Einschätzung der Allgemeinen Semantik
Die allgemeine Semantik von ALFRED KORZYBSKI und seinem Nachfolger SAMUEL ICHYIÉ HAYAKAWA steht bisher im psycholinguistischen Urteil als eine Pseudowissenschaft, bestenfalls als Anwendung einer unbewiesenen, altmodischen (SAPIR-WHORF-) Hypothese dar, genießt aber die Ehre, zuweilen wenigstens erwähnt zu werden. Als eine pädagogische Bewegung verstanden scheint mir dagegen die "Allgemeine Semantik" ein hoch interessantes Phänomen zu sein, sowohl für Deutschland, wo sie unter Pädagogen fast unbekannt ist, als auch im Kontext von "Sprache und Lernen". Die sprachliche Vermitteltheit menschlicher Handlungen und vor allem menschlicher Konflikte ist die Basisüberzeugung der "Allgemeinen Semantik", aus der sich die Möglichkeit ableitet, Sprachkritik als umfassendes Therapieinstrument für Erwachsene pädagogisch einzusetzen. Dies als eine notwendige Übergangslösung, bis dann allen Kindern von Anfang an mechanisch eine kritische Einstellung zur Sprache zum normalen Verhalten werden könnte. Mag es für Psycholinguisten wichtig erscheinen, die "Allgemeine Semantik" ihren Annahmen und Aussagen nach zu überprüfen, um sich mit der von ihr postulierten Wissenschaftlichkeit auseinanderzusetzen, so muß dieser Aspekt durch eine pädagogische Untersuchung dieser "Bewegung" ergänzt werden. Pädagogische Theorien oder besser Pädagogiken, unter denen ja die programmatischen Popularisierungen wissenschaftlicher Ansätze in unserem Jahrhundert zunehmen, erhalten Rang und Würde als ernstzunehmende Phänomene für die Erziehungswissenschaft dadurch, daß sie eine größere Verbreitung finden und real bestimmte Lehr- und Lernformen und -inhalte schaffen. Unabhängig also von der Frage, ob ihre Aussagen fachwissenschaftlich ernst zu nehmen sind oder nicht, können sie ein pädagogisches Potential enthalten, das sie geeignet machte, die Welt oder bestimmte Ausschnitte von ihr pädagogisch zu interpretieren, d.h. bestimmte Lehr- und Lernaufgaben notwendig erscheinen zu lassen. Das bedeutet, daß wir nicht nur die theoretischen und quasi-theoretischen Gebäude derartiger pädagogischer Bewegungen wie der "Allgemeinen Semantik" daraufhin zu untersuchen haben, wie sie "konstruiert" und wie derartige Konstruktionen wissenschaftlich zu beurteilen sind, sondern aufgrund ihrer Verbreitung auch fragen müssen, welche pädagogische Bedürfnisse ihnen zugrunde liegen und wie nun diese Bedürfnisse einerseits zu beurteilen, andererseits zu befriedigen sind. Die "Allgemeine Semantik" scheint mir, unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Dignität, zum Typus der radikal aufklärerischen Pädagogiken zu gehören, sie ist u.a. idealistisch, formalistisch, totalisierend, therapeutisch. Modern scheint sie mir darin zu sein, daß sie nicht Motive untersucht, sondern Konflikte idealistisch interpretiert, daß sie nicht metaphysisch, sondern metatheoretisch begründet ist und ihre Therapie eine Therapie der Kommunikation ist. So ist es nicht verwunderlich, daß ihre pädagogische Konstruktion auch Fachwissenschaftler fasziniert und daß diese Mühe haben, Akzeptierbares von Unsinn zu trennen, Bewiesenes vom Vermutbaren. Diese kritische Haltung allerdings zerstört sozusagen das pädagogische Phänomen der programmatischen Konstruktion, ohne damit auch immer das angesprochene pädagogische Bedürfnis befriedigen zu können. Notwendig ist also eine pädagogisch interessierte, klinische Einstellung, das Phänomen der "Allgemeinen Semantik" als solches zu studieren und an ihm exemplarisch über die Genese und das Schicksal derartiger Konstrukte zu lernen: zunächst vielversprechend und dann doch erfolglos, interessant, aber unfruchtbar, vernünftig, aber blind für Wichtigeres. Bleibt die Frage nach den von der "Allgemeinen Semantik" angesprochenen pädagogischen Bedürfnissen. Wie manch andere, oberflächlich aufklärende Pädagogik verrät sich in ihrem Methodenprimat, ihrer Instrumentalität und Simplizität ihre sekundäre Natur; als Reaktion auf primäre Erscheinungen hat sie Komplementär funktion. Damit gewinnt sie ebenfalls über sich selbst hinaus Bedeutung als Index für pädagogisch wichtige Veränderungen. Als so "allgemein", wie die "Allgemeine Semantik" ist, muß auch die Veränderung angenommen werden, auf die sie reagiert. Ist es die zunehmende Verselbständigung der versprachlichten Welt, die zunehmende Semiotisierung der Welt, die pädagogisch nach Kompensation verlangen läßt? Dann ist der Ansatz der "Allgemeinen Semantik" nicht die einzige Möglichkeit einer pädagogischen Antwort und kann mit anderen Pädagogiken (wie z.B. MEREDITHs Instruments of Communication" und seinen Epistemics oder STACHOWIAKs neopragmatischer Modelltheorie oder WATZLAWICKs menschlicher Kommunikation oder dem französischen Strukturalismus) als kompensatorischen Bewegungen zur Menschen entfremdenden Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] der Zeichenwelten verglichen werden. Wie PIRANESE in seinen Carceri hoffen auch sie auf die befreiende Wirkung der Bewußtmachung und Darstellung der Gefängnisse. Das ist meistens mehr Ausdruck eigener Verzweiflung als befreinde Hilfe, aber doch ein gutes Instrument, um unangemessene Herrschaftsansprüche im Namen hypostasierter Zeichenwelten abzuweisen. Das Problem aber, ob und wie für Kinder ein anderer als der traditionelle Weg zu den kulturellen Zeichenwelten geschaffen werden kann und sollte, macht aus der vorwiegend sekundären Bedeutung der "Allgemeinen Semantik" ein primär pädagogisches Problem. |