig wäre, mit besonderem Nachdruck darauf hinzuweisen, wenn nicht gerade in diesem Punkt die reinen Empiristen und exklusiven Bewußtseinsidealisten den Umfang des empirisch Erreichbaren fortwährend erweitern würden. Mit der unschuldigsten Miene führen sie, nachdem sie jede Aufnahme überempirischer und bewußtseinstranszendenter Elemente, oft mit wahrem Abscheu, von sich gewiesen haben, implizit und verstohlen die Annahme von der Existenz anderer denkender Subjekte ein. Hier mögen sie doch zeigen, daß sie das Lob des Kritischen, das sie für sich so reichlich in Anspruch nehmen, wirklich verdienen! Die kritische Wissenschaft hat ein Recht, zu verlangen, daß sie doch endlich darlegen mögen, wie die reine Erfahrung oder das exklusive Vorstellungswissen es anfangen müssen, um zur wissenschaftlichen Gewißheit eines Pluralismus denkender Wesen zu gelangen. Es ist leicht, die Erfahrung, Beobachtung, Vorstellung und dgl. als einziges Werkzeug des wissenschaftlichen Forschens unermüdlich zu preisen, wenn man doch über solche Punkte, wo sich dieses Werkzeug in besonders auffallender Weise als unzureichend erweist, mit Stillschweigen oder flüchtigem Abtun hinwegzugehen liebt.

6. Das Beweisen als über die reine Erfahrung hinausliegend. War bis jetzt davon die Rede, daß gewisse Gebiete augenscheinlich transsubjektiven Daseins häufig in die Erfahrung hineingerechnet werden, so will ich jetzt hervorheben, daß man ebenso häufig dem Erfahren gewisse Erkenntnistätigkeiten zuschreibt, die bei näherer Betrachtung transsubjektive Faktoren voraussetzen, also von der Erfahrung nicht geleistet werden können. Wer den Sinn der Erfahrung einmal aufgefaßt hat, für den ist ohne weiteres klar, daß man der Erfahrung ein Beweisen nur in der Bedeutung des unmittelbaren Aufzeigens eigener Bewußtseinszustände zuschreiben darf. Das Beweisen dagegen im eigentlichen Sinne bedeutet etwas ganz anderes. Indem ich das Resultat eines Beweises in der Form des Satzes: S ist P denke, so will ich damit nicht etwa nur die Anwesenheit eines solchen Inhaltes: S ist P in meinem gegenwärtigen oder vergangenen Bewußtsein unmittelbar aufweisen, sondern ich erhebe mit dem Denken jenes Ergebnisses den Anspruch, daß sein Inhalt von einem Sein gilt, welches ich nicht als in meinem Bewußtsein vorkommend aufweisen kann. Dieses Gelten liegt durchaus jenseits der Leistungsfähigkeit der Erfahrung. Jedes Erfahren spricht nur sich selbst aus, garantiert nur sich, meldet mir nur die Anwesenheit eines gewissen Inhalts in meinem gegenwärtigen oder vergangenen Bewußtsein. Mit jedem Beweis will ich dagegen weit mehr geleistet haben: das Gelten des in meine betreffenden Bewußtseinszustand gegebenen Inhaltes von einem Sein, welches nicht unmittelbar als mein Bewußtseinszustand aufzeigbar ist. Denn wäre das zu beweisende Sein unmittelbar in meinem gegenwärtigen oder vergangenen Bewußtsein gegeben, so brauchte ich nicht zu schließen, nicht zu beweisen, kurz nicht zu denken, sondern es würde genügen, diesen Bewußtseinszustand einfach aufzuzeigen, mit dem Finger darauf hinzudeuten. Das Gelten dagegen enthält ein Hinausreichen ins Transsubjektive, der Beweis meint jedesmal ein Transsubjektives als sein eigentliches Ziel und ist daher eine Erkenntnistätigkeit, die von der Erfahrung nicht geleistet werden kann.

Die Bücher, die ihre Ergebnisse lediglich aus der reinen Erfahrung oder der Selbstgewißheit des Bewußtseins herleiten wollen, mehren sichvon Jahr zu Jahr. Und in jedem dieser Bücher wird frisch und fröhlich darauf losbewiesen, als könnte dies angesichts der reinen Erfahrung mit Leichtigkeit gerechtfertigt werden (3). Wann wird wohl endlich den Verfassern solcher Bücher beim Niederschreiben derselben die Einsicht aufgehen, daß sie konsequenterweise auf ihrem Standpunkt alles Schließen, Beweisen und Denken aufgeben und so überhaupt ihre Bücher ungeschrieben lassen müßten?

Auch hat man es bei diesem vor allem im Empirismus üblichen Hinzuschlagen des Denkens zur Erfahrung nicht etwa nur mit einer reinlichen Erweiterung des Begriffs der Erfahrung zu tun. Zwar wird zuweilen hervorgehoben, daß die Erfahrung sich aus zwei Faktoren, aus dem Wahrnehmen (Beobachten) und dem sich hieran knüpfenden Denken zusammensetzt, und es scheint dann das Denken eine prinzipiell andere Leistung zu sein, als die Erfahrung im eigentlichen Sinn, d. h. als das bloße Haben von Vorstellungen. Daneben aber verrät sich an anderen Äußerungen die eigentliche Meinung des konsequenten Empirismus, die darin besteht, daß das Denken sich alle seine Schritte von der Wahrnehmung sagen lassen muß, daß es sich nicht nach eigenen Prinzipien, sondern letztenendes lediglich nach den Lehren der Erfahrung zu richten hat, und daß die Verknüpfungen des Denkens irgendwie ausschließlich durch die Wahrnehmungen hervorgebracht werden. So liegt keine bewußte Erweiterung des Erfahrungsbegriffs vor, sondern es wird der Erfahrung im gewöhnlichen Sinn des Habens von Wahrnehmungen insgeheim noch die Leistung des Denkens (das "Gelten") aufgebürdet (4).

7. Unerfahrbarkeit der Allgemeingültigkeit. Zu einem ähnlichen Resultat komme ich auch von einer anderen Seite her. Jeder bewiesene Satz erhebt den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, d. h. auf Anerkennung aller denkenden Subjekte. Nun wissen wir, daß meine Erfahrung mir niemals andere wirkliche Menschen zeigt, sondern immer nur gewisse Erscheinungsbilder, die nach Aussehen, Bewegungen und hörbaren Äußerungen dem am Bild meines eigenen Leibes Wahrgenommenen auffallend gleichen. Wenn mich also der rein empirische Weg in keiner Weise, auch nicht im Sinn des bloß Wahrscheinlichen, zu dem Gedanken berechtigt, daß andere Subjekte außer mir existieren, dann ist es auch klar, daß durch bloße Erfahrungen niemals Allgemeingültigkeit zustande kommen kann. Diese hat nur unter der Voraussetzung einen Sinn, daß andere denkende Subjekte existieren, in deren Anerkennen sie eben besteht. Da mir nun die Erfahrung als solche kein Mittel an die Hand gibt, um von den in meinem Wahrnehmungskreis erscheinenden Menschenbildern auf entsprechende transsubjektive Bewußtseinssphären zu schließen, so verliert für den reinen Erfahrungsstandpunkt das Wort "Allgemeingültigkeit" seinen Sinn. Bedenkt man nun, daß nicht etwa nur das Bewiesene und Erschlossene, sondern auch alles, was Behauptung, Aussage, Urteil heißt, allgemeingültig sein will, so ist ersichtlich, daß, wenn die Erfahrung als solche zur ausschließlichen Erkenntnisquelle gemacht wird, nicht nur alle Wissenschaft, sondern auch alle Verständigung untereinander theoretisch untergraben wäre.

8. Unerfahrbarkeit der Notwendigkeit. Mit der Forderung der Allgemeingültigkeit ist immer das Bewußtsein der sachlichen oder objektiven Notwendigkeit verknüpft. Daß in der Tat dieses Bewußtsein jeden Akt des Schließens und Beweisens begleitet, ja sogar den Nerv des Denkens überhaupt ausmacht, wird der nächste Abschnitt darzulegen haben. Überhaupt können im gegenwärtigen Abschnitt gemäß dem ganzen Gang dieser Untersuchung alle bisher erwähnten und noch zu erwähnenden transsubjektiven Elemente (die materiellen Außendinge, die Atome, das Unbewußte, die fremden Bewußtseinssphären, das transsubjektive Gelten, die Allgemeingültigkeit usw.) nur im Sinne "leitender Gesichtspunkte" (siehe oben), d. h. so auftreten, daß ich infolge eines anderswoher bezogenen Wissens versichere, daß dieselben für das Erkennen von hervorragender und entscheidender Wichtigkeit sind. Daß sie diese Bedeutung für den Erkenntniszweck in der Tat besitzen, wird teils im nächsten Abschnitt ausdrücklich begründet und näher bestimmt werden, teils wird es, sobald wir nur überhaupt so weit sein werden, um vom objektiven Erkennen und der Wissenschaft als einem gerechtfertigten Tun reden dürfen, aus dem einfachsten Überblick über den Inhalt des objektiven Erkennens von selbst hervorleuchten. Ich habe mit jenem ersteren Fall die Gültigkeit für das transsubjektive Sein, die Allgemeingültigkeit und die sachliche Notwendigkeit vor Augen, wogegen ich mit dem zweiten Fall die materiellen Außendinge, die Atome, das Unbewußte und die fremden Bewußtseinssphären meine.

Jetzt soll also von der sachlichen oder objektiven Notwendigkeit aufgezeigt werden, daß sie nirgends in den Erfahrungen vorkommt. Das Erfahren besteht allenthalben aus Sukzessionen und Koexistenzen von Einzelnem; damit ist das in der Erfahrung Enthaltende in erschöpfender Weise bezeichnet. Nun zeigt allerdings die Erfahrung (5), daß die Sukzessionen und Koexistenzen gewisser Tatsachen sich sehr häufig oder gar mit nie aussetzender Regelmäßigkeit wiederholen. Allein in diesen Wiederholungen ähnlicher Sukzessionen und Koexistenzen liegt keine Spur von Notwendigkeit, auch nicht die mindeste Andeutung dessen, daß dies nicht anders sein könnte. Mag sich eine gewisse Verbindung von Tatsachen das hundertste oder gar tausendste Mal wiederholen, so geschieht in der Erfahrung eben nichts anderes, als daß dies die hundertste oder tausendste Wiederholung ist; von einem Übergang der einfachen Sukzession in eine notwendige zeigt die tausendste Wiederholung so wenig etwas wie das erste Geschehen. Und wenn die Erfahrung als solche mir nirgends und niemals den Inhalt "Notwendigkeit" entgegenbringt, so bin ich natürlich auch nicht berechtigt, zu behaupten, daß der Gedanke der sachlichen Notwendigkeit aus bloßen Erfahrungsmitteln hervorgeht. Die Erfahrung für sich allein berechtigt mich nur zu solchen Gedanken, deren Inhalt sie mir unmittelbar aufweist. So bezieht sich also das Bewußtsein der sachlichen Notwendigkeit auf etwas, was in der Erfahrung nicht vorkommt, auf ein Transsubjektives.

JOHN STUART MILL u. a. behaupten im Anschluß an HUME, daß der Gedanke sachlicher Notwendigkeit eine Täuschung ist, und daß es Notwendigkeit nur im Sinne einer subjektiven Nötigung zu gewissen Vorstellungsverbindungen gibt. Auf diese Weise ist es natürlich leiht, den Gedanken der Notwendigkeit aus den Gesetzen der Ideenassoziationen abzuleiten und zu etwas rein Empirischen zu machen. Die Notwendigkeit führt sich dann darauf zurück, daß "durch den Einfluß gewohnter Ideenverbindungen gewisse Erfahrungswahrheiten den Schein von Notwendigkeit gewinnen." Das Verfehlte hieran ist nicht, daß aus den gewohnten Vorstellungsverbindungen das Gefühl der Nötigung hergeleitet wird, sondern daß die dem Denken eigentümliche Notwendigkeit in diese Nötigung, welche zugestandenermaßen etwas Akzidentielles, eine Sache des Zufalls ist, herabgesetzt und verkehrt wird. Wie sehr hiermit der reine Empirismus das Denken entnervt und sein eigentliches Können und Wollen verkennt, wird erst durch den folgenden Abschnitt recht deutlich werden (6).

9. Unerfahrbarkeit der Allgemeinheit. Von der Allgemeingültigkeit ist die Allgemeinheit als Merkmal des Inhalts gewisser Urteile zu unterscheiden. Jene wird von jedwedem Urteil, auch wenn es bloß eine einzelne Tatsache konstatiert, beansprucht; diese dagegen kommt nur dem Inhalt gewisser Urteile zu, allerdings der für die wissenschaftliche Erkenntnis weitaus wertvollsten. Alle Urteile nämlich, die etwas Gattungs- oder Gesetzmäßiges aussprechen, gehörten zu dieser besonderen Art; also das Urteil: die Fledermaus ist ein Säugetiert, ebensosehr wie das Urteil: der frei zur Erde fallende Körper fällt mit gleichförmig beschleunigter Geschwindigkeit. Sehr häufig hat das Subjekt dieser Urteile nicht, wie hier, den rein begrifflichen Charakter, sondern tritt als Zusammenfassung der zusammengehörigen Einzelnen durch "alle" auf; wie: alle Menschen sind sündhaft.

Von der Bedeutung der Allgemeinheit für das Erkennen wird später (im 6. Abschnitt) gehandelt werden. Hier habe ich nur darzulegen, daß für die Mittel der reinen Erfahrung die Allgemeinheit unerreichbar ist. Gerade diese Schwäche ist dem Empirismus schon so oft und nachdrücklich, vor allem auch von KANT, entegengehalten worden, daß er doch endlich belehrt sein sollte. Es ist eines der tragenden Grundprinzipien der kantischen Vernunftkritik, daß Notwendigkeit und Allgemeinheit "aus Erfahrung nicht abgenommen werden können". Wie KANT von der Notwendigkeit richtig sagt, daß "die Erfahrung uns zwar lehrt, daß etwas so oder so beschaffen ist, aber nicht, daß es nicht anders sein kann", ebenso treffend sagt er von der Allgemeinheit, daß es der Erfahrung gemäß immer nur heißen muß: "soviel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme." (7) In der Tat, wie sollte ich durch die Erfahrung rein als solcher dazukommen, mehr zu sagen, als daß innerhalb meines Erfahrungsbereiches eine gewisse Tatsache oder eine gewisse Reihenfolge von Tatsachen zehnmal, hundertmal usw. vorgekommen ist? Wie sollte in dieser Wiederholung die Berechtigung liegen, zu schließen, daß auch in früheren Zeiten, als ich noch keine Erfahrungen machen konnte, und künftig hin, wenn ich keine mehr machen werden, und gegenwärtig dort, wo ich keine machen kann, kurz in dem von mir nicht erfahrenen Reich unter den entsprechenden Bedingungen unfehlbar dieselbe Wiederholung stattfinden wird? Die Erfahrung als solche erlaubt mir nur, von der unglaublich geringen Anzahl von Fällen, die in meinem Bewußtseinsfeld als wirklich erfahrene vorkommen, durch einen Vergleich diese oder jene Gemeinsamkeit oder Gleichförmigkeit auszusagen. So oft ich das Wort "alle" oder "immer" und dgl. ohne Einschränkung gebrauche oder schlechthin einen Begriff zum Subjekt eines Satzes mach, sage ich etwas Überempirisches oder Transsubjektive aus und wene ein von der Erfahrung grundverschiedenes Erkenntnisprinzip an. In allen diesen Fällen nehme ich an, daß sich das jenseits der Erfahrung liegen Gebiet nach dem, was ich in meinem äußerst beschränkten Erfahrungsbereich wahrgenommen habe, richten muß. Ich möchte wissen, wo dieser Grundsatz in der Erfahrung geschrieben steht. Auch die Zuflucht zum Wahrscheinlichkeitswissen hilft nichts. Denn wenn mir die Erfahrung als solche überhaupt gar nichts darüber sagt, wie es in einem Gebiet außerhalb meines Bewußtseins aussehen mag, so gibt sie eben auch zu Wahrscheinlichkeitsschlüssen darüber, mögen dieselbe auch noch so vorsichtig abgefaßt sein, nicht das mindeste Recht.

Die Erfahrung hat sich also als unfähig erwiesen, Erkenntnisse mit denjenigen Merkmalen zustande zu bringen, die teils allen Beweisen und Schlüssen, ja allen Urteilen überhaupt, teils doch der wichtigsten Klasse der Urteile zukommen. Mit anderen Worten: die Gedanken der transsubjektiven Geltung, der Allgemeingültigkeit, der sachlichen Notwendigkeit und der Allgemeinheit sprechen einen Inhalt aus, der sich innerhalb des Bewußtseins nicht in der geforderten Weise verwirklicht findet.

10. Die Frage nach der Erfahrbarkeit der Kausalität. Die Forderung des Erkennens nach Allgemeinheit hängt aufs Engste mit seinem Streben zusammen, eine kausale Verknüpfung, Gesetzmäßigkeit oder doch Regelmäßigkeit zu entdecken. Die Hoffnung, diese Vorzüge, nach deren Auffindung alle Wissenschaft strebt, an den Veränderungen der materiellen oder psychischen Außenwelt unmittelbar wahrzunehmen, ist ein für allemal abgeschnitten. Sollen sie irgendwo erfahrbar sein, so kann diese Gunst nur der Boden des eigenen Bewußtseins gewähren. Man müßte nur, wenn sich diese Phänomene in der Tat im eigenen Bewußtsein aufzeigen ließen, um ja nicht ins Transsubjektive zu verfallen, die Darstellung zuerst gleichsam monologisch halten, die ganze Untersuchung wie eine Privatangelegenheit betreiben. Wäre dies einmal geglückt, dann würde dieser Erfolg für die Feststellung der ferneren Erkenntnisprinzipien, die zur Erfahrung hinzukommen müssen, von großer Bedeutung sein. Die Erfahrung wäre dann ein gewaltiges Stück leistungsfähiger, als in dem Fall, wo jene Eigenschaften den Bewußtseinsvorgängen als solchen abzusprechen wären. Ich daher jetzt meine Untersuchung auf diesen Gegenstand richten.

In den Schriften der streng empiristischen Schule wird überall entweder ausdrücklich behauptet oder doch implizit vorausgesetzt, daß uns die Erfahrung als solche zur Annahme von Zusammenhang und Gesetzmäßigkeit berechtigt. Werfen wir beispielsweise einen Blick auf die Erörterungen von LAAS. Er hebt mit schroffer Schärfe hervor, daß die Philosophie "nirgends zu nicht erfahrbaren Inhalten und Vorgängen ausgreifen darf", daß nur "Tatsachen" für die theoretische Erkenntnis Gewicht haben, daß nur das direkt Konstatierbare als Erklärung herangezogen werden darf. Aber er legt seinen Untersuchungen doch die durchgängige Voraussetzung zugrunde, daß sich sowohl der Ablauf der Wahrnehmungsinhalte als auch die psychischen Prozesse streng gesetzmäßig verhalten. LAAS weiß sehr wohl, daß unsere Wahrnehmungen ein fragmentarisches, unzusammenhängendes Aggregat sind. Nichtsdestoweniger glaubt er, daß sich, mit Hilfe des Gedächtnisses und des Bedürfnisses nach Vorhersehen und Vorausberechnen, aus unseren Wahrnehmungen allmählich immer mehr Zusammenhang und Regel entwickelt. Ohne daß ein überempirisches Erkenntnisprinzip einzugreifen braucht, bestätigt sich der Wissenschaft, infolge der "entgegenkommenden Gunst der Tatsachen", immer mehr die Voraussetzung, daß alles erfahrbare Sein von immanenter Gesetzmäßigkeit beherrscht ist. Die Gesetzmäßigkeit soll also zwar nicht direkt aus der Erfahrung ablesbar sein; aber irgendwie - man fragt nach dem Wie freilich vergeblich - soll es der Erfahrung doch möglich sein, allein aus sich heraus zur Vorstellung der Gesetzmäßigkeit hinzuführen (8). Ebenso finden wir auch bei den besonnensten Naturforschern die Ansicht, daß, wenn auch nicht Substanz und Kraft, so doch die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen direkt erfahrbar ist. Selbst HELMHOLTZ vertritt diese Überzeugung. Zwar hält er das Kausalgesetz für ein a priori gegebenes, aus der Erfahrung nicht beweisbares Gesetz; und ebenso weiß er, daß in allem Wahrnehmen schon ein unbewußtes Denken wirksam ist. Doch trotz dieser Einsicht erklärt er geradezu, daß das Gesetzliche in der Erscheinung eine Tatsache ohne hypothetishe Unterschiebung ist, und daß wir, zwar nicht die Substanzen, wohl aber das die veränderlichen Größen verbindende Gesetz direkt wahrnehmen können. (9)

Die Frage, zu der wir hiermit gelangt sind, verdient in einem eigenen Kapitel behandelt zu werden. Sie lautet: ist es möglich, kausalen Zusammenhang, Gesetzmäßigkeit oder auch nur Regelmäßigkeit aus bloßer Erfahrung zu erkennen? Mit anderen Worten: gehören die bezeichneten Verhältnisse zu dem, was mir das Wissen von meinem Bewußtsein unmittelbar darbietet? Jetzt erst wird sich uns die ganze Armseligkeit des auf der Selbstgewißheit des Bewußtseins beruhenden Wissens oder der reinen Erfahrung enthüllen; und zugleich werden wir erst jetzt imstande sein, die Grenze zwischen Erfahrbarem und Unerfahrbarem mit voller Deutlichkeit zu ziehen.
LITERATUR: Johannes Volkelt, Erfahrung und Denken - Kritische Grundlegung der Erkenntnistheorie, Hamburg und Leipzig 1886
    Anmerkungen
    1) ERNST HAECKEL, Generelle Morphologie der Organismen, Berlin 1866, Bd. I, Seite 63f.
    2) WILHELM SCHUPPE, Erkenntnistheoretische Logik, Seite 50.
    3) So sagt z. B. CARL GÖRING, einer der radikalsten Vertreter des Standpunktes der reinen Erfahrung in seinem Aufsatz "Über den Begriff der Erfahrung" (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1877, viertes Heft, Seite 352f und 1878, erstes Heft, Seite 108 und 114), daß der Empirismus "einzig und allein durch Erfahrung, welche über aller Möglichkeit und Notwendigkeit steht", den Beweis liefert, daß einiges Schein und Traum, einiges Wirklichkeit und Erfahrung ist. Und zum Schluß heißt es ausdrücklich, daß Beobachtung und bewußtes Denken die Organe der Erfahrung sind. Wie soll dann aber die Erfahrung als solche etwas über ihr Verhältnis zu Schein und Wirklichkeit aussagen? Ich mag die Erfahrung drehen und wenden, wie ich will, so wird doch aus ihr allein nie etwas anderes herauszubringen sein, als daß sie mir Vorgänge in meinem Bewußtsein zeigt. Unter dem Gesichtspunkt der reinen Erfahrung haben die Sinnestäuschungen und Einbildungen genau denselben Wirklichkeitswert als die Empfindungen und Wahrnehmungen.
    4) So ist es auch bei GÖRING. Er nennt das Schließen die Grundlage aller Erfahrungserkenntnis. Allein im Schließen tritt kein besonderes, aus der Erfahrung ableitbares Erkenntnisprinzip auf, vielmehr erhält das Denken seine Notwendigkeit und Allgemeinheit durchaus von der "Sinnesempfindung". Nur die Sinnesempfindung besitzt den Vorzug der objektiven Notwendigkeit und Allgemeinheit. So schreibt er also naiverweise den Nerv allen Denkens und Beweisens, das objektive Gelten, der sinnlichen Erfahrung zu. Es stellt sich dann bei ihm die Sache so: Der ganze Erkenntnisprozeß ist teils ein unmittelbares Erfahren von Sinneseindrücken, teils ein "Vergleichen, Vereinen, Trennen, Beziehen" derselben, kurz Denken. Allein die logische Notwendigkeit empfängt das Denken lediglich von der sinnlichen Erfahrung; das Denken wird sonach wie eine bloße Folgeerscheinung, wie ein formal entwickelteres Anhängsel der sinnlichen Erfahrung behandelt (System der kritischen Philosophie, Bd. I, Seite 266f und 307f). Ähnlich heißt es bei JOHN STUART MILL (System der deduktiven und induktiven Logik), übersetzt von GOMPERZ, Leipzig 1872, Bd. II, Seite 6), daß, wenn wir prüfen wollen, unter welchen Umständen Schlüsse, die wir aus der Erfahrung ziehen, gültig sind, wir einzig die Erfahrung zum Prüfstein machen dürfen. "Wir haben keinen weiteren Prüfstein, dem wir die Erfahrung als solche unterwerfen könnten, aber wir machen die Erfahrung zu ihrem eigenen Prüfstein." (!!)
    5) Es ist dies ein vorderhand gemachtes Zugeständenis, das ich im nächsten Kapitel wesentlich einzuschränken haben werde.
    6) Vgl. JOHN STUART MILL, Logik I, Seite 255f (Übersetzung GOMPERZ)
    7) KANT, Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 3f, 47, 762 und öfter. Prolegomena, erste Auflage, Seite 28, 82 und öfter.
    8) ERNST LAAS, Die Kausalität des Ich, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1880, erstes bis drittes Heft. Vgl. besonders Heft I, Seite 18 und 37f und Heft III, Seite 345. - Idealismus und Positivismus, Berlin 1879-1884, Bd. I, Seite 188, Bd. III, Seite 15f.
    9) HERMANN HELMHOLTZ, Die Tatsachen der Wahrnehmung, Berlin 1879, Seite 36f.