tb-3A. B. Johnson    
 
ANATOL RAPOPORT
Alfred Korzybski
(1880-1950)
- I I -

Semantik und AS
Die Abstraktionsleiter
Wissenschaft und Macht
Landkarte und Gelände
"Jede Landkarte wird für einen bestimmten Zweck hergestellt. Keine Landkarte kann das ganze Gelände darstellen."

KORZYBSKIs Theorie definiert geistige Gesundheit als eine genaue Entsprechung zwischen der Struktur der Wirklichkeit und der Struktur der Sprache (ob gedacht oder gesprochen), die zur Darstellung und Interpretation der Wirklichkeit benutzt wird. Da es Abstufungen der Entsprechung gibt, gibt es Abstufungen der geistigen Gesundheit. Das Extrem größter Annäherung an geistige Gesundheit haben wir in der Sprache der exakten Wissenschaften vor uns; das andere Extrem ist der Wahnsinn, der in den semantischen Reaktionen von Geisteskranken vorliegt. Dazwischen liegt die Unvernunft, die sich in der üblichen, unkritisch hingenommenen Alltagssprache äußert.

Nach KORZYBSKIs Meinung hat die Subjekt-Prädikat-Struktur der Sätze in den indoeuropäischen Sprachen die Menschen dazu verleitet, die Kopula "ist" in erster Linie als das "ist" der Identität zu verstehen und die übrigen Bedeutungen außer acht zu lassen. Wenn wir sagen: "Dies ist eine Rose", dann verstärken wir nach KORZYBSKI einen konditionierten Reflex auf das Wort "Rose", als ob es eine gegenständliche Rose wäre. Wir setzen "dies" mit "Rose" gleich. Tatsächlich verweist das Demonstrativ "dies" auf einen nichtsprachlichen Gegenstand, auf etwas, das weder mit einem Wort identisch ist, noch durch irgendeine Kombination von Wörtern zu fassen ist. Indem wir "dies" aussprechen, berauben wir uns selbst des Bewußtseins für seine sinnlich wahrnehmbare, nichtsprachliche Wirklichkeit.

Der erste Schritt zur geistigen Gesundheit besteht nach KORZYBSKI darin, daß wir uns angewöhnen die semantische Reaktion zu verzögern. Schau eine Rose an, sagt er, und hüte dich, sie zu benennen, nimm sie als ein Ganzes von Sinneseindrücken in dich auf. Dasselbe gilt für jede andere Situation. KORZYBSKI kommt immer wieder darauf zurück, daß wir lernen müssen, Wahrnehmungen und Beobachtungen zu machen, ohne sie zu benennen, zu klassifizieren oder in Kategorien einzuteilen. Wenn wir dies tun, dann machen wir uns die Einsicht zu eigen, daß jede Rose sich von jeder anderen Rose unterscheidet, daß Rose1 nicht mit Rose2 identisch ist und daß auch Rose1 nicht mit sich selbst identisch ist, weil sie sich ständig verändert. Die Veränderungen sind für uns nicht sichtbar, wir haben aber wissenschaftliche Beweise dafür, daß sie dauernd vor sich gehen.

Das Duften der Rose beweist, daß sich ständig Duftstoffe von ihr in der Luft ausbreiten. Ständig gehen chemische Veränderungen in den Stoffen vor sich, aus denen die "nichtsprachliche" Rose besteht. Weiterhin ist die Erscheinung der Rose als ein Gegenstand nur eine von unseren Sinnen erschaffene Abstraktion, die nicht die Struktur der Rose in allen Einzelheiten erfassen kann. Auf einer anderen Beobachtungsebene ist eine Rose überhaupt kein fester Gegenstand. Die Materie besteht aus winzigen Teilchen (Molekülen, Atomen, Elektronen usw.), die in ständiger Bewegung sind. Wäre unser Sehvermögen hinreichend scharf, dann würde uns eine Rose ehe wie ein Schwarm von Fliegen denn als ein fester Gegenstand erscheinen.

Tatsächlich existieren auf der sogenannten vor-atomaren Ebene der Wirklichkeit keinerlei Gegenstände, und erst recht keine Gegenstände von Dauer: es gibt nur Vorgänge, Vorfälle ohne Dauer. Unsere Sinne ordnen unsere Eindrücke auf eine Weise, daß uns eine Welt von Gegenständen erscheint, ganz ähnlich wie die Unvollkommenheit unseres Sehvermögens uns einen kreiselnden Ventilatorflügel als eine feste Scheibe erscheinen läßt (ein beliebtes Experiment KORZYBSKIs). Unsere Sprache fixiert unseren Glauben an eine Wirklichkeit dauernder Gegenstände.

In diesem Sinne muß KORZYBSKIs Leugnung des Grundsatzes der Identität aufgefaßt werden - nicht als eine Leugnung eines logischen Grundsatzes, sondern als eine Warnung, diesen Grundsatz auf die Wirklichkeit zu projezieren. Der Grundsatz der Identität besagt: "A ist A." Indem wir das Wort mit dem betreffenden Ding gleichsetzen, verstehen wir das so, daß es bedeutet: "Eine Rose ist eine Rose", d.h., daß eine Rose mit sich selbst identisch ist. Das trifft aber nicht zu.

Sind die Unterschiede zwischen den sprachlich hergestellten Identitäten und den in der Natur gefundenen Nicht-Identitäten wichtig? In bestimmten Zusammenhängen ist dies der Fall. Wenn wir menschliche Wesen oder irgendwelche Verhältnisse in Kategorien einteilen, dann vergewaltigen wir unser Wissen von individuellen Menschen und spezifischen Verhältnissen. In ihrer Struktur ist die Aussage: "Ein Jude ist ein Jude" ähnlich dem Satz "Eine Rose ist eine Rose" und dem Satz "A ist A". In bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen werden indessen durch eine solche Aussage rassische oder religiöse Vorurteile verstärkt. Das Schlagwort "Einmal ein Engländer, immer ein Engländer" wurde benutzt, um während der Napoleonischen Kriege die Einberufung amerikanischer Seeleute in britische Dienste zu rechtfertigen. Diese Gepflogenheit soll mit zum Ausbruch des Krieges 1812 (gegen England) beigetragen haben. Das Aufstellen von Kategorien verleitet uns auch dazu, Individuen eher als Angehörige von Klassen denn als selbständige Wesen anzusehen.

Anerkannte Kategorien, die durch Wortetiketten noch verstärkt werden, verdunkeln außerdem die Tatsache, daß die Einteilung in Kategorien auf viele Arten geschehen kann, die die Wahrnehmungen verzerren. Unvermeidlich machen wir uns gerade jene Kategorien zu eigen, die uns durch die Sprachgewohnheiten unserer Sprachgemeinschaft aufgezwungen werden; und dann kommen uns andere Kategorien komisch vor. So pflegt man beispielsweise in den Vereinigten Staaten Menschen in die Kategorie der "Neger" einzureihen, wenn sie erkennbare Spuren afrikanischer Herkunft zeigen, und in die Kategorie der "Weißen", wenn sie, abgesehen von Orientalen und Indianern, keine solchen Züge aufweisen.

Diese Einteilung in Kategorien ist nicht logischer, als wenn man als "Weiße" alle Personen etikettieren würde, die erkennbare Zeichen europäischer Abstammung haben, und als "Neger" alle diejenigen, die diese Zeichen nicht an sich tragen. Nach dieser Einteilung müßten aber die meisten heute als Neger etikettierten Menschen der Kategorie der "Weißen" zugeteilt werden, weil die meisten von ihnen erkennbare Anzeichen europäischer Herkunft haben. Im zaristischen Rußland wurden zur Kategorie der Juden nur diejenigen gerechnet, die sich zur jüdischen Religion bekannten. Wenn sie sich einer Zeremonie (der Taufe) unterzogen, in der sie den griechisch-orthodoxen Glauben anzunehmen erklärten, waren sie nicht mehr Juden im Sinne des Gesetzes und erwarben die bürgerlichen Rechte, die den sich zum Judentum Bekennenden vorenthalten waren. Im Nazideutschland wurde andererseits als Jude eine Person definiert, die wenigstens einen jüdischen Elternteil hatte, und daran konnte der Betroffene nichts ändern.

Der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit und der Grundsatz des ausgeschlossenen Dritten führen, wenn sie auf die Wirklichkeit angewandt werden, zu dem, was KORZYBSKI die zweiwertige Einstellung genannt hat. Die logischen Grundsätze als solche sagen nicht mehr aus, als daß eine Aussage entweder wahr oder falsch sein muß, aber nicht beides. Wenn man aber die Grundsätze der Widerspruchsfreiheit und des ausgeschlossenen Dritten als Sprachgewohnheiten übernimmt, dann führt dies zu einer Trennung von Eigenschaften und Situationen in Kategorien, die sich gegenseitig ausschließen. Der Grundsatz des ausgeschlossenen Dritten besagt nicht, daß ein Ding schwarz ist, wenn es nicht weiß ist. Das Wort "nicht" legt aber die Vorstellung des Gegenteils nahe.

Die meisten Menschen werden bereitwillig zugeben, daß etwas nicht schwarz zu sein braucht, wenn es nicht weiß ist. Dennoch verhalten sich viele so, als ob alles, was nicht gut ist, schlecht wäre und als ob jeder, der nicht ein Freund ist, ein Feind wäre ("wer nicht für uns ist, ist gegen uns"), als ob "Erfolg" oder "Mißerfolg" die einzigen Ergebnisse wären, die ein Unternehmen haben kann, als ob die Alternative zu Freiheit die Sklaverei, die Alternative zu Sieg die Niederlage wäre usw. usw.

Das Entweder-Oder-Denken beherrscht die Theologie, die Philosophie und die Politik. Am Tage des Jüngsten Gerichts, so heißt es, werden die Sterblichen entweder in die Kategorie der Erlösten oder der Verdammten eingereiht und kommen dementstprechend in den Himmel oder in die Hölle kommen. DESCARTES war ein hervorragender Vertreter des Dualismus, bei dem die menschliche Existenz in zwei getrennte Wesenheiten - dem Körper und die Seele - gesehen wird, einer Vorstellung, die immer noch in der Popularphilosophie vorherrscht.

Wenn wissenschaftliche Ideen in weite Kreise eindringen, neigen sie ebenfalls dazu, extreme Formen anzunehmen. Viele Jahre lang tobte der Streit über die Frage, ob bestimmte Fähigkeiten und Veranlagungen ererbt oder erworben sind, ob "Kriegsursachen" politisch oder wirtschaftlich sind, ob Geisteskrankheiten auf "organische" oder "funktionale" Störungen zurückgehen, usw. Die Unterscheidung zwischen zwei Bedingungen, Situationen, Ursachen oder dergleichen wird Dichotomie genannt. Das ist die einfachste mögliche Unterscheidung. Handlungen, Aufgaben und Entscheidungen setzen eine Entscheidungsfreiheit voraus. Die Wahl zwischen nur zwei Alternativen ist am einfachsten. Dichotomien, die wir sprachlich vornehmen, vereinfachen unsere Wahl.

Eine weitere Ursachen des Irrtums liegt nach KORZYBSKI in der stillschweigenden Annahme, daß die Struktur der Sprache der Struktur der Welt entspreche. Wir können vielleicht vermeiden, "Rose" und "rot" gleichzusetzen, wie dies durch die Aussage "Die Rose ist rot" nahegelegt wird, und trotzdem stillschweigend annehmen, die rote Rose sei eine Kombination von "Rosenhaftigkeit" und "Röte".

Im Mittelalter arbeiteten Alchimisten mit der aus Aristoteles Philosophie stammenden Annahme, die Stoffe bestünden aus einer wesentlichen Substanz, die allen Stoffen eigen sei, und aus besonderen Eigenschaften, die jener wesentlichen Substanz hinzugefügt worden seien. So nahm man an, das Blei bestünde aus der wesentlichen Substanz plus "Grauheit", "Stumpfheit", "Schwere", usw. Gold war die wesentliche Substanz plus "Gelbheit", "Glanz", "Geschmeidigkeit" usw. Mit der Unterstützung habgieriger Fürsten versuchten die Alchimisten, Grundmetalle wie Blei oder Zinn in Gold zu verwandeln. Sie glaubten, dies dadurch zu erreichen, daß sie in der wesentlichen Substanz die Eigenschaften des Bleis durch diejenigen des Goldes ersetzten.

Eine natürliche Folge ähnlicher Vorstellungen war der Glaube an Werwölfe. Von manchen Menschen glaubte man, sie seien fähig, sich in Tiere zu verwandeln, als ob man aus einem "Kern" und einer angenommenen ersetzbaren äußeren Form bestünde.

Die allzusehr vereinfachte Anschauung von der Welt als einer Anordnung von Gegenständen, Eigenschaften, Handlungen usw. in verschiedenen Kombinationen nannte KORZYBSKI Elementalismus - den Irrtum, sprachlich etwas zu trennen, was in der Natur nicht getrennt ist.

Vererbung und Umwelt sind verschiedene Wörter. Aber Vererbung kann nur in einer Umwelt zutagetreten, und die Umwelt formt einen Organismus nur innerhalb bestimmter, von der Vererbung geformter Grenzen. Ein Samenkorn wächst nicht ohne Nährstoffe, und keine Umwelt läßt aus einem Tomatenkern eine Eiche hervorwachsen, noch ein Krokodil aus einem Hühnerembryo. Wirtschaft und Politik sind verschiedene Wörter. Aber alle wirtschaftlichen Vorgänge ereignen sich in einem politischen System, und es gibt kein politisches System ohne eine Wirtschaft. Begrifflich gibt es keinen Ehemann ohne Ehefrau, noch eine Ehefrau ohne Ehemann. Die Struktur der Wirklichkeit besteht vielmehr in Beziehungen als aus Gegenständen oder Kategorien. Diese Struktur wird durch die Sprache, in der die Namen von Dingen, Eigenschaften, Kategorien usw. eine vorherrschende Rolle spielen, verdunkelt.

KORZYBSKI zitiert die Relativitätstheorie als einen dramatischen Bruch mit einer besonders hartnäckigen elementalistischen Auffassung. In NEWTONs Physik sind Zeit und Raum völlig voneinander getrennte unabhängige Kategorien, während die relativistische Physik mit Raum-Zeit, einem vierdimensionalen Kontinuum, zu tun hat, in dem räumliche und zeitlich Elemente untrennbar sind.

Das Entstehen von hybriden Wissenschaften, d.h. Schwesterwissenschaften, bezeugt die zunehmende Einsicht, daß die Aufspaltung des Wissens in verschiedene Abteilungen nicht der Struktur der Welt entspricht, die die Wissenschaft erforschen will. Es gibt keine scharfte Trennungslinie zwischen Physik und Chemie. Die physikalische Chemie, eine Zusammenfassung der beiden alten Fächer, untersucht die physikalische Seite chemischer Vorgänge. Es gibt heute auch Geophysik, Astrophysik, Biophysik. Die organische Chemie, die Biochemie und die Physiologie hängen durch gemeinsame Methoden und Begriffe miteinander zusammen. Unsere tiefe Einsicht in die Arbeitsweise des Nervensystems enthüllt die Sinnlosigkeit der Trennung von Körper und Seele. Die Welt paßt nicht in die Mauselöcher, die unsere Sprache für sie bereit hält.

Zusammenfassend hebt KORZYBSKI drei Erkenntnisirrtümer infolge von Sprachgewohnheiten hervor: die tatsachenfremde Gleichsetzung, die zweiwertige Einstellung und den Elementalismus. Diese drei spiegeln nach seiner Meinung eine aristotelische Einstellung wider. Um die Irrtümer der aristotelischen Einstellung zu berichtigen, bietet KORZYBSKI die Allgemeine Semantik an. Darum nannte er sie ein nichtaristotelisches System.

KORZYBSKI versuchte Erkenntnisirrtümer dadurch zu erklären, daß wir nicht die einzigartig menschlichen Eigenschaften unseres Nervensystems voll ausnützen. Stattdessen, sagte er, "kopieren wir Tiere". Tiere reagieren auf Reize wie auf Signale, nicht Symbole, weil sie keine symbolische Sprache besitzen. Wenn daher einem Hund beigebracht wird, "richtige" Reaktionen auf verbale Befehle auszuführen und wenn er so Sprache zu "verstehen" scheint, dann reagiert er in Wirklichkeit in konditionierten Reflexen. Die Laute der Wörter werden einfach zu erlernten Reaktionen auf Befehle umgeformt. Unsere Reaktionen auf Wörter, als ob sie Dinge wären, sind nach KORZYBSKIs Meinung im Grunde von gleicher Art.

Ein großer Teil von KORZYBSKIs Buch SCIENCE AND SANITY ist der Darstellung der Methode gewidmet, wie das menschliche Nervensystem trainiert werden kann, damit es auf die Sprache und auf die Welt richtig reagiert. Das Ziel des Trainings liegt darin, die Abstraktionsebenen bewußt zu machen. Durch unsere Sinne erhalten wir Kenntnisse über die Welt. Indessen geben uns unsere Sinne nur lückenhafte Informationen über die physikalische Wirklichkeit. Was wir als einen Gegenstand wahrnehmen, ist in Wirklichkeit ein schrecklich kompliziertes Zusammentreffen von Vorgängen, die sich unmöglich in ihrer Vollständigkeit beschreiben oder auch wahrnehmen lassen. Aber unser Nervensystem verarbeitet unsere Sinneseindrücke derart, daß wir einen Gegenstand als "etwas" wahrnehmen. Dieser wahrgenommene Gegenstand ist die erste Abstraktionsebene. Der Name des Gegenstandes ist eine weitere (höhere) Abstraktionsebene. Namen von Klassen von Gegenständen, Eigenschaften, die Klassen definieren, Verallgemeinerungen, Theorien und so weiter stehen auf zunehmend höheren Abstraktionsebenen.
LITERATUR - Anatol Rapoport, Allgemeine Bedeutungslehre, Darmstadt 1972