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Idealisten [7/7]
Die Ideologen Der Jüngling, wenn Natur und Kunst ihn anziehen, glaubt mit einem lebhaften Streben bald in das innerste Heiligtum zu dringen; der Mann bemerkt nach langem Umherwandeln, daß er sich noch immer in den Vorhöfen befindet. Im Sturm glaubt die Jugend Natur und Kunst erobern zu können; der Mann sieht von Tag zu Tag mehr ein, daß das Leben kurz, die Kunst lang und die Natur ewig ist. Dem Jüngling scheint das Leben einfach. Er macht sich, unbefangen alle Dinge auf sein Subjekt beziehend, liebend oder hassend, begehrend oder verabscheuend, zum Mittelpunkt des Daseins und regiert es in der Vorstellung mittels der sittlichen Forderung. Die Welt meint er zu empfinden, wo er sich selbst empfindet. Ihm scheint alles ringsumher Gefühl, weil sein erwachendes Selbstgefühl sich in den Dingen spiegelt. Ins Innerste des Kunstwerks glaubt er eingedrunden zu sein, wenn er darüber jauchzt und weint und, unendlicher Sehnsucht voll, die Hände verlangend zum Himmel emporwirft. Und doch ist er in solchen Augenblicken nur voller Sehnsucht nach sich selbst, nach seiner Zukunft, nach dem bewußten Gebrauch unklar sich regender Energien. Die das Soziale wirkenden Kräfte meint er zu verstehen, wenn er, Mitleid mit Gerechtigkeit, Liebe mit Einsicht verwechselnd, für Jedermann physische Freiheit und Gleichheit fordert, die Leiden der Armen beklagt und nicht begreifen kann, warum die grausen Kämpfe des sozialen Lebens nicht durch einen allgemeinen Opfermut einfach und schnell geschlichtet werden. Und in den Geist der Natur denkt er eingedrungen zu sein, wenn sein Allgefühl überall Beziehungen ahnt, wenn er trunken die Gottheit in sich und sich in der Gottheit empfindet. Objektiv und absolut scheinen ihm alle Gefühle und Gedanken, die aus der Bewegtheit seines leidenschaftlichen Subjekts emporsteigen. Selbst die Kunst, die nur für sich da ist, benutzt er als Bildungsmittel zu seinen Entwicklungszwecken. Schnell ist er entflammt und hält sein Feuer dann für das Sittliche ansich. Es geschieht, daß er fortgesetzt das Ethische mit dem Ästhetischen verwechselt; denn Beides wird ihm gleichmäßig zum Mittel der Selbstausbildung. Was er braucht ist das deutliche Symbol, die klare Allegorie, die kräftige Sensation, die Tendenz. Er ist leicht begeistert, geht schnell aber zu etwas Anderem über. Vielleicht zu etwas ganz Entgegengesetztem. Denn er wertet nicht sachlich nach Gradunterschieden, sondern such seinem Entwicklungshunger mannigfaltige Nahrung. Der Mann schämt sich dieses frühen Zustandes keineswegs; er segnet vielmehr seine Jugend von ganzem Herzen. Aber er, als der verantwortliche Anwalt der Gesellschaft, trägt in normalen Zeiten den Umständen Rechnung, indem er den Jüngling in den Jahren der Entwicklung frei sich selbst überläßt. Er fordert nicht verantwortungsvolle Arbeit von ihm, nicht objektiven Rat oder entscheidende Entschlüsse; er weiß, daß Irrtum, Tendenz und Verstiegenheit der Jugend notwendig sind und daß es wohl um eine Nation bestellt ist, worin die Jünglinge jung und die Männer männlich empfinden und handeln. Wie muß es Einem nun zumute werden, wenn man die Entwicklungsfolge sich zeitweise umkehren sieht und erlebt, daß nicht nur ein großer Teil der Jugend kalt und skeptisch ist, sondern daß auch eine große Partei von deutschen Männern denkt und handelt wie leichtherzige Jünglinge, die in ihrer Entwicklung stehengeblieben sind; wenn man sehen muß, wie ein Geschlecht Erwachsener aufsteht, das kraft seines Alters, seiner Bildung, Ämter und Würden mit Erfolg Anspruch auf Teilnahme an der wichtigsten Kulturarbeit erhebt und sich doch gebärdet, wie die nur von sich selbst erfüllte Jugend! Diese unerfreuliche Erscheinung ist nicht durchaus neu. Es stellen sich solche Verkehrtheiten in Entwicklungsepochen ein, wo die Lebenden den Aufgaben der Zeit nicht gewachsen sind und wo es an hilfreichen Kulturkonventionen fehlt, die über die kritische Zeit hinweghelfen könnten. Wir erleben dieses Schauspiel heute, weil von der Jugend zu früh schon schwere praktische Arbeitsleistungen und kühles sachliches Denken gefordert werden, wodurch die natürliche Sorglosigkeit gerade in den Jahren der Empfängnis vernichtet wird, weil der materiellen Hemmungen zu viele sind, als daß der natürliche Enthusiasmus sie überwinden könnte und weil der Mann infolgedessen nachzuholen sucht, was er im rechten Augenblick versäumt hat. Eine kühle und skeptische Jugend ist schlimm genug; verderblich wird sie aber, weil sie als Gegenspiel diese in der Entwicklung verspätete, rauschsüchtige und sich jünglingshaft gebärdende Männlichkeit bedingt, weil die dressierte Überklugheit krankhafte Wucherungen des Gefühls bei den Erwachsenen im Gefolge hat. Denn tun Männer jünger als sie sind, so hat das ja nichts von der gesunden Kraft der Jugend. Es fehlt dem Jugendrausch der Erwachsenen die Liebenswürdigkeit der Wahrheit; es fehlt ihm die Natur. Er wirkt beschränkt sogar wo er das Liberale will, wogegen in der Jugend die Beschränktheit selbst wie Freiheit erscheint. Diese künstlich verspätete Jugend ist ohne Entwicklung, ohne Lust an der Metamorphose; sie ist darum ein Widerspruch in sich selbst. Bei ihr wird zur dogmatischen Formel, was beim Jüngling gesunde Tendenz ist; sie erklärt die Kritiklosigkeit in Permanenz und macht die Rauschgefühle sakrosankt. Unduldsam wird sie, wo die wahre Jugend entschieden ist; sie verwandelt den Drang zum Ethischen in ein moralisches Pharisäertum, die Lust am Grundsätzlichen in Puritanismus und den Trieb, Beziehungen aufzusuchen, in einen Hang zur Allegorie. Wo der Jüngling begeistert ist, da verfällt sein alternder Nachahmer einem hohlen Pathos; wo Jener nur altklug wirkt, da zeigt Dieser überlegenen Dünkel, wo dort lebendige Ehrfurcht ist, da gibt man sich ier einem epigonischen Autoritätsglauben hin und wo der Jüngling in seinem Ichgefühl die ganze Zukunft trägt, da sperrt sich die mißgeschaffene Ideologie des Mannes hermetisch innerhalb starrer Überzeugungen ab. Die große Partei so gearteter deutscher Männer bedeutet eine Gefahr für alle Gemeinsamkeitsbegriffe, denen zu dienen ihre Absicht ist. Umso mehr, als sie sich auch parteipolitisch schon zu organisieren begonnen hat. Diese Partei ist mit einem Wort nicht zu bezeichnen. Es ist nicht einmal möglich, ihren Umfang klar zu beschreiben, weil die Grenzen fließend sind. In ihr gibt es, neben ganz begriffsstutzigen Fanatikern, verständige Männer, denen man in manchem Punkt zustimmen kann; es gibt Geister darin, die nur mit einem Teil ihres Wesens engagiert sind, und andere, die nicht anders als in den Parteiprinzipien zu denken vermögen. Talent genug ist in den Dienst der Sache gestellt. Soweit es aber bei Lebenden ist, erweist es sich als mehr oder weniger epigonisch und als unfähig, neue, fortzeugende Werte zu schaffen. Gesinnung ist im Überfluß vorhanden; aber leider ist sie von der Tendenz nicht mehr zu unterscheiden. Das macht sie doppelt unfruchtbar. Mit Gesinnung - nicht mit Gefühl geflissentlich zu verwechseln! - macht man nicht das kleinste gute Gedicht; wieviel weniger eine ganze große Kunst und Kultur. Im besten Fall gelingen dem einstmals lebendigen, jetzt erstarrten Wollen Formen aus zweiter und dritter Hand. Lebendig war das Wollen, dem wir uns hier gegenübersehen, wirklich einmal. Wir wissen es aus Erfahrung; denn wir selbst hatten diesen Drang einmal im Leib. Das war damals, als dieselben Leute, die apostolisch nun unsere Jugendworte wiederholen, uns wegen eben dieser Worte von oben herab als Verirrte behandelten. Für uns - ein Plural, dessen Anwendung der Selbstkritik des Lesers überlassen bleibt -, war es eine schöne, nie zu vergessende Zeit. Eine Zeit, die auch nicht unfruchtbar geblieben ist. Wir sind groß geworden als die Söhne der Männer, die auf den Schlachtfeldern Frankreichs die äußere Einigung Deutschlands erkämpft haben; als das erste Geschlecht, das die Ergebnisse der lange erstrebten nationalen Einheit von Jugend an vor Augen gehabt hat. Wir wuchsen auf, inmitten einer rastlosen Erwerbsarbeit, umgeben von alten und neuen materiellen Interessen. Die Väter hatten genug zu tun, das neue Reichshaus wohnlich einzurichten und sich Wohlstand zu gewinnen; an ästhetisches Behagen und feinere geistige Kultur konnten sie nicht viel denken. In der Kunst genossen die Verherrlicher der Kriegstaten und des bürgerlichen Alltagslebens die Volksgunst; eine Kunst für Alle, die zu den Massen herniederstieg, erschien als das Erstrebenswerte. Den Söhnen erst konnten die Unzulänglichkeiten klar werden; ihnen fiel die Aufgabe zu, eine innerliche Einigung des äußerlich Verbundenen anzubahnen. Es begannen jene geistigen Revolutionen, die in den achtziger und neunziger Jahren so viel Bewegung und Reibung verursacht haben. Wenn damals Worte ausgesprochen wurden, wie Naturalismus und Stil, Namen wie IBSEN, BÖCKLIN, TOLSTOI oder ZOLA, so bedeuteten sie etwas Lebendiges. Ein Charakteristikum der geistigen Gärungszustände war es, daß das ganz Heterogene nebeneinander geduldet, ja, gefordert wurde. Die Verneinung schloß immer schon eine Bejahung in sich, und umgekehrt. Aus dem Alltäglichen, dem Häßlichen sollte die Idee des Schönen gewonnen werden und das Überlieferte wurde analysiert, bis der Kern seines Ursprungs daraus hervorsprang. Die Naturmystik BÖCKLINs erregte die Phantasie, während DOSTOJEWSKIJ zum sozialen Gewissen gesprochen hat und NIETZSCHEs Pathos zur Umwertung aller Werte aufreizte. Zu gleicher Zeit wirkte die Idee eines transzendenten Kunststils und die Tendenz schonungsloser Realistik. RICHARD WAGNER wurde zum Propheten. Aus SCHOPENHAUER und STIRNER gewann der an Negationen reifende Optimismus neue Bejahungen. Es vertrug sich der Nihilismus mit der Mystik, der Pantheismus mit dem Atheismus und die Liebe zur Persönlichkeit Jesu mit der Verachtung der Kirche. Alles war gleichermaßen Symbol für eine neue moderne Kultur und Weltanschauung. Es wurde viel Unsinn getrieben; aber selbst in den Irrtümern waren positive Werte keimhaft schon enthalten. So ist aus diesem schmerzlich gewaltsamen Jugendrausch die wichtige Bewegung hervorgegangen, die heute schon große Teile der architektonischen Kunst und des Kunstgewerbes umfaßt. Noch nicht abzusehen ist es, was das Theater den Ideen, die in dieser Zeit aufgegangen sind, zu danken haben wird. Die Malerei und Skulptur haben sich, nachdem sie aus fauler Ruhe aufgescheucht worden waren, in der eigenen Vergangenheit und im Ausland nach lebendigen Entwicklungskräften umgesehen und eine Bahn betreten, die auf bedeutende Ziele weist. Und wie in der Kunst, so hat die Sturm- und Drangperiode auch der sozialen Ethik eine gesunde Naturalisierung gebracht. Kurz: inmitten der Verwirrung, der das sich industrialisierende und wirtschaftlich mächtig entfaltende Deutschland sich nicht entziehen konnte, ist damals der erste kräftige Versuch gemacht worden, die Kultur neu zu denken; es schlummerte überall im subjektiven Wollen ein aufs Objektive gerichtete Ahnen. Während die Jünglinge von damals Männer geworden sind und sich in nützlicher Arbeitsteilung den Aufgaben der Zeit gewidmet haben, ist jene Partei der verspäteten Jünglinge nun auf den fast ganz verlassenen Feuerstätten angelangt. Sie richtet sich dort häuslich ein und wir erleben das verwunderliche Schauspiel, da wir nun mit Gründen bekämpft werden, die wir als verbraucht selbst schon fortgeworfen haben. Der Anblick ist grotesk. Die Jugendbewegung, die sich in den Männern längst metamorphosiert hat, tritt erstarrt, als ein Gespenst vor uns hin. Da es Erwachsene sind, die das Erbe übernommen haben, fehlt ihrem Meinen und Wollen die Natur und darum auch die historische Notwendigkeit. Was inhaltsvoll und kühn war, ist zur Phraseologie geworden. Bei diesen Epigonen einer jungen Sehnsucht wird zum blinden Patriotismus, was einst nationaler Drang war, zur leeren moralischen Forderung, was religiös gemeint war; was der Befreiung der Kunst dienen sollte, wird zur Fessel und wo unendliche Kulturmöglichkeiten zu schaffen die Absicht war, da zeitigt eine unfruchtbare Tendenz nun Verarmung. Die Macht dieser Epigonenpartei ist nicht zu unterschätzen, denn sie hat eine große Zahl für sich. Ihre Organe sind vielgelesene Zeitschriften, wie zum Beispiel der "Kunstwart" oder "Der Türmer", sind Vereinigungen wie der Dürer- und Werdanibund und an vielen Dichterischen, in Ateliers und Redaktionen sitzen die wie Freimaurer vereinten Mitglieder des großen neudeutschen Ideologenbundes, alle von derselben Absicht beseelt, mittels der Gesinnung allein eine neue deutsche Kultur zu machen. Es gehören diesem Bund die Mittleren an. Nicht niedrig materiell Gesinnten findet man darin, nicht die Gemeinen und Indifferenten; eine gewisse überzeugte Idealität ist allen Gliedern eigen. Aber die besten Arbeiter der Zeit findet man auch nicht darin, nicht die Werteschaffenden und Konsequenten. Viel wahre Güte ist vorhanden, aber sie ist nicht unintelligent; ehrlicher Fleiß ist da, aber er wird ohne rechte Einsicht geübt; ein Wollen ist da, ohne Können, eine Gutgläubigkeit ohne Sachlichkeit, Opfermut ohne rechten Zwecksinn, Optimismus ohne schöpferische Fähigkeiten und Rausch ohne Gebärtüchtigkeit. Sucht man nach einem Vergleich, womit der Geist dieser Kulturpartei illustriert werden kann, so fällt der Blick auf die deutsche Sozialdemokratie. Auch diese politische Partei hat eine sehr schöne Lenzidee dogmatisch erstarren lassen und schleppt sich in künstlicher Jugend greisenhaft dahin. Das Ideal zur rechten Zeit in konkrete Arbeit umzusetzen, hat auch sie versäumt; in ihr sind ebenfalls die Individuen Sklaven der Grundsätze geworden. Die Sozialdemokratie sättigt sich an toten Ideen, an Worten und Hoffnungen und versteht nicht ihre Macht rational zu gebrauchen. Sie entfremdet sich dem Leben und wird Wissenschaft und Ideologie. Derlei ist vielleicht nur in Deutschland möglich. Es will schon etwas sagen und ist eine Art von umgekehrtem Heroismus, daß sich Millionen, denen die Not des Lebens auf den Fingern brennt, geduldig mit abstrakten Ideen abspeisen lassen, daß sie aus Prinzip das Nächste zu tun versäumen und aus Gesinnungstüchtigkeit sich selbst wehrlos machen. Und eine derartige notwendig ins Subalterne [Untergeordnete, Niedrige - wp] führende Gesinnung herrscht in eben jener Partei auch der falschen Kulturidealisten. Was einst Mittel war, ist ihr Zweck geworden. Diese Partei, gegründet im Namen der Modernität, des Werdenden, ist ganz unfortschrittlich; sie lähmt, wo sie konservieren will, sie bringt Streit hervor, wo sie sich zu versöhnen anschickt. Betrachten wir ihr Programm im Einzelnen, so zeigt es sich, daß religiöse und ethische Ideen kultiviert werden sollen, nationale und soziale, künstlerische und ästhetische. Das Wort Idee im Sinne von etwas Gestaltlosem, Grenzlosem, Unbestimmten gebraucht. Unklar und wirr ist der Wille, der dieses Programm geschaffen hat, weil er das Eine immer für etwas Anderes setzt und nichts für sich selbst. Die Kunst scheint, hört man die Propheten des Bundes, nur ein Organ im Dienst ethischer und religiöser Bedürfnisse; wird aber von Religion und Ethik gesprochen, so zeigt es sich, daß diese Begriffe wieder nur der Kunst wegen da sind. Patriotismus und germanisches Artgefühl werden betont, um eine Kultur zu schaffen; diese Kultur aber ist dann wieder nur ein Erziehungsmittel zum Nationalismus und Rassenempfinden. Keine Vorstellung ist klar; alles fließt auseinander und gerinnt zu einem undefinierbaren Vielerlei. Genau zu ergründen, was unter den Worten religiöser Ethik in diesen Kreisen vorgestellt wird, ist nicht möglich. Es wird verkündet, das Ethische und Ästhetische wären durchaus identisch. Natürlich ist die Behauptung falsch. Alles wahrhaft Schöne freilich ist in einem höheren Sinn ohne Weiteres immer auch sittlich; aber das Sittliche ist keineswegs immer schön. Es handelt sich nicht um zwei Kräfte, die zu einer werden und auch nicht um eine, die zwei Erscheinungsformen zugleich annehmen kann. Vielmehr handelt es sich um die ewig eine große Urenergie, die sich ständig metamorphosiert - im Individuum, in der Familie und in einem Volk -, die zuerst Wille zur Macht heißt, sodann Wille zur Ethik oder religiöser Sinn und die auf einer dritten Entwicklungsstufe zur ästhetischen Fähigkeit wird. Ethik und Ästhetik sind darum niemals gleichstark nebeneinander möglich, weder im Individuum noch im Volk, sondern nur nacheinander. Und darum ist es falsch, wenn verkündet wird, Religion und Kunst wären ohne einander undenkbar. Sie sind so unabhängig voneinander, wie die Eiche von der Tanne, die ja auch beide auf dieselbe Naturkraft zurückweisen und trotzdem determinierte Baumindividuen sind; sie sind gleichzeitig niemals gleich stark da, weil der Mensch nicht zwei Herren dienen kann. Herren aber, die alle Gefühlskraft fordern, sind die Religion wie die Kunst. Darin zeigt sich nun die im Eklektizismus maßlos gewordene Schwäche dieser Epigonischen, daß sie zugleich haben wollen, was die Natur nur in der Abwandlung einer Folge gewährt. GOTTFRIED KELLER hat den religiös poetischen Gallimathias [verworrenes Geschwätz - wp] dieser Geistesrichtung in seiner Novelle vom "verlorenen Lachen" köstlich echt geschildert. Auch diese pantheistischen Kulturpastoren reden von ehernen Sittengesetzen und ewigen Normen, von den Grundfesten und der Weltseele, vom Kosmos und der Harmonie, vom Kern und der Schale der Natur; auch sie erzählen kinderlosen Leuten, wir lebten nur in unseren Kindern fort, lehren die Einsamen, nur in der Liebe sei der Lebenszweck erfüllt, und trösten mit dem Hinweis, die Elemente unserer Leiblichkeit nähmen nach dem Tod an der organischen Bildung und Umbildng der Natur für und für teil. Für Religion haben sie ein neues Wort gesetzt: Weltanschauung und es so abgegriffen, daß man's schon nicht mehr hören mag; im Namen der Weltanschauung brauen sie dann ein Ragout aus liberalisiertem Christentum, HEGEL, KANT, SPINOZA, Neuplatonismus und SCHOPENHAUER und gelangen so, der Himmel mag wissen wie, zu einer Art philosophischem Neukatholizismus, worin alle großen Individuen der Geschichte als Säulenheilige und Vermittler der Gnade figurieren. Zuweilen schillerns sie stark wie Pantheisten, weil sie mit der Allbeseelung nicht einen Augenblick aufhören. Dann aber blickt doch wieder der alte ehrliche Dualismus hervor, da sie ja Gott im "Bösen", "Häßlichen" und "Unnatürlichen" nicht anerkennen mögen. Und sie bleiben auch als Pantheisten ja deutsch, insofern ihnen die Weltseele in Deutschland gründlichere Arbeit zu machen scheint als sonstwo. In gewisser Weise gliedert die Partei sich der Monistenbewegung unserer Zeit an. Natürlich nicht konsequent. Den Teufel auch, wohin sollte das führen! Das Christentum darf nicht verleugnet werden und von Kern und Schale der Natur mag man sich nicht trennen. Diese Leute bringen es fertig, die natürliche Schöpfungsgeschichte zu romantisieren und Christus zu "modernisieren", bis er aussieht wie ein genialer Gemütskünstler. Hand in Hand damit geht eben jener Heroenkultus. Bedingung ist freilich, daß die großen Individuen wenigstens 50 Jahre schon tot sind. Denn ein Heroentum, so jüngferlich rein, blümchenfromm und theatergewaltig wie es diesen Epigonen vorschwebt, kann es natürlich in einer Gegenwart nicht geben. Ein dunkler Naturdrang, der leicht in weinerliche Sentimentalität umschlägt, führt die weiberhaft leicht Entzündlichen in die Irrgänge unklarer Kosmologie und Geschichtsmystik. Die griechische Mythologie wird mit der Edda zusammengerührt, eine Prise Buddhismus hinzugetan und das mit dem Christentum angerichtet. Das möchte nun angehen, wenn die Leutchen sich hübsch ruhig verhalten würden und sich ihrer Errungenschaften still erfreuen. Stattdessen tragen sie einen lästigen Hochmut zur Schau und tun, als wäre es ansich eine höhere Moral, zu fühlen und zu denken wie sie. Verächtlich blicken sie auf Alle, die die ewigen Dinge gelassen nehmen und sich den Fragen der Zeit tätig unbefangen zuwenden. Sie gleichen Jenen, von denen GOETHE zu ECKERMANN sagte:
Und Patriotismus! Aber damit ist es natürlich auch bedenklich bestellt. Hinter den großen Worten steckt wieder eine kleine Tendenz. Wir! hört man es von allen Seiten rufen. Wir Deutsche! wir Germanen! wir Denker und Dichter, wir Seelenvollen und Auserwählten! Es ist beschämend. Ist die germanische Kraft dem Erdball wertvoll, so wollen wir uns hübsch ruhig verhalten und unsere Gaben zu erwerben suchen, jeder für sich. Es ist kein persönliches Verdienst, ein Deutscher zu sein, so wenig es eines ist, an die Unsterblichkeit zu glauben. Wen das Schicksal in eine große und freie Nation gestellt hat, der suche sich dessen würdig zu erweisen, durch seine Arbeit, durch seine Lebenshaltung; sonst hat er nichts zu tun und zu besorgen, sofern er nicht berufen ist, das Geschick des Landes verwalten zu helfen. Am nationalsten ist man immer in den Augenblicken, wo Einem eine selbstgesetzte Aufgabe zufriedenstellend gelungen ist, oder wenn man eine anständige Handlung vollbracht hat, nicht aber, wenn man es programmatisch sein will. Was ehemals deutsch war, das ist zur Not erkennbar; wie das Deutsche in der Zukunft aber sein wird, das weißt genau kein Lebender schon zu sagen. Gewiß ist nur das Eine: daß man fehl geht, wenn man die Gegenwart einer Vergangenheit nachbildet. Die Ideologen denken anders. Sie verfallen einem sehr unduldsamen Gemütsillusionismus, der ein Teil jenes Reichsillusionismus ist, wie er sich nach 1870 eingestellt hat. Damals aber kam er wenigstens nach einer wahrhaft großen Tat. Immer hat es etwas Albernes, wenn ein Volk sich vor dem andern auserwählt glaubt. Jedes Volk muß sich entwickeln nach dem Gesetz "wonach es angetreten ist"; ein jedes ist "geprägte Form, die lebend sich entwickelt". An dem Punkt, wo die eine Nation schwach ist, da ist die andere stark; und umgekehrt. Die Natur balanziert sich selbst in bewunderungswürdiger Weise; und darum eben sind Völker, wie Individuen, im Nehmen und Geben aufeinander angewiesen. Wenn diese entzündlichen Patrioten nun kommen und uns sagen, der Deutsche sei berufen, in allen Künsten zu herrschen, er allein ginge auf das Wesen der Sache, er sei auserwählt, im Ethischen der Menschheit Vorbild zu sein und werde auch physisch die Welt erobern, so ist das Gewäsch. Jeder große Erfolg muß mit einer Resignation bezahlt werden. So war es von jeher. Mephisto höhnt nicht ohne Grund über das Phantasiegebilde des Herrn "Mikrokosmos". Diese eilige Überheblichkeit ist nicht einmal eine verirrte Kraft; sie ist vielmehr die typische Schwächeerscheinung der Impotenz. Der Wut gegen das Fremde liegt die Angst davor zugrunde. Ist es Jemandem Drang, über Völkercharaktere und Rassenprobleme zu sprechen, so tue er es wissenschaftlich objektiv, nicht als Dilettant, der die Resultate zur Untersuchung schon mitbringt und seinen Wünschen hinterher nur Beweiskonstruktionen sucht. Die Wahrheit ist, daß hinter diesem bejahenden Patriotismus im Wesentlichen die verneinende Tendenz steht, die Antisemitismus heißt. Das sind wir im Kern der ganzen Bewegung; alles Anderes ist mehr oder weniger Ornament. Im Kern auch der Schwäche. Denn um dieses Problem so wichtig zu nehmen, um dagegen alle Begriffsgarden der Ethik, Ästhetik und des Patriotismus aufmarschieren zu lassen, muß ein großes Gefühl der Unkraft vorhanden sein. Und das ist vielleicht das Allerschmerzlichste. Es ist wahr: der Teil des deutschen Volkes jüdischer Abstammung übt in diesen Jahrzehnten eine große, in ihrem Übergewicht sehr gefährliche Macht, weil fast alle Hebel der öffentlichen Bildung in seinen Händen ruhen. Zu den bevorzugten Plätzen ist die jüdische Intelligenz in Deutschland gelangt, weil ihre Kraft infolge der Emanzipation am Anfang des 19. Jahrhunderts eben jetzt einen starken Aufschwung genommen hat. So ist es immer, wenn nach lange andauernden Hemmungen eine Entfesselung erfolgt. Diese Welle mußte kommen. Und ihrer Höhe muß naturgemaäß auf der anderen Seite eine Tiefe entsprechen. Dieselbe historische Logik, die diese Welle hat kommen lassen, wird sie eines Tages aber auch durch eine andere wieder verdrängen; denn die Geschichte ist ein ewiges Auf und Ab. Inzwischen ziemt es dem Vaterlandsfreund, mit mehr Sorge auf die zur Zeit nicht bestreitbare geistige Erschlaffung der germanischen Vitalität zu blicken, als auf die im Kampf ums Dasein errungenen Erfolge des jüdischen Geistes. Sofern er überhaupt einen fundamentalen Gegensatz gelten läßt und nicht auf eine endliche Verschmelzung hofft; eine Verschmelzung, die hier und da hoffnungsvoll genug schon begonnen hat, immer wieder aber durch unverständige Selbstliebe und Empfindlichkeit auf beiden Seiten erschwert wird. Sollte der stille Kampf aber wirklich in aller Zukunft weitgeführt werden müssen - wobei eine starke Schwächung beider Gegner unvermeidlich wäre -, so gibt es nur ein Kampfmittel, das in Anwendung kommen darf: die gute Leistung durch die bessere Leistung zu besiegen, die erfolgreiche Klugheit durch die höhere Klugheit und die zähe Energie durch die stärkere Kraft zu überwinden. Allein als so einem guten Streit springt dann die große nationale Tat hervor. Und der leistungsfähigsten Energie, kommt sie woher auch immer, beugt jeder Unterlegene sich, weil er besiegt selbst noch bereichert wird. Um nichts anderes handelt es sich, darf es sich handeln. Gerade jene Partei der tendenvollen Kulturnationalisten hat viel Schuld, wenn die Tatsache konstatiert werden muß, daß der jüdische Geist in den letzten Jahrzehnten beängstigend oft als Sieger aus dem Friedenskampf hervorgegangen ist. Beängstigend, weil dadurch das Gleichgewicht der Kräfte gestört wurde. Denn die Ideologenpartei hat ihre Anhänger vor den Forderungen der Zeit blind gemacht, und so die Leistungsfähigkeit geschwächt. Nur von dieser aber darf gesprochen werden. Über Fragen der Sympathie und Antipathie sollte dieses Problem erhoben werden. Soll über Fehler und Schwächen gerichtet werden, so kommt e dem germanischen Deutschen zu, von seinen Schwächen und von der Anpassungskraft der jüdischen Volksgenossen zu sprechen; und dem Juden ist es dann Pflicht, sich seiner stark verhaßten Fehler zu erinnern und dankbar anerkennend auf die Grundtugenden des germanischen Wesens zu blicken. Nur in einem solchen Wettstreit der Gerechtigkeitsliebe - einer Gerechtigkeitsliebe aus Selbstgefühl! - wird der gute Ehrgeiz geweckt, die Annäherung erreicht und der wahre Patriotismus gefördert. Es läßt sich nun denken, welche Grundsätze im Künstlerischen in einer Partei herrschen müssen, die so einseitig verfährt. Das Programme spricht auch hier in der Form des kategorischen Imperativs. Die Kunst soll das Eine, muß das Andere und darf wieder ein Anderes nie tun. Eigentlich läuft das ganze Programm auf eine Negation hinaus. Grundsätzlich werden nur ausgebildete Talente aufgenommen; alles Werdende, Gärende wird abgewiesen, weil es nicht ruhig, reinlich und friedlich genug ist. Und von den Fertigen wird nur erkoren, was sanfter Mittelmäßigkeit Ärgernis nicht zu erregen imstande ist. Erste Forderung: Gemütskunst, Seelenkunst, innerliche, ideale und gesund bejahende Kunst! Wie man vom Kern und von der Schale der Natur spricht, so zerlegt man die Kunstwerke in Stoff, Form, Technik und Gehalt. Der Gehalt ist natürlich die Hauptsache, er ist der "Kern". Sucht man der Meinung auf den Grund zu kommen, so erhält man nirgendwo eine befriedigende Antwort; es wird Einem gesagt, das müsse man eben fühlen. Man sollte meinen, beseelte Kunst wäre alle gute Kunst, weil die bedeutende Form ja nur vom irgendwie erregten Gefühl produziert werden kann. Offenbar ist das eine Täuschung, denn wir werden belehrt, was wir unter guter Kunst verständen, das eben seien "nur" Werte der Technik, des Geschmacks, des Könnens. Das Entscheidende sei aber das Wollen. Wenn der Künstler allegorisch mittels einer Nereide [griech. Meeresnymphe - wp] und eines Wasserzentauren seine Sehnsucht - weiberhafte Sehnsucht ist überhaupt Trumpf - auszudrücken strebt: das sei gemütvoll; wenn er neben sein Selbstbildnis einen kleinen Engelknaben malt, der ihm was ins Ohr sagt: das sei seelenvoll. Es sei poetisch selbst dann, wenn der Engel elend im Raum sitzt und miserabel gemalt ist. Innerlichkeit wäre es, wenn der Künstler nicht die "gemeine Sinnlichkeit" gibt, sondern die "Idee"; Optimismus zeige der Maler, wenn er die Gegenstände der Darstellung deutlich konturiert und plakathaft vereinfacht. Und ideal wäre eben Alles, was nicht naturalistisch ist, nicht roh realistisch, nicht schamlos sinnlich, häßlich, grotesk, charakteristisch oder verneinend. Lyrisch, idyllisch, feierlich romantisch, Adagio, pianissimo, hausbacken, humoristisch, schäkernd nai, Gott wie niedlich! rührend: das sind die Eigenschaften deutscher Gemütskunst. Alles Andere ist dekadent. Zuerst war IBSEN dekadent, dann DOSTOJEWSKIJ; auch BÖCKLIN und MARÉES hießen eine Zeitlang so und jetzt sind es vor allem die französischen Impressionisten, die in ihrem Land fast schon zu den alten Meistern gehören. Danach, scheint es, ist alles dekadent, was später klassisch wird. Es ist eine bessere Kritik für die Seelenkunst dieser entflammten Philister, die von der Partei selbst so schmeichelhaft kritisiert wird, wenn man sie Gedankenkunst schlimmster Observanz [Ordnungsgehorsam - wp] nennt, Begriffskunst, Ideologie, Allegoristik und Sentimentalität. Lächerlich stammelnde Primitivität im zwanzigsten Jahrhundert: das ist die geistige Armut. Oder wäre es Pfiffigkeit? Und steckt hinter diesem Poesiehunger nicht vielleicht ein unangenehmer Egoismus? Daß oft ein ausgezeichneter Geschäftssinn dahintersteckt, ist erwiesen. Die ganze Welt scheint nur vorhanden, um diesen Leuten Theatergenüsse zu bieten; die Qual und Mühe der Menschheit ist nur da, um eine idealisierte Staffage [Ausstattung - wp] zu sein in den Landschaften dieser engen Begriffswelt, das Böse wird "überwunden", weil es im Genuß stört. Die Bühnenbildner ihres Glückseligkeitsbedürfnisses nennen diese Transzendenten, die in Wirklichkeit nichts sind als subalterne Knechte des Lebensstoffes, Wahrheit. In der langweiligsten Allegorie sehen sie darum schon einen höheren Gehalt. Eine persönliche Erinnerung: In der Kunstschule hatte ich als junger Mann auf großem Karton eine Wanddekoration zu entwerfen. Der Professor kam zur Korrektur und rief entsetzt: "Mein Gott, welches Gemüse!" Bitte, replizierte ich gekränkt, das hätte alles einen tieferen Sinn. Und nun erzählte ich von der Bedeutung der auf Weltkugeln hockenden Sphinxen, der unter Mohn schlafenden Elfe der Nacht, der als Lilienblüten hervorwachsenden Unschuld und eine Menge solcher Dinge, die für sechs Dreier auf jedem Wochenmarkt zu kaufen sind. Der gute Professor machte große Augen, wischte dann aber gelassen die allegorischen Hilfstruppen fort und begann ein einziges "gehaltloses" Ornamentmotiv, das dem Figurengesindel als Basis diente, zu entwickeln. Zuerst wars eine Charade, nun wurde es eine Arabeske, die wirkungsvoll den Raum füllte. "Sagen Sie selbst", meinte tröstend der erfahrene Alte, "ist in diesem anständig gezeichneten Akanthusblättern nicht mehr Sinn und Symbol als in Ihrer ganzen Mythologie?" Ich war damals zwanzig Jahre alt. Die Künstler, die es im Prinzip heute nicht anders treiben als der Knabe, - denn es ist ja gleichgültig, ob man mit schlechtgezeichneten Sphinxen allegorisiert oder mit korrekt gemalten Parsivalerscheinungen - sind dagegen Lehrer und Professoren. Zweite Forderung: große Kunst, Tempelkunst, Stilkraft, heroische Persönlichkeiten und eine harmonische Kultur mit Hilfe des Gesamtkunstwerkes! Unsere Zeit hat keine allgemein gültige Religion, hat darum nicht lebendig große, von lebensphilosophischer Stimmung umwitterte Mythen, Legenden und Sakralstoffe. Sie hat nicht Tempel, nicht Paläste, die der ganzen Nation gehören, keine Baukunst großen Stils und also auch keine Räume und Wände für den Monumentmaler. Sie bildet auch mit ihren demokratisch nivellierenden Tendenzen nicht das Niveau, von dem aus groß überragende Persönlichkeiten sich voll Willensleidenschaft titanisch erheben könnten. Und trotzdem: große Kunst, Tempelkunst! Was unsere Bürgerzeit vollbringen könnte und schon vollbracht hat, gilt diesen Überschwänglichen nichts. Erzielt ein Künstler auf dem Weg lebendiger Erlebnisse, wie Zeit und Milieu sie darbieten, bedeutende Resultate, so reden sie von Geschmackswerten und blicken zurück auf MICHELANGELO und PHIDIAS. Wer sich ausschließlich dem Talent widmet, das ihm die Natur verliehen hat, ist ihnen ein Virtuose. Der rechte, der große Künstler ist ihnen der, der von Tempeln schwärmt, worin eine nicht vorhandene Religion gepredigt wird, die von nicht existierenden Architekten erbaut, von nicht existierenden GIOTTOs und RAFFAELs ausgemalt und von nicht existierenden Bildhauern mit Statuen geschmückt werden sollen. Geister, die ihren Stolz darein setzen, lieber das Kleine meisterhaft zu vollbringen als das Höchste ungenügend, verfallen der Verachtung. Denn sie "wollen" ja nicht genug. Niemand schreit aber so entrüstet auf wie diese Anspruchsvollen, die mit ihrer großen Absicht sich folgerichtig im Dickicht eines pathetischen Eklektizismus verstricken, wenn einmal ein genialer Mensch aufsteht, IBSEN? na ja; aber nehmt SCHILLER dagegen! DOSTOJEWSKIJ? begabt, aber krank. HEBBEL? ein unbequemer Grübler. Erschiene morgen ein Werk wie GOETHEs "Werther", so würde diese "Schiller- und Goethepartei" den Dichter zuerst steinigen; träte ein junger SCHILLER mit einer Räubertragödie hervor, so würde das Scheusal verfemt. Stellte ein REMBRANDT das Kreuzigungsbild aus, worauf er sich selbst als Henkersknecht gemalt hat, so schrie man in diesen Kreisen über schamlose Verspottung des Heiligsten; und wehe selbst dem RICHARD WAGNER, der eine neue Zukunftsmusik ertönen lassen würde. Diesen Menschen fehlt durchaus das, womit man allein Natur und Kunst recht zu genießen vermag: Lebensgefühl. Sie sind verkappte Katholiken, verspätete Nazarener mit Freimaurergebärden. Unersättlich und beschränkt zugleich und darum ohne rechte Ehrfurcht vor dem lebendig atmenden Dasein. Die dritte Hauptforderung lautet natürlich: deutsche Kunst, vaterländische Kultur, Heimatskunst. Fremde Anregungsquellen sind nur bis zum Jahr 1800 erlaubt. Wer sich von einer späteren Zeit belehren läßt und gar auf das Frankreich des 19. Jahrhunderts blickt, ist ein Verräter. Deutsch aber ist ... nun, ein im Bild dargestellter Violinspieler, zum Beispiel, ist es nicht; aber er wird es, wenn in der Landschaft hinter ihm ein Mond aufgeht. Ein solchener Misthaufen ist nicht national; er ist es jedoch gleich, wenn ein krähender Hahn darauf steht. Das Liebespaar ist als Motiv international; germanisch wird es, wenn der Jüngling der Maid eine Blume reicht. Erzählt der Romanschreiber von einem Bauernmädel, das Marie heißt, so ist das roh naturalistisch; wenn er aber Marei schreibt und recht oft die Interpunktion "hei!" anbringt, so ist er ein Kunstpatriot. Die Sehnsucht ist immer vaterländisch, wenn sie deutlich genug markiert ist. Auch der Ritter in blauer Rüstung ist es. Sehr deutsch ist auch dieses Motiv: ein Mädchen (Madonna, Nymphe, Unschuld, Sehnsucht usw.), das vor lauter Keuschheit nur aus Haut und Knochen besteht, von englischen Präraffaeliten geboren worden ist, hier und da aber gerne doch mit frommer Erotik ein Stückchen Bein zeigt, wird in boticelliartige Renaissancegewänder gekleidet und in einem schwül exotischen Paradiesgarten gestellt, wo sie entweder zu "sinnen", an einem Rosenstrauch zu riechen oder nur eine steile Silhouette zu bilden hat. Germanisch ist es immer, wenn der Künstler babyhaft albern tut oder sich treuherzig dümmlich stellt. Der Bauer ist es, der unsichtbar immer die Hauspostille bei sich hat, der Arbeiter, der mit Choralmusik durchtränkt ist, wie der Pennbruder mit Branntwein und jedes Alltagsmotiv, wenn es genügend gegenständlich subaltern gesehen ist. Man sollte meinen, die Deutschen müßten endlich Erfahrung gewonnen haben. An eben solchen Tendenzen, etwas ungefärbt vom Zeitmilieu, ist eine hoffnungsvoll werdende Kunst im 19. Jahrhundert schon einmal zerbrochen. Dieser falsche Idealismus, der auf der anderen Seite einen unfreien Wirklichkeitssinn bedingt, ist Schuld geworden, daß MENZEL auf halbem Weg stehen geblieben, FEUERBACH unverstanden und verbittert dahingegangen ist, MARÈES unerkannt in der Ferne gestorben, LEIBLs Meisterschaft noch heute nicht zu Ehren gekommen ist und LIEBERMANN als ein französelnder Fremdling bezeichnet wird; dieser Haß gegen klare Vernunft hat es verschuldet, daß HEBBELs Werke den Deutschen immer noch ein totes Kapital sind, LAGARDE nur einem engen Kreis bekannt ist und GOETHEs grandioses Lebenswerk zu einem Sentenzenmagazin für Phraseure erniedrigt wird. Diese Partei hält den Deutschen zurück vom gesunden Völkerwettstreit und läßt Kräfte verkümmern, von denen bald, sehr bald unsere Existenz als einige Nation abhängen wird; sie vergißt in ihrer künstlichen Jünglingslaune immer wieder, daß Deutschland allgemach ins Mannesalter getreten ist. Kaum Jemand erhebt sich gegen diese Gefahr, weil man sich scheut, sich dem schmutzigen Verdacht preiszugeben, man sei ein weniger guter Patriot und Idealist; und weil es sich bei den Gegner um "edle Empfindungen" handelt. Orgelmusik wird bei uns immer noch nicht kritisiert. Und doch ist es gerade die Gesinnungstüchtigkeit, die die Situation ernst macht. Mit dem ausgesprochen Schlechten und Kranken wird ein Volk viel leichter fertig. Gegen diese ehrlich gehegten und gepflegten nationalen Pseudotugenden hilft aber vielleicht nur das Beispiel, nur ein Geschlecht wahrhaft männlicher Männer. Ein Geschlecht von Männern, das keinem zeitlichen oder ewigen Gedanken ausweicht, im rechten Augenblick aber vertrauensvoll und an das Beste glaubend zu resignieren weiß; das mit GOETHE glaubt, daß
"unbegreiflichen Dinge aber zu fern liegen, um ein Gegenstand täglicher Betrachtung und gedankenzerstörender Spekulation zu sein." Worauf es ankommt, das ist nichts anderes als: wirklich zu werden bis in die letzte Faser und ganz und gar lebendig. Wer lebendiger Männlichkeit voll ist, braucht sich um nichts Anderes zu kümmern; denn er ist Alles mit einemmal: deutsch, ideal, sittlich, gefühlstief und was sonst noch gefordert werden mag. Der Idealismus, die Sittlichkeit, der Patriotismus des Mannes heißt die Tat, worin er das allstündlich eingeschlürfte Leben wieder ausströmt; sein Charakter, seine Persönlichkeit besteht in dem Stolz, genau das Maß zu füllen, das ihm die Natur verliehen hat, keinen Zoll darüber, keinen darunter. Alles Andere überläßt er dem Schicksal. Denn er ist nicht besorgt, wie die Zukunft ihn einst betrachten mag. Er ist zuerst für sich selbst da, sich zum Nutzen und Schaden, zu Freud und Leid; ist gewiß, umso bedeutender zu erscheinen, je weniger er an die äußere Wirkung ihm notwendiger Taten denkt, und überzeugt auch, umso fruchtbarer dem Allgemeinen zu dienen und Nutzen rings um sich zu verbreiten, je ernster er es mit sich selber nimmt. |