ra-2tb-1Emil Laskvon Kirchmannvon RümelinP. EltzbacherR. Stammler    
 
ERICH KAUFMANN
Kritik der neukantischen
Rechtsphilosophie

[3/3]

"Aushöhlung und Entleerung alles Lebendigen ist das letzte Wort. Erkenntnistheorie ohne Wahrheitsbegriff, Psychologie ohne Seele, Rechtswissenschaft ohne Rechtsidee, formale Gesinnungsethik ohne Sittlichkeitsbegriff, Geisteswissenschaften ohne Gefühl für konkrete Geistigkeiten sind die Kinder der Zeit. Nirgends ein fester Halt in den uferlosen Meeren der leeren Formen und der vom Denken nun einmal nicht auflösbaren empirischen Tatsächlichkeiten. So wurde der Neukantianismus, ohne es selbst zu ahnen, das Gegenteil dessen, was er wollte: der unmittelbare Wegbereiter jeder an sich selbst verzweifelnden  Spengler-Stimmung, der jüngsten Erkrankung unserer, einer Metaphysik des Geistes beraubten Volksseele."

Wenn man das Wesen des Rechts nur formal und negativ bestimmt als heteronom, als gebietend und verbietend, als das von den Rechtsgenossen Anerkannte, als Zwangsvorschriften, als bloß äußerliches Verhalten fordernd, dann müssen in der Tat alle Merkmale, die über diese Bestimmungen hinausgehen, als rechtsfremde aus den juristischen Begriffen ausgeschieden werden. Und da in diesen die Rechtsidee konstituierenden Merkmalen nichts von Gerechtigkeit, nicht vom Inhalt der spezifisch rechtlichen Ordung gerade als rechtlicher Ordnung, nichts von der Funktion des Rechts für die Rechtsgemeinschaften, nichts von den Beziehungen des Rechts zum sozialen Leben und zu den anderen Mächten des geistigen Daseins, nicht vom Herauswachsen des Rechts aus den soziologischen Gegebenheiten und Gestaltungen, von seinen historischen und soziologischen Bedingtheiten steckt, so müssen natürlich alle diese Beziehungen und Verwebungen als nicht-rechtliche, als meta-juristische Bestandteile aus den juristischen Begriffen verwiesen werden: das ist ein Gesetz der Begriffslehre. Und es ist wahrlich kein Zeichen besonderer Klugheit oder Begriffsklarheit, wenn man dieses Kunststück nun überall vollzieht und dem, der sich weigert,  diesen  Reinigungsprozeß vorzunehmen, weil für ihn auch jene mannigfaltigen Beziehungen und Verwebungen mit zum Wesen des Rechts gehören, begriffliche Unklarheit und "Methodensynkretismus vorzuwerfen. Hinter einem solchen Purismus steck das rationalistische Vorurteil, daß das "Einfache" zugleich das methodisch Wertvolle, oft sogar geradezu, daß es das metaphysisch Wertvolle sei, was bei der Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] methodischer und erkenntnistheoretischer Begriffsbildungen ins Metaphysische vielfach ineinander übergeht. Die denk- und wertökonomischen Prinzipien KELSENs sind von solchen rationalistischen Vorurteilen ebenso beherrscht wir RICKERTs Lehre von der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, deren "Ideal" die möglichste "Vereinfachung" der Wirklichkeit ist. Dadurch werden natürlich  die  Naturwissenschaften, die nicht bis zur weitestgehenden Auflösung der Qualitäten in quantifizierbare Elemente fortschreiten, zu weniger vollkommenen Naturwissenschaften. Als ob nicht jede Naturwissenschaft ihr spezifisches und damit einen spezifischen Eigenwert besitzendes Begriffsbildungsprinzip hätte! Auch die am meisten das Qualitative "zerfällenden" Naturwissenschaften nehmen diesen Prozeß natürlich zu bestimmten Erkenntniszwecken vor: der Reduktion der Wirklichkeit auf meßbare und wägbare Größen. Und das Messen und Wägen ist ein ganz konkreter, neben anderen konkreten, relativ ebenso berechtigten stehender Erkenntniszweck: nicht um  in abstracto  zu "vereinfachen", zerfällen einige Naturwissenschaften die bunte Mannigfaltigkeit in Atome, sondern um gewisse Teile derselben messen und wägen zu können. Das Messen und wägen kann aber nur für denjenigen eine Vorzugsstellung unter den menschlichen Zwecken einnehmen, der von der alten rationalistischen Vorstellung, daß die Mathematik das "methodische" Vorbild aller Wissenschaften ist oder uns gar das "Wesen" der Dinge enthüllt, noch nicht frei ist. KELSEN vergleicht ganz konsequenz die Rechtswissenschaft mit der Geometrie. Es war eine feine Beobachtung, wenn HATSCHEK von der "naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" im RICKERTschen Sinn bei der Rechtswissenschaft sprach und "Grenzen" dieser Begriffsbildung forderte: ob er nicht noch weiter hätte gehen und ihr Ende hätte fordern müssen?

Es ist die für jeden Rationalismus charakteristische  Eindimensionalität des Denkens,  die sich in dieser Tendenz zum "Einfachen" dokumentiert. So wird Erklären nicht nur zum Vereinfachen, sondern zu einem möglichst starken Vereinfachen. Gewiß ist jedes Erkennen, jedes Handeln, jedes Gestalten ein Vereinfachen: eine Rettung aus der erdrückenden unendlichen Mannigfaltigkeit des Seins, der Verwobenheiten, der Gesichtspunkte, eine aus dem tiefsten Einheits- und Kraftzentrum der  Seele  notwendige Selbstbefreiung aus der absoluten Lähmung, in die uns die absolute Unendlichkeit der Tatsache und Einstellungsmöglichkeiten verstricken müßte. Aber es ist substanzloser Rationalismus, wenn das Vereinfachen zum Selbstzweck wird und nicht ein aus den konkreten Nöten der Seele geborener Zwang zu adeliger Härte gegen sich selbst und gegen die Welt bleibt, der zum Schaffen und Gestalten, zur vereinfachenden Konkretisierung drängt, weil ohne sie die metaphysische Substanz der Seele in der empirischen Unendlichkeit verlorengehen würde. Wo diese metaphysische Substanz fehlt und damit die konkreten Nöte der Seele, aus denen sich die gestaltenden Vereinfachungen lösen, nicht empfunden werden, wird das Vereinfachen zum leeren und abstrakten Vereinfachen als solchem, zur mechanisierenden und zersetzenden Rationalisierung, die einen Halt nirgends finden kann und erst zur Ruhe kommt, wo das Vereinfachen nicht mehr weiter getrieben werden kann: im eindimensionalen Denken, das als wertvoll erscheint nicht wegen der besonderen und konkreten Formwerte, die gerade auch das Eindimensionale hat, sondern weil eine leer gehende Seele vorher keinen Halt finden und weil es nicht mehr überboten werden kann. Der metaphysikfreie Neukantianismus ist substanzloser Rationalismus. Ihm eignet daher notwendig jener Januskopf, dessen Gesichtshälft die Züge eines schrankenlosen Empirismus und dessen andere die eiens ebenso schrankenlosen Formalismus trägt: er kann dem alles erdrückenden Empirismus nur die absoluteste Eindimensionalität einer abstraktiv gewonnenen rationalen Formenwelt gegenüberstellen.

Als typisch rationalistisch erscheint darum auch die für den Neukantianismus charakteristische Reduzierung auf eindimensionale Beziehungen: kausale Beziehungen, teleologische Beziehungen, Wertbeziehungen, begriffliche Antithesen, dualistische Gegenüberstellungen. Die Kategorie der "Wechselwirkung" spielt keine Rolle: RADBRUCH ist daher echter Neukantianer, wenn er aus dem instinktiven Gefühl, daß er sie für sein typisch eindimensionales Denken nicht braucht, ja daß sie es geradezu gefährden müßte, ablehnt und ausdrücklich ausscheidet. Ebenso charakteristisch ist, daß der Neukantianismus, sofern er doch - wie ja bei der "Unvermeidlichkeit" der Metaphysik selbstverständlich ist - unbewußt Metaphysik treibt,  gerade solche eindimensionalen Beziehungen  hypostasiert [auffaßt - wp]: der schroffe  metaphysische  Dualismus, auf dem seine rational-formalistsiche Seite beruth, besteht ja, wie wir oft sahen, auf der Heraufschraubung eindimensionaler  begrifflicher Antithesen  zu einer  metaphysischen Dualität.  Daß also alle jene eindimensional nicht faßbaren Beziehungen, Verwebungen und Bedingtheiten des Rechts von ihm ignoriert werden, ist wieder in seiner unbewußten Metaphysik, der Metaphysik der Substanzlosigkeit, begründet. Wie Wert und Wirklichkeit, wird auch das Recht und sein soziologisches Substrat als  Recht und Macht  dualistisch auseinandergerissen und diese Auseinanderreißung zum  metaphysischen  Ausgangspunkt genommen, so daß völlige Blindheit eintritt gegenüber allen Ausführungen, die diese Hypostasierung von bloß begrifflichen Antithesen nicht mitmachen. Ein  begrifflicher  Gegensatz schließt aber nicht aus, daß zwischen dem Unterschiedenen doch Beziehungen bestehen. Wenn der Gegensatz  nur  ein abstrakt-begrifflicher ist, ist sogar schon damit gesagt, daß unter allen anderen Gesichtspunkten als dem, unter dem die Unterscheidung steht, das Getrennte eine Einheit bildet. Wenn der Gegensatz zugleich auch auf einem Auseinander-Erleben-Müssen beruth, so wäre damit allerdings ein metaphysischer Gegensatz gegeben; aber es kann und muß auch dann noch die Frage aufgeworfen werden, ob die Gegensatzpaare auch stets auseinander fallen  müssen,  oder ob sie nicht auch unter gewissen Bedingungen auch zusammenfallen  können.  Auch in der Nichtbeachtung dieses Unterschiedes liegt eine Hypostasierung von bloß Begrifflich-Abstraktem zum Metaphysischen: die Umdeutung eines bloßen Könnens in ein metaphysisches Müssen. Zugleich macht ein solches Verfahren blind für die Frage, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen das  Auseinanderfallen-können stattfindet und unter welchen das  Zusammenfallen-können eintritt. So sehr Wert und Wirklichkeit, Recht und Macht frei gegeneinander beweglich sind und auseinander-erlebbar sind, weil sie auseinanderfallen können, so wenig  müssen  sie auseinanderfallen: die beiden frei gegeneinander beweglichen Sphären können sich auch  decken.  Die Einsicht in diese Tatsache und damit in den gesamten gewaltigen Fragenkomplex, der mit ihr gegeben ist, wird durch die Hypostasierung des Gegesatzes zu einem unüberbrückbaren metaphysischen Dualismus verbaut, ja es entsteht eine völlige Blindheit gegenüber allen, die diese Metaphysik nicht mitmachen.

Nur aus einer solchen rationalistischen Seelenblindheit ist es zu erklären, daß meine früheren Ausführungen zu diesen Problemen von neukantischer der dem Neukantianismus nahestehender Seite so mißverstanden worden sind. Ich habe niemals das Recht auf die Macht basiert, niemals, wie HELLER es von seiner rationalistisch-dualistischen Metaphysik aus nennt, einem "Machtmonismus" gehuldigt, sondern nur das Verbrechen begangen, einen relativen Gegensatz nicht zu einem absoluten heraufzuschrauben. Ich sprach von einem "dem Staat immanenten Machtgedanken", wie ja jedes soziologische Phänomen, jede "soziologische Gruppe" ein "Machtelement" enthält: d. h. überhaupt soziologische "Wirklichkeit" und den Willen zur "Wirksamkeit" besitzt. Aber ich sage zugleich: "die Macht als solche genügt nicht". Was ich bekämpfe, ist "die einseitige Betrachtung der Macht als  Gegensatz  zum Recht". Ich sage, "daß der Staat  seiner Idee nach  auf der (prästabilierten) Harmonie von Recht und Macht beruth"; aber es sei natürlich "eine absolute Garantie und eine mechanisch wirkende Veranstaltung" nicht gegeben, "daß immer nur das  Richtige gekonnt  wird", da das von allen möglichen "irrationalen Faktoren" abhängt. "Macht und Recht scheinen nur einer oberflächlichen, an den Verhältnissen der einzelnen Individuen haften bleibenden Betrachtung  Gegensätze  zu sein: sie sind in der Weltordnung  dazu bestimmt,  sich zu  suchen  und zu  finden". (7) Also gerade kein Machtmonismus: Macht und Recht sind  nicht  eins; aber sie  sollen  eins  werden.  Aber auch kein Recht-und-Macht- Dualismus:  sondern ein zur Aufhebung in einem Monismus bestimmter Dualismus. Der Monismus ist "Aufgabe": aber kein Machtmonismus, sondern ein "der Idee nach" zu erstrebender Macht-Recht-Monismus.

Wie BINDER gegenüber in seiner neuesten Schrift über Recht und Macht die Behauptung aufstellen kann, ich suchte vom staatlichen Machtgedanken aus den Weg zum Begriff des Rechts zu gewinnen, was natürlich unmöglich ist, ist schwer zu verstehen. Gehe ich doch gerade den umgekehrten Weg, vom Rechtsgedanken aus, den ich in polemischer Auseinandersetzung mit allen bloß psychologisch fundierten Theorien zu analysieren versuche (8). Dann aber zeige ich, daß ein im Abstrakten stecken bleibender Rechtsbegriff zu einem Relativismus führt, der eine Wertdifferenz zwischen den einzelnen Rechtsordnungen, z. B. der staatlichen Rechtsordnung und der einer Räuberbande nicht zuläßt. BINDERs gegen mich polemisch gerichteter Hinweis auf die Räuberbande ist also doch wohl - nicht ganz am Platz.  Warum  freilich die Räuberbande "keine Rechtsgemeinschaft" darstellt, kann BINDER nicht begründen: denn der Hinweis auf die "Synthese von Macht und Sittlichek", die den Inhalt der Rechtsidee ausmachen soll, kann bei dem rein formalen Charakter der neukantischen Gesinnungsethik gar nichts helfen. Demgegenüber führte ich aus, daß der Wert der einzelnen Rechtsordnungen niemals aus dem abstrakten Rechtsbegriff als solchem erkannt werden kann, sondern nur aus dem  Wert der konkrten Gemeinschaft,  deren Verhältnisse die Rechtsordnung "gerecht" regeln will, aus dem Wert, der "Zumutbarkeit", der "Allgemeingültigkeit", die den  konkreten Gemeinschaftszwecken  auf den Grund einer bestimmten Weltanschauung und des ihr eigentümlichen konkreten Ethos zukommt. Neben den abstrakten Elementen des Rechtsbegriffs kommt es auf die "konkreten Verteilungsgesichtspunkte" (9) an, unter denen jede Rechtsordnung als "Gerechtigkeitsordnung" steht. Gerade weil das Recht als soziologische Erscheinung ein "Machtelement" enthalten muß, kann das Recht nur dann wertvolles Recht sein, wenn diese Macht in den Dienst von wertvollen, den Rechtsgenossen "zumutbaren" konkreten Gemeinschaftszwecken gestellt ist. Gewiß ist das Recht ohne es tragende und stützende Macht und reale Interessen, die sich in seinen Dienst stellen, kein "wirklich geltendes" Recht, keine das Leben wirklich beherrschende "Macht". "Die  Richtigkeit  und  Allgemeingültigkeit  des Rechts  ruht auf dem Wert des Subjekts dieser Interessen".  (10) Also: nicht auf "Interessen" ruht das Recht als "Recht", sondern auf "dem Wert von Interessen". Das ist ein Unterschied, den auch BINDER verstehen sollte. "Seine letzte Berechtigung kann der Rechtszwang nur daraus schöpfen, daß die zwingende Gemeinschaft  richtige Ziele  verfolgt", sage ich an anderer Stelle (11). Nie und nirgends habe ich gesagt, daß die Macht das Recht konstituiert, sondern das Gegenteil: "Das Recht muß in dem realen Ganzen, das es regeln will, gelten, in ihm eine reale Macht, die es zusammenschweißen hilft, sein; denn nur solange eine Rechtsordnung noch wirklich gilt, ist und bleibt das reale Ganze ein solches. Und es kann immer  nur eine Rechtsordnung  sein, die ein reales Ganzes  im letzten Grund zusammenhält:  denn nur der  Rechtswert,  als richtiger Maß- und Verteilungswert, vermag jedem den ihm  sub specie  [unter dem Gesichtspunkt - wp] des Ganzen  richtigen  Platz einzuräumen; nur eine  Rechtsordnung  kann eine  wirklich geltende Willensordnung  sein, da nur sie von den Genossen als eine  notwendige  und  nicht willkürliche anerkannt  und empfunden werden kann. Diese eigentümliche, durchaus notwendige Tatsache wir in allen jenen Rechtsdefinitionen, die lediglich auf die  Geltung, Anerkennung, Garantie  usw.  abstellen,  übersehen". (12) Ich weiß nicht, wie man deutlicher von  jeder  das Recht  lediglich  soziologisch begründenden Theorie abrücken kann. Wenn das von BINDER und von anderer Seite immer wieder mißverstanden wurde, so liegt das an der typisch neukantischen Unfähigkeit, das, was nicht in analytische eindimensionale Gedankengebilde und Beziehungen aufgelöst wurde, zu verstehen, an der Blindheit für die Wechselwirkungsfälle, für die Antinomien, für die niemals restlos antithetisch formulierbaren, komplizierten Beziehungen, die die Wirklichkeit uns nun einmal bietet.

Umgekehrt allerdings denkt der metaphysische rationalistische Dualist: Recht und Macht sind Gegensätze; sie werden zu absoluten hypostasiert, so daß das von aller Macht freie, "reine" Recht zum absoluten Wert herauf-, die Macht zum absoluten Unwert heruntergeschraubt wird. Für die wissenschaftliche Betrachtung der sozialen Phänomene müssen darum die soziologischen Machtelemente in die wertlose Stofflichkeit verwiesen und die "reinen" Rechtselemente als das allein Wertvoll herausgearbeitet werden. Die  absolute  Gegensätzlichkeit von Recht und Macht, in die die zum Teil bloß  begriffliche  Gegensätzlichkeit umgedeutet ist, zwingt dann zu der eindimensionalen Fragestellung, ob das Recht auf der Macht oder die Macht auf dem Recht beruth, während die bloße Relativität des Gegensatzes schon diese  Fragestellung  ausschließen müßte (13). Nun kommt aber noch die Tendenz hinzu, diese ins Absolute hypostasierten Gegensätze  ins Ethische zu transponieren.  Es ist dieselbe Tendenz, die wir z. B. in der neukantischen Lehre vom Primat der praktischen Vernunft beobachten Können: KANT hatte diese Lehre metaphysisch durch sein Ding-ansich begründet, der Neukantianismus tut es durch eine Umdeutung des bloß begrifflich-erkenntnistheoretischen Sollens in ethisches Sollen und hält diese  Umdeutung  eines erkenntnistheoretischen Inhalts für eine "erkenntnistheoretische"  "Begründung".  Ebenso wird für das Verhältnis des "reinen Rechts" zur soziologischen Macht, diese wegen ihrer bloßen Stofflichkeit, wertfremde Größe mit dem ethischen Unwertbegriff der "Gewalt" >gleichgesetzt. Dabei können Macht und >Gewalt geradezu Gegensätze sein, wie schon aus der Möglichkeit einer Verbindung der Begriffe "sittlich" und "religiös" mit dem der "Macht" und der Unmöglichkeit ihrer Verbindung mit dem der "Gewalt" hervorgeht (14). Dann wird alle Machtpolitik, d. h. alle Politi, die darauf aus ist, in der empirischen  Wirklichkeit  ein  wirkender,  d. h. bestimmender oder mitbestimmender Faktor zu sein, also jede Politik, die in etwas anderem besteht als im Reden, im Deduzieren aus abstrakten Prinzipien und im Subsumieren unter solche, zur "Gewaltpolitik": denn nur dann kann ja das "reine", das von allen soziologischen Machtsubstraten freie Recht verwirklicht werden. - Es ist die Eindimensionalität des rationalistisch vereinfachenden Denkens, die zu diesen Hypostasierungen und Transpositionen zwingt, wenn überhaupt aus der Sphäre der rein begrifflichen Unterscheidungen ein Ausweg ins Freie möglich sein soll: das rationalistische Denken kommt bei seiner Vereinfachung der Erscheinungen erst zur Ruhe, wenn es diese eindimensionale, in ihrer Einfachheit nicht mehr zu überbietende Beziehungsverhältnisse zurückgeführt hat; und das ist erst erreicht bei einer vollendeten Inhaltsleerung, bei der Herauspräparierung der reinsten und abstraktesten Formen; und weil diese abstraktive Welt eben eine rein formale ist, können zur bunten Stofflichkeit des Lebens keine Beziehungen mehr geknüpft werden - ist doch gerade bewußt alle Stofflichkeit aus ihnen entfernt. Nur durch  Hypostasierung  [Vergegenständlichung - wp] in inhaltlich Metaphysische, durch eine  Transponierung  ins Ethische, durch eine  Substruierung  [Unterbau - wp] mit Psychologischem und Soziologischem kann die, ansich ja gerade abgebrochene Brücke zur stofflichen Wirklichkeit wieder geschlagen werden. Im Ergebnis ist daher die eindimensionale Vereinfachung der Welt nicht eine  Deutung  der Welt unter bestimmten, seelisch notwendigen Gesichtspunkten und Einstellungen, sondern eine  Umdeutung  der Welt in eine aus einfachsten Elementen aufgebaute, oder, bei der Transponierung der reinen Formwerte ins Ethische,  die Forderung eines Neubaus der Welt aus den "einfachsten" Elementen.  Gewiß handelt es sich beim Erkennen nie um ein mechanisches Abbilden, sondern um ein - wenn man den Ausdruck gebrauchen will - Vereinfachen, aber nicht um ein Vereinfachen um des Vereinfachens willen, um ein abstraktes, substanzloses Vereinfachen, sondern um ein Deuten, d. h. ein substantielles, aus  konkreten seelischen Bedürfnissen  notwendiges Vereinfachen, dessen Berechtigung mit deren Berechtigung und innerlicher Notwendigkeit steht und fällt.

Das technische Mittel, mit dem der vereinfachende Rationalismus arbeitet, ist die  Definition von der er stets seinen Ausgang nehmen muß. Die Definition will einen "Begriff" "bestimmen" durch "Abgrenzungen"; und dieses Geschäft gilt als vollendet, wenn einem Artbegriff ein ihm spezifisches Merkmal beigefügt ist. Das hat natürlich seine Berechtigung, aber nur eine relative. Denn dadurch wird der Begriff nur von einem  anderen  in "einfachster" Weise abgegrenzt; er wird also nur von diesem, von allen anderen aber  gar nicht  abgegrenzt, seine Beziehungen zu allem anderen bleiben daher unberücksichtigt: ein durch eine Definition gewiß auf das einfachste bestimmter Begriff ist daher nur  relativ  bestimmt, hauptsächlich aber unbestimmt. Wenn man nun in einer solchen Definition nicht bloß eine sehr relative und  insofern  wohl mögliche und zulässige Bestimmung des Begriffs sieht, sondern eine Formel für sein "Wesen", so "rationalisiert" man den Gegenstand des Begriffs in  unzulässiger  Weise, und macht sich blind für alle anderen Beziehungen des Begriffs. Wenn man daher den Begriff des Rechts "definiert" - ob nun nach dieser oder nach jener Richtung -, hat man unzweifelhaft etwas sehr "Einfaches" gewonnen, aber etwas ganz Unvollständiges und damit Schiefes, ja Falsches. Denn man hat im günstigsten Fall  eine  Seite und  eine  Beziehung des Rechts "isoliert", alle anderen Seiten und Beziehungen aber totgeschlagen. Wenn man das  Wesen des "Geistigen"  in einer gewissen "Totalität", einer gewissen "substantiellen Einheit" sieht, so kann man unzweifelhaft diese Totalität und Einheit als solche nie begrifflich erfassen, sondern nur durch gewisse isolierende und selektive Betrachtungen. Aber diese Isolierungen und Selektionen müssen einerseits auf einer Anschauung der Totalität, der substantiellen Einheit beruhenen, aus der die einzelnen Isolierungen und Selektionen gespeist werden, deren Projektionen und Expressionen sie sind, und andererseits auf einer Herausarbeitung der Beziehungen, die zwischen den mannigfaltigen einzelnen Isolierungen und Selektionen obwalten, und die sie mit der, zwar als solcher begrifflich nicht faßbaren, aber anschaubaren und innerlich erlebbaren substantiellen Einheit der geistigen Substanz verbinden. Jedes bloße Isolieren, das nicht durch eine Zusammenfügung der einzelnen mannigfaltiven Isolationen untereinander und dieser mit dem substantiellen Quell- und Einheitspunkt des Geistigen ergänzt wird, schließt dahier die Erfassung eines Objekts als eines geistigen aus. So muß auch eine Betrachtung des Rechts, die auf einer isolierenden Definition beruth, die Betrachtung des Rechts als "geistiger" Erscheinung bereits an der Schwelle ausschließen; und eine juristische Begriffsbildung, die unter der Herrschaft einer solchen Definition steht, den geistigen Gehalt aus den juristischen Begriffen eliminieren. Auch wer das Recht nicht als bloße "empirische Maschinerie" definiert, muß, schon infolge der Basierung auf eine isolierende Definition, die juristischen Begriffe entgeistigen und zu  bloß  technischen Begriffen machen. Denn eine bloße Isolierung ist stets zugleich Technisierung. Es soll damit keineswegs jeder Technisierung auch auf dem Gebiet des geistigen Lebens das Recht abgesprochen werden; sie ist in gewissem Umfang und gewissen Grenzen sogar nötig: darum liegt auch in der "Rechtstechnik" ein relativer Wert. Es kann nur die  relative  Berechtigung der Rechtstechnik und die  Grenze  dieser Berechtigung nie erkannt werden, wenn man die Technik zum  Prinzip  macht, sei es bewußt durch eine Definition des Rechts als sozialer Technik, sei es unbewußt durch den Ausgang von einer isolierenden Definition. Auch die Rechtstechnik hat eine geistige Funktion; sie kann aber als "geistige" wie als "Funktion" natürlich nur verstanden werden, wenn man das Recht als etwas Geistiges auffaßt.

Diese Ausführungen sollten den letzten Grund dafür andeuten, daß die rationalistischen Vorurteile, die hinter der neukantischen Lehre vom >"juristischen" Begriff stecken, etwas in ihrer Geschlossenheit und "Einfachheit" gewiß Faszinierendes in die von allem "Metajuristischen" gereinigte Rechtswissenschaft gebracht haben, daß sie aber zugleich für den ungewöhnlichen kulturellen Tiefstand eines großen, leider noch immer nicht völlig überwundenen Teils unserer Rechtswissenschaft, den deren künftiger Geschichtsschreiber sicher feststellen wird, verantwortlich sind. Die schwindende Anziehungskraft der Jurisprudent auf geistige Menschen, die Geringschätzung, die sie zu verzeichnen hat, sind dafür ebenso symptomatisch, wie die Abstumpfung des wirklichen, natürlich inhaltlichen Rechtsgefühls in unserem Volk und dessen Widerstandslosigkeit gegenüber der handfesten Basierung des Rechts auf die wirtschaftlichen Interessen durch den Marxismus und gegenüber dem Anarchismus der extremen Freirechtler: muß man doch ehrlicherweise zugeben, daß in beiden gegenüber dem technischen Rechtsformalismus ein relativer Wahrheitsgehalt steckt.

Was soll man dazu sagen, wenn durchaus konsequent vom Standpunkt der formalen und negativen Definition der Rechtsidee z. B. BINDER den Begriff der "Rechtspflicht" als jenseits des Rechts liegend ausgemerzt wissen will, und den Satz als grundlegend für die "Rechts"wissenschaft prägt und wiederholt: "Das Recht verpflichtet rechtlich zu nichts?"? Dann ist natürlich auch das "juristische" Wesen des Schuldverhältnisses keine Verpflichtung zur Leistung und die "juristisch" inkorrente Formulierung des BGB bedarf einer Korrektur. - Wenn LABAND das juristische "Wesen" des Staates als "Herrschaft" "definiert", dann muß die rein juristische Methode natürlich alles Nicht-Herrschaftliche wegkonstruieren oder in Herrschaftliches umkonstruieren. So wird die Feststellung des  Inhalts der Gesetze  durch die gesetzgebenden Faktoren als "juristisch irrelevant" bezeichnet und das einzig "juristisch" Relevante in eine zwar nicht vorhandene, aber zu konstruierenden "Erteilung des Gesetzes befehls"  verlegt, und dem, der auf das Nichtvorhandensein dieses Aktes hinweist, mit Kennermiene entgegengehalten, daß das Recht ja nichts "Reales" ist, sondern eine bloße "Funktion des Bewußtseins", die Rechtswelt "daher" eine Welt abstrakter und gedachter Beziehungen. Zugleich aber besteht daneben immer wieder die oft erwähnte Tendenz, diese bloß gedachten Beziehungen durch reale Vorgänge zu substruieren, sie auf reale Vorgänge zu projizieren: also z. B. die "Erteilung des Gesetzesbefehls" in einem "Akt" der Sanktion zu finden und dann diesen "Akt", in dem natürlich gar nichts von einer Hinzufügung des "Gesetzesbefehls" zu einem davon unabhängig festgestellten "Gesetzesinhalt" liegt, als den im Gesetzgebungsverfahren wesentlichen und entscheidenden zu betrachten. Das Verständnis der Sanktion und ihrer Bedeutung ist so rettungslos verbaut. Und wenn nun die Sanktion in einem bestimmten Verfassungsrecht als Institut fehlt, dann dichtet man sie in dieses Recht hinein und projiziert den - doch zunächst nur in der "juristischen Begriffswelt" für nötig gehaltenen - Begriff der Erteilung des "Gesetzesbefehls" als "Sanktion" auf irgendeinen "Akt", den dieses Recht vorschreibt und erhebt den zum "wesentlichen". Das ist keine fingierte Karikatur der "juristischen Methode", sondern ein typisches Beispiel für jene als ungeheuren Fortschritt gepriesene streng juristische Methode, die sich so vornehm dünkt und auf alle, die ihr nicht folgen, so verachtungsvoll herabschaut, mit der wir nun seit Jahrzehnten genarrt werden. Man wird in dieser Denkart die typische Denkart der neukantischen Philosophie mit ihrem Streben zur formalen Reinheit und mit ihren Hypostasierungen, Substruktionen und Projektionen wiedererkennen, wie ja auch die geistige Verwandtschaft der Erteilung des Gesetzesbefehls als des "Wesentlichen" bei der Gesetzgebung mit der südwestdeutschen Lehre von der voluntaristischen "Zustimmung" zu der im Urteil vollzogenen Synthese von Subjekt und Prädikat als dem "erkenntnistheoretisch" "wesentlichen" Element im Urteilsakt einleuchtet. Denn wenn man alles Inhaltliche aus den Begriffen ausscheidet, kann das "Wesentliche" nur noch in einem von  außen  zum "begrifflich" Irrelevanten der  inhaltlichen  Verbindungen hinzutretenden liegen, welches diesen erst die spezifische logische und juristische Dignität verleiht.

Wie die Herrschaftstheorie der Staatsrechtswissenschaft der LABAND-Schule beherrscht, so spielt eine analoge Rolle die  Willenstheorie  in der Privatrechtswissenschaft (15). Auch hier ist ein ähnliches, echt neukantisch-rationalistisches Hinübergleiten von der abstrakten Sphäre bald in die normative und bald in die empirisch-soziologische zu beobachten. Wenn man in allen Rechtsbeziehungen Willensbeziehungen sieht, dann muß die "juristische" Konstruktion in der begrifflichen Reduzierung auf solche bestehen, auch da, wo ein empirischer Wille gar nicht nachweisbar ist:  A  und  B  haben bei einem Vertragsabschluß an bestimmte Frage, über die später Streit entsteht, nicht gedacht, deren Regelung also gar nicht in ihren "Vertragswillen" aufgenommen. Das kann die Willenstheorie nur dadurch "konstruieren", daß sie die Entscheidung der Streitfragen trotzdem, wie LENEL sagt, "der Partei in die Seele schiebt", "indem man die Fiktion des Parteiwillens als stets bereites Tischleich-deck-dich in Szene setzt". Es wird ein stillschweigender Wille, ein hinter dem empirischen Willen stehender "wirklicher" Wille angenommen, in dem man die Entscheidung, die natürlich aus ganz anderen Erwägungen stammt, hineinprojiziert. Um alles auf den "Willen" abstrakt-begrifflich zurückführen zu können, wird ein vom empirischen Willen losgelöster, abstrakter Wille konstruiert und dann dieser abstrakte Wille wieder zu einem empirischen Willen hypostasiert. Denn mit einem wirklich rein begrifflich-abstrakten Willensbegriff kann man natürlich nicht arbeiten, so daß wieder die psychologische Substruktion nötig wird, wenn der Karren des Denkens nicht in der bloß begrifflichen Welt stecken bleiben soll. Dies zunächst im Privatrecht übliche, dann aber auch in der Strafrechtswissenschaft und neuerdings auch in der des öffentlichen Rechts (seit diese Disziplin den Ehrgeiz hat, an formal-juristischer Methoden den älteren Schwestern nicht nachzustehen) herrschend gewordene Verfahren, mit einer Willenspsychologie zu beginnen, die Ergebnisse dieser Analyse des empirischen Willens ins Abstrakt-Begriffliche hinübergleiten zu lassen, die mit der empirischen Wirklichkeit nicht mehr im Einklang befindliche abstrakte Begrifflichkeit damit zu rechtfertigen, daß es sich ja um "juristische" Phänomene, also um reine "Gedankendinge" handelt, und schließlich doch wieder die bloßen Begriffe zu behandeln als seien sie psychologische Realitäten, also nach der Vornahme gewisser Gedankenmanipulationen an den  abstrakten  Willensverhältnissen wieder in die  empirische  Sphäre zurückzugleichte, ist echt neukantisch. Es ist die Vieldeutigkeit des Willensbegriffs, die die Unhaltbarkeit eines solchen Verfahrens verdeckt, und man wird - wie ich darzulegen versucht habe (16) - finden, daß es ein, freilich nie ganz rein festgehaltener, rationalistischer Willensbegriff ist, der dieser "Methodik" im wesentlichen zugrunde liegt.

Der große Erfolg von KELSEN und auch sein großes Verdienst beruhen zum großen Teil darauf, daß er alle jene Umkippungen aus dem bloß Formalen in die empirischen Substruktionen schonungslos und mit einer kritischen Schärfe, die ihresgleichen in unserer juristischen Literatur nicht hat, daß er all die "Halbwahrheiten" als solche erkannt und aufgedeckt hat. Er ist der Meister des Rechtsformalismus, der die anderen "meistert". Man wird ihm in kaum einer seiner Polemiken - und seine Bücher sind ja nur eine Kette von Polemiken - nicht recht geben können. Insofern seine Werke Halbwahrheiten bekämpfen, sind sie von höchstem kritischem Wert; nur korrigieren sie diese Halbwahrheiten nach der verkehrten Richtung. Man kann auch sagen, daß nach seiner Reinigungsarbeit die eigentliche positive Aufgabe erst beginnt, daß er aber gerade diese positive Aufgabe aus einem "normlogischen" Purismus ablehnt. Der Unterschied von KELSEN und den anderen besteht nur darin, daß diese bereits in den unteren Regionen ohne erkennbaren Grund bald hier, bald da, bald mehr, bald weniger, systemlos, ins bloß Faktische umkippen, während KELSEN das nur auf der letzten und obersten Stufe tut. Seine Arbeiten haben darum die größere Konsequenz und den geringeren positiven Erkenntniswert.

Wenn man erkenntnistheoretisch als letzten Begriff auf das Urteil abstellt, wird entsprechend auf dem Gebiet des Rechts der Begriff des "Rechtssatzes" der letzte Begriff: so KELSEN. Wenn man erkenntnistheoretisch die Urteilsfunktion zum letzten Begriff wählt, entspricht dem in der Rechtswissenschaft das "Rechtsverfahren": so SANDER. Für KELSEN ist daher der Staat nichts weiter als ein durch  Rechtssätze  geschaffener "Zurechnungspunkt", für SANDER "die Beharrlichkeit des  Rechtsverfahrens,  welche alle empirischen Rechtsverfahren auf eine Verfahrensgrundregel als objektiven Maßstab aller Rechtserzeugungen kontinuierlich rückbezieht -", ale anderen Bezeichnungen sind "unjuristisch". Die Fragen,  warum  denn die Rechtssätze soviel Zurechnungen auf den einen "Punkt" häufen,  warum  die empirischen Rechtsverfahren gerade auf eine bestimmte Verfahrensgrundreihe kontinuierlich rückbezogen werden, welche  Sinn  ein solches Vorgehen hat, warum gerade das  Recht  so etwas fordert, werden nicht gestellt, ja ihre Berechtigung vermutlich bestritten. Alle diese nicht bloß formalen Fragen, die  eigentliche Rechtsfragen,  fallen ebenso aus der normlogischen Rechtslehre heraus, wie die RICKERT gegenüber aufgeworfenen Fragen nach dem Verhältnis der formalen Sollensnormen zum Wahrheitswert und nach der Anwendung der verschiedenen Sollensnormen auf die jeweiligen Empfindungsinhalte aus der erkenntnistheoretischen Fragestellung des transzendentalen Kritizismus herausfallen. Und wie diese formale Erkenntnistheorie in einen schrankenlosen metaphysichen Empirismus mündet, so mündet die formale Rechtstheorie in einen schrankenlosen juristischen Empirismus. Das juristische Wesen der Persönlichkeit und des Willens soll bei KELSEN nur in der "Lokalisierung eines Zurechnungspunktes" bestehen; und es muß nach ihm "mit Nachdruck hervorgehoben werden, daß es  ganz im Belieben der Norm  liegt, auch etwas anderem als dem Einzelmenschen die Personen- und Willensqualität zu verleihen, so wie es ja auch von ihr abhängt, ob überhaupt der Mensch und welcher Mensch Person, d. h. willensfähig wird". - Wirklich ganz im Belieben des Rechtssatzes? Oder bestehen nicht doch  rechtliche Gesetzlichkeiten,  die das eine als dem Recht entsprechend, das andere als es verletztend erscheinen lassen? Aber gerade diese  rechtlichen Gesetzlichkeiten  fallen aus dem Rahmen der streng "juristischen" Methode. Wie das mit allen Kategorialformen ausgestattete "Bewußtsein überhaupt" keinen Gesichtspunkt bietet, nach dem diese Formen  richtigerweise  auf die Wirklichkeit anzuwenden sind, und das erkennende Subjekt führerlos im Meer der Empfindungsinhalte läßt, so werden die rechtsetzenden Faktoren, die mit allen denkbaren formalen "Relationen der Rechtsordnung" ausgestattet sind, ohne Maßstab der  Angemessenheit  dieser Relationen für das soziale Substrat gelassen. Alles steht in ihrem "Belieben". Recht ist, was die rechtsetzenden Faktoren nach ihrem Belieben bestimmen. Das ist der radikalste  obrigkeitsstaatliche Rechtsformalismus,  der denkbar ist. Ebenso ist für die "Anerkennungstheorie" alles Recht, was die Rechtsgenossen anerkennen. Ob es anerkenn bar  oder anerkennungs würdig  ist, ob eine Norm inhaltlich so gestaltet ist, daß sie  mit Recht zumutbar  ist, liegt ebenso außerhalb der Anerkennungstheorie wie außerhalb der formalen "aus der Lehre vom Rechtssatz entwickelten" Staatslehre KELSENs. KANT hatte als "Probierstein" den Satz aufgestellt, daß das rechtens sei, was ein "Volk über sich selbst beschließen darf"; aber auch eine solche Fragestellung lehnt die formale reine "Rechts"theorie ab. So schrumpft das "Recht" für BINDER zusammen zu einem "Befehl" an die Beamten des Staates; und für KELSEN ist der "Standpunkt des Richters" zugleich der des "theoretischen Juristen": Recht ist das positiv Gesetzte und Befohlene, das Richter und Beamte zu befolgen haben. An die Rechtsgenossen ist die Rechtsnorm gar nicht "adressiert". Die Rechtswissenschaft arbeitet nur die normlogischen, die formalen Relationen, die reinen Formen heraus, die in jeder "brutal" positiv-gesetzten Rechtsordnung als abstrakte Elemente stecken, ebenso wie die Erkenntnistheorie nur die in der brutalen Wirklichkeit steckenden formalen Verknüpfungsnormen herauspräpariert. Der brutalste Rechtspositivismus braucht sich ebensowenig zu "beunruhigen" wie der brutalste empirische Realismus; es wird gar nicht "beabsichtigt", sie zu beunruhigen.

So bescheiden ist aber auch die neukantische Rechtsphilosophie natürlich nicht. Auch sie hypostasiert wieder der begrifflich herauspräparierten abstrakten Formen ins Metaphysische und Ethische. Wird doch mit diesen Formen das "Wesentliche", das eigentlich "Wertvolle" herauspräpariert. Wer außer diesen "wesentlichen" Merkmalen noch andere in seine Betrachtung zieht, ist nicht etwa nur ein schlechter Erkenntnistheoretiker, sondern ein schlechter Kerl. Zwar dürfte konsequenterweise das Urteil über ihn lauten: er habe "Methodensynkretismus" getrieben; die Rechtswissenschaft habe "sehr enge" "Grenzen", wie KELSEN ausdrücklich sagt; wer über diese Grenzen schreite, könne über soziologische, historische und psychologische Probleme, die vielleicht - und bei den "engen Grenzen" der Rechtswissenschaft eigentlich unzweifelhaft - sehr viel wichtiger sind als "juristische" Probleme, allerlei Beachtenswertes und Richtigs sagen, das seien bloß keine "juristischen" Tatsachen. Und solche "bescheidenen" Äußerungen fehlen bei KELSEN, SANDER und BINDER ebensowenig wie bei RICKERT. Aber auch sie streben über die abstraktiven Formen und, was erst bedenklich wird:  mittels  der abstraktiven Formen zur ">Weltanschauung". Neben den Bescheidenheitsformeln, dann diese immer mehr zurückdrängend und schließlich alles beherrschend, tritt die Behauptung, daß die normlogische Methode nicht  eine  Methode zur Behandlung der sozialen Phänomene neben anderen ist, sondern  die  Methode, die einzig  legitime:  daß sie allein die Gegenstände des sozialen Lebens konstituiert, logisch "erzeugt", wie für RICKERT das "formale Sollen" und für WINDELBAND die "selektive Synthesis" der "Gegenstand der Erkenntnis" sind. Und nun bricht, wie bei RICKERT, ein leidenschaftlicher Kampf aus gegen den "naiven Realismus", (so sagt auch SANDER) der verkennt, daß "jeden Gegenständlichkeit nicht  ansich,  sondern nur in einer Urteilsfunktion, in einer Urteilsrelation entsteht und besteht". Die "Theorie von der Mehrseitigkeit historisch-politischer Vorgänge" ist "Metaphysik". Wie RICKERT und WINDELBAND gegen den "transzendenten Gegenstand der Erkenntnis", gegen das "Ding-ansich" kämpfen, so führt auch SANDER aus: "Jede rechtliche  Gegenständlichkeit  kann nur in den  Relationen  der Rechtsurteile,  in Rechtssatzfunktionen,  nicht aber als ein  jenseits  des Rechts bestehendes, als rechtlich unbestimmbares  Ding-ansich  Bestand gewinnen." Als schlimmster Verstoß gegen die metaphysikfreie Rechtswissenschaft wird der "naive Realismus" bezeichnet, der vermeint, daß "Geschichte, Ethik, Politik, Soziologie, Psychologie, Jurisprudenz, eventuell auch  Biologie  jede für ihren Teil mit der Erklärung von  ein und demselben  Staatswesen beschäftigt sind". Wie der Neukantianismus das Ding-ansich vernichtet hat, so fordert SANDER auch die "radikale  Exstirpation  [Entfernung - wp]  des metarechtlichen Staatsdinges".  Weil HUGO PREUSS einmal von der "obligatio moriendi", von der Hingabe an den Staat bis zur Aufopferung des Lebens spricht, weil WOLZENDORF die "sittlichen Gerechtigkeitsbewertungen" betont, die im Gedanken des Volksheeres liegen, werden sie für KELSEN und SANDER mit GIERKE und mir zu "Militaristen", während sie uns, von ihrem formalen Rechtsbegriff aus, doch - wenn ich von ihrer Ablehnung des Ding-ansich-Begriffs und der Mehrseitigkeitstheorie zunächst einmal absehe - nur vorwerfen könnten, daß das nicht in eine "normlogische" Rechtstheorie gehört. Aber beide machen bald wirklich Ernst mit ihrer Ablehnung des Dings-ansich, bald können sie das doch nicht durchführen und verfallen selbst wieder in den bösen "naiven Realismus". So sagt SANDER auf derselben Seite zuerst: "Leider  ereignen sich  niemals so interessante  Szenen  wie die, daß der Staat Verbrecher zu Tode bringt, seinen Willen durchführt ... Als das  sind  schlichte Rechtssatzfunktionen und nur eine phantasievolle  Metajurisprudenz,  welche  hinter den Rechtserscheinungen  ein  apriori  gesetztes  Staatsding als absolute Substanz  annimmt, kann die Rechtssatzfunktionen als  Tätigkeiten  eines mächtigen Staates  ansehen. " Später aber sagt er selbst:
    "Jenes deutsche Heer, das die deutschen Schlachten schlägt, ist nicht jenes deutsche Heer, das allein für die Rechtserkenntnis in Betracht kommt und eine  (subjektivistische)  Zusammenfassung von Tatbeständen ausmacht."
Gottlob: wir hatten schon an unserem Verstand gezweifelt; es "gibt" also doch offenbar ein "Ding" wie das deutsche Heer und dann wohl auch ein "Ding" wie den Staat, der Verbrecher zu Tode bringt und nicht bloß "schlichte Rechtssatzfunktionen." Es wäre ja auch gar nicht auszudenken, was es wirklich bedeuten würde, wenn KELSEN und SANDER konsequent blieben.

Konsequent ist es natürlich auch nicht, wenn KELSEN, ganz wie RICKERT, aus seinen abstraktiven Formen weltanschauungsmäßige Konsequenzen zieht. Er bezeichnet durchaus zutreffend seine Methode als "Konstruktion mit der einfachen Ebene". Selbst wenn man diese Eindimensionalität des Denkens als ein Ziel der  Erkenntnis  anerkennt, so ist damit doch weiter nichts gewonnen als die geometrische Projektion eines stereometrischen Körpers auf eine Eben. Die Welt bleibt aber natürlich farbig und räumlich, auch wenn man zu bestimmten Erkenntniszwecken von der Farbigkeit und Räumlichkeit absehen darf und kann. Die Möglichkeit einer  Konstruktion  mit einer Ebene macht die  Welt selbst  nicht zu einer eindimensionalen; ja sie läßt nicht einmal den Schluß zu, daß die eindimensionale Projektion das Wesen der Welt am besten erfaßt. Zu diesem Schluß kann man nur gelangen, wenn man in der möglichsten Vereinfachung der Welt das letzte Erkenntnisziel sieht und zugleich das letzte  Erkenntnisziel  mit dem metaphysischen  Sinn  der Wirklichkeit gleichsetzt. Von diesem metaphysischen Rationalismus aus ist es dann freilich nur noch ein Schritt, diesen mit dem letzten Erkenntnisziel gleichgesetzten Sinn der Welt auch noch mit dem letzten Ziel ethisch-poligischen  Wollens  gleichzusetzen. Auch diesen Schritt tut KELSEN, wenn er in seiner Konstruktion mit der einfachen Ebene die Begründung eines "Neoliberalismus" zu geben glaubt. In diesem Sinne hat dann auch WALDECKER den Begriff der Konstruktion mit der einen Ebene rezipiert und kämpft nun mit dieser "Konstruktion" gegen Obrigkeitsstaat und konservative Staatsauffassung: als ob man, wenn es sich bei dieser Konstruktion um eine  methodisch notwendige  Konstruktion des Rechts handelt, nicht  jedes  Rechtssystem nach derselben Methode konstruieren könnte und müßte.

Gewiß: der Gegensatz von öffentlichem Recht und Privatrecht und der von Staatsrecht und Völkerrecht, - also die Mehrheit der Ebenen, um dieses Bild zu rezipieren, - ist kein apriorischer, kein durch das reine Denken zu erzeugender, wie ja überhaupt die Buntheit und Mannigfaltigkeit der Welt nicht durch ein stoffloses Denken erzeugt werden kann. Darin stimme ich mit KELSEN gegen alle die überein, welche jene Gegensätze apriorisch aus dem Denken über das Wesen des Rechts begründen wollen. Von der Bedingtheit unseres heutigen Völkerrechts war bereits die Rede. Denselben Nachweis habe ich auch für den Gegensatz von öffentlichem und Privatrecht zu erbringen versucht, indem ich auf die historisch-politischen Bedingungen seiner Entstehung, auf den in den einzelnen Staaten verschiedenen Zeitpunkt dieser Entstehung und auf die grundsätzlichen Verschiedenheiten hinwies, die diesen Gegensatz namentlich in Deutschland und Frankreich charakterisieren (17). Wenn dieser Gegensatz daher dann auch kein apriorischer ist, so ist er darum doch nicht nicht-vorhanden. Daß er ein historisch-politisch bedingter ist, macht ihn natürlich nicht zu einem für das positive Recht bedeutungslosen. Im Gegenteil: solange er in den historisch-politischen Voraussetzungen begründet ist und hier eine Funktion zu erfüllen hat, muß er in disen seinen Bedingtheiten erforscht werden. Ja, nur wenn man diese historisch-politischen Bedingtheiten kennt, kann man auch einsehen, wann er und inwieweit er infolge einer Änderung oder Fortfalls dieser Bedingtheiten überflüssig wird. Nur dann kann man auch in der Einführung dieses Gegensatzes in das Rechts- und Staatsleben und in der Art seiner Durchführung den  Ausdruck eines bestimmten geistigen Gehaltes,  eines bestimmten  Lebensgefühls  sehen und ihn als solchen verstehen und beurteilen, ja gegebenenfalls, wenn man diesen geistigen Gehalt für überlebt, das Lebensgefühl für gestorben hält, ihn überwinden. Den Weg zu einem solchen Verständnis der Rechtsprobleme verbaut man aber  ebenso  durch die Setzung des Gegensatzs als  apriorischen,  wie durch die aus der Leugnung der Apriorität gezogene Folgerung, der Gegensatz sei, weil nicht bloß formal und "rein", auch  unberechtigt.  Denn das infolge rationalisischer Substanzlosigkeit erst bei letzter Inhaltsleere zur Ruhe kommende Vereinfachungs- und Konstruktionsbedürfnis kann niemals die historisch-politische  Berechtigung oder Nichtberechtigung eines historisch-politischen Begriffs  erweisen. Gemessen an der absoluten eindimensionalen Einfachheit aller rationalistischen Konstruktionen müssen  alle  Begriffe von  geistigen Gehalten  als unvollkommen und wertlos beurteilt werden. Zwischen den beiden Polen der bloß positiven Stofflichkeit und der abstraktiven formalen Allgemeinheit, die der neukantische Rationalismus allein kennt, ist für eine Erfassung konkreter geistiger Gehalte als  Projektionen eines bestimmten Lebensgefühls  kein Raum. Wenn man die Metaphysizierungen wider Willen, die der neukantische Rationalismus vornimmt, scharf ins Auge faßt, so bieten sie das fast groteske Bild dar, daß die abstrakt-begriffliche Form gegen den Stoff, an dem sie haftet, - die Verknüpfungsform gegen den zu verknüpfenden Gegenstand, - der des Inhalts entleerte Allgemeinbegriff gegen die inhaltlichen Objekte, aus denen er gebildet wurde, ausgespielt wird. Ins Ethisch-Politische übertragen, bedeutet es die Forderung, den stofflichen Inhalt zu revolutionieren durch die aus diesen Inhalten herausgeklaubten formalen Abstraktionen, die "Dinge" zu zerstören, radikal zu exstirpieren" durch die "Dinghaftigkeit"!! Bedarf es eines Wortes, daß solche Ungereimtheiten durchaus unkantisch sind? Bei KANT sollte die theoretische Vernunft sich - gerade aufgrund der Erkenntniskritik - beschränken und bescheiden; sie sollte den "Platz offen lassen" für die noumenale Welt des Dings-ansich mit ihrer objektiven intelligiblen Ordnung der Dinge; gerade diesen Platz aber belegt die neukantische Erkenntniskritik durch ihre metaphysisch und ethisch hypostasierten erkenntnistheoretischen Formbegriff mit Beschlag.

Auch der  vorkantische Rationalismus  hat sich dieser Verfehlungen des nach- und neukantischen Rationalismus nicht schuldig gemacht. Unser Verständnis für das rationalistische Naturrecht hat freilich vielfach durch die nach- und neukantischen Einstellungen stark gelitten. Bald hat man bei der Darstellung der naturrechtlichen Gedankenreihen den Hauptton auf den spezifisch-rechtlichen Gehalt der Rechts- und Staatstheorien gelegt: so namentlich GIERKE, der sich aber bewußt geblieben ist, damit nur ein Element aus deren Gedankenwelt herausgearbeitet zu haben, wie er ausdrücklich hervorhebt. Bald hat man den Hauptton auf die Abhängigkeit der inhaltlichen Elemente der naturrechtlichen Staatstheorie von den positiv-rechtlichen Anschauungen der Zeit gelegt: so jüngst namentlich WOLZENDORF in seiner Studie über das Widerstandsrecht, er freilich in dem Glauben, damit das Wesentlich und Entscheidende herauszuarbeiten. Das  philosophisch  Wesentliche und Entscheidende ist freilich durch beide einseitige Analysen nicht erfaßt. Es ist gewiß richtig, daß die naturrechtlichen Lehren einen rechtlichen Gehalt haben, der auf die Ausgestaltung der sozialen und politischen Welt einen entscheidenden Einfluß ausgeübt hat, wie es auch unzweifelhaft ist, daß, trotz allen Strebens nach zeitloser Rationalisierung der Welt, doch zeitliche Gebundenheit einen bedeutsamen Faktor bei der Ausgestaltung im einzelnen darstellen. Das teilt aber der naturrechtliche Rationalismus mit allen philosophischen Staatstheorien. Was seine Eigenart ausmacht und ihn von allen anderen philosophischen Staats- und Rechtstheorien unterscheidet, seine spezifische Auffassung vom Wesen des Staates und des Rechts, liegt in etwas anderem: in dem, was wir heute als  soziologische Auffassung  zu bezeichnen pflegen (18). Das rationalistische Naturrecht will nicht Rechtstheorie im neukantischen Sinne, sondern  Sozialtheorie  sein. Wie der Rationalismus versucht, die natürliche Welt als aus Atomen konstruktiv aufgebaut zu verstehen, so will er auch die sittliche und soziale Welt als auf den sozialen Atomen, den Menschen, konstruktiv aufgebaut erfassen. Wie die Grundeigenschaften der Materie, die Gesetze der Anziehung und Abstoßung, die natürliche Welt konstituieren, so sollen auch die sozialen Gebilde aus den einfachen Grundeigenschaften der menschlichen Natur (ob diese nun als Selbsterhaltungstrieb, als Sozialtrieb oder sonstwie gefaßt werden) hergeleitet werden (19): diese Grundeigenschaften sind die  soziologischen Grundgesetze,  auf denen jene beruhen und aus denen sie allein verstanden werden können. Gewiß ist die Kategorie des Vertrages, die für die Konstruktion der sozialen Gebilde zur Grundlage genommen wird, eine juristische, aber nicht "juristisch" im neukantischen Sinne, als ein Gegensatz zum Soziologischen, sondern im Gegenteil als etwas  zugleich  Juristisches und Soziologisches: der Vertrag ist eine sozialtheoretische Kategorie, die juristischen Gesetze sind zugleich soziologische. Mit der Lehre vom Aufbau des Staates auf einem Vereinigungs- und einem Unterwerfungsvertrag sollte ebenso ein spezifischer soziologischer Charakter des Staates ausgedrückt werden wie mit der, die den Staat allein auf einem Herrschaftsvertrag oder allein auf einem Vereinigungsvertrag aufbaut. Das alles sollen keine "juristischen", vom Soziologischen absehende "formale" "Konstruktionen" im heutigen Sinn sein, sondern gerade Aussagen über das soziologische Wesen des Staates (20): juristische und soziologische Kategorien sollen keine Gegensätze sein, sondern umgekehrt die juristischen Kategorien  aus den soziologischen Grundeigenschaften der menschlichen Natur  hergeleitet werden. Wenn der Vertrag dabei die Grundkategorie ist, so beruth das auf einem rationalistischen Individualismus und der rationalistischen Psychologie der Zeit, die überall von den "einfachsten Elementen" der Wirklichkeit ausgehen; und es ist zunächst weder individualistisch im modernen Sinn noch auch revolutionär, sondern im Sinne einer soziologischen "Konstruktion" gemeint.

Die  kantische  Leistung gegenüber diesem Naturrecht ist nun vom Neukantianismus vielfach völlig mißverstanden worden, weil er meist weder die kantische Sittenmetaphysik noch das vorkantische Naturrecht richtig zu deuten gewußt hat: KANTs Rechtslehre falle aus seiner Vernunftkritik heraus, sie sei noch ganz im Naturrecht befangen. Beides ist unzweifelhaft falsch. In Wahrheit ist KANTs Rechtslehre, wie wir sahen, durchaus in seinem ganzen "System" begründet und weder dieses ohne jene, noch jene ohne dieses verständlich. KANTs Vernunftkritik hatte vielmehr mit ihrer Kritik der rationalen Kosmologie, Psychologie und Theologie zugleich auch die rationale Soziologie, das rationale Naturrecht zerstört. Der "alles zermalmende Kant", als welchen ihn seine Zeitgenossen vielfach mit Recht empfanden, hatte in der Tat den ganzen konstruktiven Rationalismus, der aus den einfachen Elementen der körperlichen, psychischen und übernatürlichen Welt eine rationale Kosmologie, Psychologie, Soziologie und Theologie aufbauen wollte, aus den Angeln gehoben. Die rationalen Elemente der empirischen Wirklichkeit wurden zu den Kategorien des erkennenden Verstandes, die nicht-rationalen zum Material der Empfindungen und hinter beiden stand das Ding-ansich, selbst kein Gegenstand der theoretischen Erkenntnis, aber als noumenale Ordnung der intelligiblen Dinge der Gegenstand der praktischen Vernunft. Wie die natürliche Welt nicht mehr begriffen werden darf als aus den rationalen Elementen der Körperwelt aufgebaut, so auch nicht mehr die sittliche und soziale Welt aus den rationalen Elementen der psychologisch-soziologischen menschlichen Natur. Die sittliche und soziale Welt ist vielmehr in der intelligiblen Ordnung der Dinge "gegeben" und darum dem Menschen als Bürger beider Welten zur Verwirklichung in dieser Welt "aufgegeben". Die intelligible Ordnung kann durch wissenschaftliche Erkenntnis nicht konstruiert, nicht begriffen werden; ihr Wesen besteht in der  völligen  Losgelöstheit von allem Empirischen, von allem Psychologischen und Soziologischen.' Das Band zwischen der psychologisch-soziologischen Sphäre und der Rechtssphäre, das in jeder Sozialphilosophie vom Altertum an bis zum rationalen Naturrecht selbstverständlichste Grundlage war, ist von KANT zerschnitten worden. STAMMLER hat das durchaus zutreffend erkannt, wenn er formuliert: das Recht dürfe nicht wie im vorkantischen Naturrecht aus der "Natur des Menschen", sondern müsse aus der "Natur des Rechts" erfaßt werden. (21) Der Unterschied zwischen KANT und dem Neukantianer zeigt sich aber wieder darin, daß bei jenem das Ding-ansich die Brücke schlägt, die bei diesem fehlt. Denn bei KANT soll die Rechtsordnung nur nicht aus der  empirisch-psychologischen Natur des Menschen  verstanden werden, dagegen ganz in der  noumenalen  Natur des Menschen, in der intelligiblen Ordnung des Dings-ansich begründet sein (22). So hat zwar KANT - und das ist für die deutsche Geistesgeschichte und das deutsche Denken über die Probleme der sozialen Welt von entscheidenster Bedeutung geworden - das Recht ohne jede Beziehung zu den soziologischen und psychologischen Kräften der Menschen gelassen; aber er hat zumindest in seiner Geschichtsphilosophie den soziologischen Kräften wieder einen Platz vergönnt. Die soziologischen Mächte der Not und der Kriege sorgen dafür, daß die Menschen zumindest heteronom dazu gezwungen werden, die intelligible Ordnung allmählich und in steter Annäherung in das Reich der Natur einzubilden. Aber die Auswirkung dieser soziologischen Kräfte kann nach KANT nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Erkenntnis sein, da sie sich im  ordre naturel  des jenseits der erkennbaren Wirklichkeit stehenden Dings-ansich vollzieht. So hat KANT nicht nur die  rationale Soziologie  des Naturrechts zerstört, sondern auch  jede empirische Soziologie überhaupt  als eine Lehre von den Beziehungen zwischen den empirischen sozialen Mächten, zwischen Recht und Sitte, Recht und Wirtschaft, von den soziologischen Voraussetzungen und Bedingtheiten empirischer rechtlicher Ordnungen geleugnet. Es ist nur eine Fortschrittsmetaphysik übriggeblieben, in der sich einige metaphysisch-soziologische Hypothesen befinden: diese sind aber nur als heuristische Prinzipien für eine den Fortschritt in der Menschheitsgeschichte darlegende pragmatische Geschichtswissenschaft verwendbar, müssen sich aber jeder empirischen und sei es auch nur beschreibenden, Betrachtung entziehen.

In KANT liegt demnach der  erste große Bruch zwischen dem deutschen Denken über die Probleme des sozialen Lebens und dem Westeuropas  und Amerikas. Denn das westeuropäische Denken hat die Fäden mit der rationalen Soziologie des Naturrechts niemals zerschnitten. Das, was man dort seit COMTE  Soziologie  nennt, ist nichts als eine Fortsetzung des naturrechtlichen Denkens: ein gedanklicher Aufbau der sozialen Gebilde auf der psychologischen Natur der Menschen, gewiß bereichert durch mancherlei Gedanken, die erst das 19. Jahrhundert in den Vordergrund gerückt hat und neuestens auch durch allerlei Methoden, die dem rein konstruktiven Denken des 18. Jahrhunderts noch fern lagen. Aber der  Zusammenhang zwischen der "Natur des Menschen" und der "Natur des Rechts"  hat stets im Vordergrund des Interesses gestanden. Die nach- und neukantische Zerreißung des Bandes zwischen juristischer und soziologischer Betrachtung, die Loslösung der abstrakten juristischen Formwelt vom soziologischen Substrat ist dem außerdeutschen Denken fremd. Es führt eine ununterbrochene Linie und Tradition von HOBBES zurück zur empirischen Soziologie des mittelalterlichen Naturrechts und vorwärts zu MILL und SPENCER. Der deutsche Geist hat dagegen in KANT einen revolutionären Traditionsbruch mit dem einheitlichen Geist der übrigen Kulturnationen vollzogen, der zu den Großtaten der menschlichen Geistesgeschichte gehört; aber er hat ihn erkauft mit einer  geistesgeschichtlichen Isolierung.  Und er hat weder die Kraft gehabt, aus dieser Isolierung den Stolz und das Selbstbewußtsein zu schöpfen, zu denen sie berechtigte, noch dieses Erbe so fortzubilden, wie es nötig gewesen wäre, um ihn zu einem dauernden geistigen Besitz zu machen: einerseits den Wahrheitsgehalt, der in der Loslösung des Rechtlichen vom Soziologischen liegt, festzuhalten, ohne einer Herabrdrückung des Soziologischen zum bloß stofflichen Substrat zu verfallen, und andererseits die in KANTs Teleologielehre und Geschichtsphilosophie enthaltenen Ansätze zu einer Soziologie des geistigen Lebens um- und weiterzubilden. Im Neukantianismus ist die  intelligible  Ordnung des Rechtlichen zum  abstrakt Allgemeinen  oder gar zu einem  rechts-technischen Formalismus  entartet und das metarechtlich-soziologische zum wertfreien Subsumtionsmaterial degradiert. Unser Denken über die gesellschaftlichen Phänomene hat etwas  Starres, Statisches, Doktrinäres und Formal-Juristisches  bekommen und zu einer  Unterschätzung der soziologischen Kräfte,  wie zu einer  Überschätzung der Rechtsformen  geführt, die innen- und außenpolitisch gleich verhängnisvoll sind.

Den von KANT inaugurierten Bruch vollendete die Romantik und die  historische Schule Mit KANT richtet sie sich gegen den konstruktiven Rationalismus des Naturrechts, aber nicht, wie er, wegen der eudämonistischen und empiristischen Grundlage, auf der er ruhte, sondern vor allem, weil er durch die vereinfachende rationale Psychologie, die aus bestimmten einfachsten Seeleneigenschaften die soziale Welt verstehen und "rechtfertigen" wollte, die unendliche Kompliziertheit der sozialpsychologischen Prozesse verkannt sah und die damit gegebene Mechanisierung und Technisierung des geistigen und sozialen Lebens bekämpfen wollte. Aber  gegen Kant  suchte sie die Verbindung zwischen dem Recht und dem soziologischen Substrat neu und vertieft zu knüpfen, die dieser zerrissen hatte. Hierin steht sie  mit dem Naturrecht  gegen KANT, lehnt nur die naturrechtliche einfache Psychologie und rationale Konstruktion ab und eröffnet damit einen Weg zum Verständnis dessen, was sowohl bei KANT wie beim Naturrecht unter den Tisch fallen mußte: der  konkreten Geistigkeit der einzelnen geschichtlichen Phänomen.  Denn deren Dignität war bei beiden vernichtet: im Naturrecht durch die Rechtfertigung alles Geschichtlichen durch die bloß rationale Konstruktion aus der sich ewig gleichbleibenden Menschennatur, bei KANT durch die Betrachtung alles Geschichtlichen als bloßer Stufe im Fortschritt der Menschheit, also als bloßen Mittels zu einem höheren Ziel. Die  metaphysische Eigenwürde  jeder konkreten Geistigkeit war so vernichtet; die historische Schule erobert sie, indem sie alle Perioden gleich nahe zu Gott stellt. Aber auch dieser Großtat des deutschen Geistes, mit der er sich  von einer zweiten Seite aus der westeuropäischen Geistesgeschichte loslöste,  fehlte die große weltgeschichtliche Auswirkung. Denn der Kantianismus stand ihr ebenso feindlich gegenüber wie der westeuropäische Rationalismus; nur die politische Reaktion verstand ihren metaphysischen Gehalt politisch auszumünzen, während der deutsche Liberalismus, was ansich durchaus möglich gewesen wäre, aus ihm nicht zu schöpfen verstand, vielmehr im nachkantischen und westeuropäischen Rationalismus verankert blieb. Die historische Schule verstand es weder, von einer  zeitlich geordneten Darstellung  der geschichtlichen und soziologischen Probleme zu einer  sachlichen Erforschung der gesellschaftlichen Phänomene als solcher,  noch zu einer neuen Geschichts- und Sozialphilosophie vorzudringen (23). Wie der Bruch mit dem 18. Jahrhundert, den KANT vollzogen hatte, eine eigene deutsche konstruktive Soziologie nicht hatte aufkommen lassen, so verhinderte das Steckenbleiben der historischen Schule in der zeitlich geordneten Darstellung und ihr Versagen in Bezug auf eine große Geschichts- und Sittenmetaphysik das Entstehen einer nicht-rationalen soziologischen Erforschung der Beziehungen und Bedingtheiten der gesellschaftlichen Phänomene. Es ist von BELOW gewiß darin rechtzugeben, daß sich eine Fülle von soziologischen Erkenntnissen in unseren großen geschichtswissenschaftlichen Forschungen zerstreut findet. Aber es fehlte eben doch an der  Synthese  dieser Ergebnisse: ein übertriebener Skeptizismus in Bezug auf - wenn auch vorläufige und korrekturbedürftige - Verallgemeinerungen hielt die sozialwissenschaftliche Forschung in den Banden einer nur die individuellen Bedingtheiten und Verknüpfungen berücksichtigenden, generalisierungsscheuen Methodi, die einem Philologismus und Historismus, den Zwillingsbründern eines nicht metaphysisch verankerten Positivismus, den Weg bereiten mußte. Empiristischer Historismus und formaler neukantischer Rationalismus (24) gehören so, auch von dieser Seite aus gesehen, geistesgeschichtlich zusammen. Und wie der  metaphysikfreie formale Rationalismus  der Neukantianer in seiner Substanzlosigkeit nur bei den letzten und inhaltsleersten Abstraktionen haltmachen konnte, so mußte der  metaphysikfreie Historismus  in seiner Substanzlosigkeit dazu führen, mit einer  historischen Psychologie  zu arbeiten, die an Trivialität, ja teilweise an materialistischer Brutalität kaum zu überbieten ist, sofern nicht der intuitive Tiefblick eines Genies feinere soziologische Zusammenhänge instinkthaft herauszulesen verstand. WINDELBAND charakterisiert die Psychologie, mit der die pragmatische Geschichtswissenschaft arbeitet, gewiß nicht fehlerhaft, wenn er sie - bezeichnenderweise übrigens nicht tadelnd, sondern als im Wesen der Sache begründet - als die Psychologie "des täglichen Lebens", als die der "Menschenkenntnis und Lebenserfahrung des gemeinen Mannes" charakterisiert. Und je mehr beim Absterben der Metaphysik als einzige die des ökonomischen Materialismus von MARX übrig blieb, umso mehr mußte die historische Psychologie in den Bann dieser brutalen und ungeistigen rationalistischen konstruktiven Geschichtsmetaphysik, dem letzten Ausläufer des konstruktiven soziologischen Naturrechts, gezogen werden. Die soziologischen und historischen Vorgänge erschienen in ihrem eigentlichen Wesen erst wirklich erkannt, wenn sie auf den Generalnenner dieser "rationalen Psychologie",  irgendein wirtschaftliches Machtinteresse gebracht waren. Wie der metaphysikfreie Rationalismus in einem positivistischen Empirismus versanden muß, so muß der metaphysikfreie Historismus in einen psychologischen Rationalismus ausmünden: beides die notwendigen Begleicherscheinungen eines materialistischen Zeitalters. Der  Marxismus  bietet die letzten Formeln für eine solche Epoche, er muß darum ihre stärkste Kraft sein; zumal wenn man dazu bedenkt, daß der Marxismus sich nicht damit begnügt, die traurige Verstricktheit der Menschheit in den Banden der stets mit Ausbeutungen verknüpften, harten ökonomischen Gesetzlichkeiten zu schildern, sondern letztlich diktiert ist von der Sehnsucht, diese Bande abzustreifen, und darum eine Lhre von der Erlösung des Menschengeschlechts darstellt. Es mag ideengeschichtlich halb richtig sein, daß KANT bereits den Marxismus durch seine Zerstörung der "rationalen Psychologie" "überwunden" hatte, daß MARX im Grunde "Vorkantianer" ist. Aber KANT hatte die soziologischen Probleme aus seinem System und aus der Sphäre wissenschaftlicher Erforschbarkeit verbannt; - sie sind jedoch nicht zu bannen, weil sie ewige Probleme sind. Der Neukantianismus, die "fragwürdige Gestalt", in der der "Geist" KANTs unter uns umgeht, konnte ihre Fragen erst recht nicht zum Schweigen bringen, vor allem aber in unserem Geistesleben nicht die Gegengifte bilden, die nötig gewesen wären, um das gefährliche materialistische und utopische Gift des Marxismus zu paralysieren. Daß das Eigentum Diebstahl ist und der Staat ein kapitalistischer Ausbeutungsmechanismus, das sind Lehren, an die man glauben kann, die anschaubar, die erlebbar (25) sind. Aber daß der Staat eine Verfahrensgrundreihe, ein Zurechnungspunkt sein soll und das Eigentum eine letzte Entscheidung, das ist schlechthin unerlebbar und darum als Weltanschauung oder als Grundlage einer Weltanschauung des "Sinnes" entbehrend.

Die neukantische Philosophie war ausgegangen von einem weltanschauungsmäßigen Bestreben, ein Reich absoluter Werte über der Wirklichkeit als deren Halt und Maßstab sicherzustellen. Dieses Ziel ist verfehlt worden, weil er in einem erkenntnistheoretisch-formalen Rationalismus stecken blieb und stecken bleiben mußte, da er - letztlich doch selbst aus dem Geist der Zeit geboren - dem empirischen Positivismus keine positive  Metaphysik  entgegenzustellen wagte. Sein erkenntnistheoretischer Rationalismus steht an weltanschauungsmäßigem Gehalt weit hinter dem Rationalismus der vorkantischen Zeit und dem KANTs zurück. Denn es fehlt ihm deren  Seele:  der bergeversetztende Glaube an die Rationalität der empirischen Wirklichkeit, an die unendliche Perfektibilität des Menschen und den ewigen Fortschritt in der Geschichte. Wo er Anklänge an diese letzten Hoffnungen hat, wurzeln sie nicht in seinen eigenen Grundlagen, sondern sind im Widerspruch zu ihnen erschlichen, aus früheren Metaphysiken entlehnt und darum philosophisch unglaubhaft. Und doch beruth natürlich auch sein Gedankengebäude auf einer bestimmten Metaphysik, da Metaphysik "etwas Unvermeidliches ist": "sie ist kein Luxus, den man auch nicht treiben könnte" (26). Daß sein  philosophisches  Erkenntnisbedürfnis in erkenntnistheoretischen Abstraktionen zur Ruhe zu kommen, in ihnen  Befriedigung  finden kann, beruth auf einem bestimmten  Lebensgefühl,  bestimmten  letzten geistigen Einstellungen.  Und diese charakterisieren sich als eine Flucht aus der bedrückenden und erdrückenden unendlichen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit, der gegenüber als letzte Zufluchtsstätte bloß noch abstrakte, bloß noch formale und eindimensionale Begriffsbildungen, die alles Stoffliche und Anschauliche ausgeschieden haben, Ruhe gewähren können. Ermattet und geängstigt von der Fülle der "Impressionen", findet er für sein inneres Befreiungsbedürfnis nur noch die  geometrische Formensprache:  aber nicht so sehr als Ausdrucksform für ein positives Lebensgefühl, sondern als bloße  Negation der Lebensfülle.  Bei den Marburgern ist noch ein größeres Erbteil aus der vorkantischen rationalistischen Metaphysik, mehr positiver Glaube an die Rationalität und Rationalisierbarkeit der Welt, und  darum  auch mehr Gefühl für die positiven Werte der eindimensionalen Formensprache lebendig. Aber bei beiden Richtungen beweist bereits die  Wahl dieser Formensprache, als eines Ausdrucks für ihr Lebensgefühl und Befreiungsbedürfnis,  eine charakteristische Blindheit für die konkreten geistigen Werte, die die Wirklichkeit erfüllen (27). Und diese Blindheit konnte sich ebenso mit einer  Respektlosigkeit  vor diesen Werten verbinden wie mit einem müden, kraft- und substanzlosen  Relativismus,  zwei geistigen Einstellungen, die die Zeit als Massenerscheinungen hervortrieb. Beiden leistet der Neukantianismus Vorschub. Denn die abstraktesten, jedes konkreten Inhaltes entleerten Allgemeinbegriffe sind bei ihm die Surrogate von weltanschauungsmäßigen Werten geworden, der abstrakte kategoriale Formgehalt der Wirklichkeit vikariiert [steht stellevertretend - wp] für ethische Normen, die absoluten Werte sind zu formalen inhaltslosen Gültigkeiten degradiert, die Realitäten des geistigen Lebens sind ausgehöhlt und ihr Wertgehalt ist statt in eine konkrete lebendige Geistigkeit in leere Formen und begriffliche Abstraktionen verlegt. Wo von Sinn und Gültigkeiten gesprochen wird, sind es unter den analytischen Gesichtspunkten der Erkenntniskritik gewonnene  logische  Abstraktionen, keine  schaubaren  und  erlebbaren  Werte. Abstrakte, unsinnliche, inhaltsleere, rationale "Reinheit" ist zu metaphysischer und übersinnlicher Reinheit umgedeutet. Aushöhlung und Entleerung alles Lebendigen ist das letzte Wort. Erkenntnistheorie ohne Wahrheitsbegriff, Psychologie ohne Seele, Rechtswissenschaft ohne Rechtsidee, formale Gesinnungsethik ohne Sittlichkeitsbegriff, Geisteswissenschaften ohne Gefühl für konkrete Geistigkeiten sind die Kinder der Zeit. Nirgends ein fester Halt in den uferlosen Meeren der leeren Formen und der vom Denken nun einmal nicht auflösbaren empirischen Tatsächlichkeiten. So wurde der Neukantianismus, ohne es selbst zu ahnen, das Gegenteil dessen, was er wollte: der unmittelbare Wegbereiter jeder an sich selbst verzweifelnden SPENGLER-Stimmung, der jüngsten Erkrankung unserer, einer Metaphysik des Geistes beraubten Volksseele.

Aber etwas, wie das Ding-ansich, ein absolutes Irrationales, von einem analytischen Denken nie zu Durchdringendes, von ihm nie Auszulösendes sehen wir immer stärker gegen den neukantischen Rationalismus und seine erkenntnistheoretischen und rechtsphilosophischen Äußerungen reagieren. In der Philosophie lehnt sich immer vernehmbarer etwas Nichtrationalisierbares, das zurückgedrängte, aber nicht zurückdrängbare "Leben" - oft in chaotischen Formen: ein Bios ohne Logos - gegen die rationalistische Hybris der Erkenntnistheorie auf. In der Rechtsphilosophie erhebt das "soziale Leben" wieder immer lauter seine Stimme gegen den erdrückenden Formalismus der Rechtswissenschaft und der Rechtsphilosophie und fordert - auch oft in den wilden und ungezügelten Formen eines freirechtlichen Nihilismus - seine Rechte. Ein ungebändigter Vitalismus und eine völlige Auflösung des Rechts in Soziologie sind die großen Gefahren, die dem deutschen Geist aus diesen Reaktionen erwachsen.

Den wir  bedürfen um leben zu können, der Formen; und wir müssen die von uns geschaffenen Formen immer wieder zerstören, wenn wir lebendig  bleiben  wollen. das ist unser Schicksal. Aber nur die lebendige Form ermöglicht das Leben; und nur sie teilt das Schicksal des Lebens, sterben zu können. Die abstrakte,  nur  durch rationales Denken gewonnnene Form aber ist hart und starr: in ihr ist ein Leben nicht möglich; und sie kann nicht sterben, weil sie schon tot ist.

Der deutsche Geist befindet sich in einer Krise, wie er sie vielleicht noch nie in seiner tragischen Geschichte durchlebt hat. Wird er die Kraft haben, den Rationalismus aus seinem Dasein auszustoßen? Wird ihm die innere Zucht beschieden sein, einen ungebändigten Lebensdurst zu zügeln? Wird er es verstehen, seine Seele wieder einen Ankergrund finden zu lassen im Ewigen?

Auf dem heute lebenden Geschlecht, vor allem auf der heranwachsenden Generation, ruht eine Verantwortung, wie sie vielleicht noch auf keinem Geschlecht gelastet hat: sie wird unseren Glauben an die unerschöpfliche metaphysische und mystische Tiefe des deutschen Geistes nicht zuschanden werden lassen.
LITERATUR Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie Tübingen 1921
    Anmerkungen
    7) Clausula, a. a. O., Seite 140, 148, 152/53.
    8) vgl. Clausula, a. a. O., Seite 129f
    9) z. B. Clausula, a. a. O., Seite 151
    10) Clausula, a. a. O., Seite 190
    11) Clausula, a. a. O., Seite 145
    12) Clausula, a. a. O., Seite 132
    13) RADBRUCHs bekannte antithetische Gegenüberstellung von Personalismus und Transpersonalismus, von Individualismus und Überindividualismus (die auf einer Vergröberung LASKscher Gedanken beruth), ist in derselben rationalistischen Denkmethode begründet, die das Antinomische, das in der  Sache selbst  als restlos nie aufhebbarer Gegensatz gegeben, aber als "in der Idee" aufzuhebender "aufgegeben" ist, wissenschaftlich allein dadurch erfassen zu können glaubt, daß sie diesen relativen Gegensatz zu einem absoluten hypostasiert. Dadurch wird der Weg zum Verständnis der sozialen Wirklichkeit, die überall auf einem bestimmten Verhältnis zwischen den beiden antithetisch auseinandergerissenen Begriffspolen beruth, rettungslos verbaut. Ich bin so wenig "Überindividualist", wie ich "Machtmonist" bin. Ohne daß die individualistischen Interessen in einem überindividuellen Ganzen irgendwie ihr Genüge finden und die Interessen des Ganzen auf denen der es bildenden Individuen aufgebaut sind, ist ein überindividuelles Ganzes gar nicht "möglich". Freilich wird und muß stets ein gewisses "Spannungsverhältnis" zwischen der Gesamtheit und den Mitgliedern der Gesamtheit oder einem Teil dieser Mitglieder bestehen bleiben: wie zwischen Macht und Recht, Wirklichkeit und Wert. Das Problem jeder sozialen Gruppe liegt aber gerade in diesem nie restlos zu überwindenden Spannungsverhältnis. Jede Betrachtung sozialer Phänomene, die nicht eben dieses Spannungsverhältnis zur Grundlage nimmt, sondern es entweder harmonistisch auflöst oder in zwei antithetische Betrachtungsarten auseinanderlegt, von denen jede die entgegengesetzte harmonistische Lösung des Problems geben zu können glaubt, ist von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Näheres vgl. insbesondere  Clausula,  a. a. O., Seite 140-145.
    14) Wie fern meinen Ausführungen über die Bedeutung des Machtgedankens der Gewaltgedanken gelegen hat, geht daraus hervor, daß ich einerseits immer wieder betonte, Machtbehauptung sei nur auf  sittlicher Grundlage  möglich, die staatliche Macht setze Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit bei den Staatsangehörigen voraus, beruhe auf eine unlöslichen gegenseitigen Durchdringung von Herrschaft und Genossenschaft, einem sich gegenseitigen Stützen, einem Tragen und Getragenwerden (Clausula, a. a. O., Seite 140, 146, 152 und öfter; so aber auch bereits in "Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips, Seite 30f und 33), und daß ich andererseits auch die  Kirche  als ein dem Staat möglicherweise koordinationsrechtlich ggenüberstehendes Machtsubjekt schildere (Clausula Seite 153f).
    15) Mit ihr habe ich mich eingehend in  Clausula,  a. a. O., Seite 83-111 auseinandergesetzt.
    16) vgl. Clausula, a. a. O., Seite 93f
    17) vgl. Verwaltung, Verwaltungsrecht, Seite 701f.
    18) Während diese soziologische Auffassung bei einigen Naturrechtlern ganz im Vordergrund steht, namentlich bei HOBBES, gesellen sich bei anderen noch weitere, auch die spezifisch rechtlichen Gesichtspunkte betonende Gedankenelemente, wie sie zuerst das stoische und dann das christliche Naturrecht entwickelt hatte, hinzu. Aber auch  sie  sind stets auf die "Natur des Menschen" begründet.
    19) Vgl. PAUL HENSELs schöne Studie über SWIFT in den von ERNST HOFFMANN herausgegebenen "Kleinen Schriften und Vorträgen", Seite 45f.
    20) Vgl. Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips, Seite 30f und 33f.
    21) Vgl. gegen STAMMLER  Clausula,  a. a. O., Seite 209
    22) KANTs Ablehnung der empirischen Soziologie beruth auf seiner rigoristischen Seelenlehre, nach der das empirische Gefühls- und Willensleben - weil stets hedonisch und "pathologisch affiziert" - jeder kategorialen "Gesetzlichkeit" entbehrt und  darum  auch nicht erkannt werden kann. Die "Gesetzlichkeit" des Willens ist nur eine noumenale, ethische; und diese ist kein Gegenstand der theoretischen, sondern nur der praktischen Vernunft.
    23) Die Rechts- und Staatsphilosophie von FRIEDRICH JULIUS STAHL, die ich in  meinen  Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips zu analysieren versucht habe, ist der wertvollste philosophische Ertrag dieser Richtung: sie enthält Ansätze, aber eben nur Ansätze, zu einer Geschichts- und Sozialphilosophie.
    24) Vgl. Auswärtige Gewalt und Kolonialgewalt in den Vereinigten Staaten, Seite IX; Clausula, a. a. O., Seite VII
    25) MAX WEBERs wegwerfender Ausruf: "Wer  Schau  wünscht, gehe ins Lichtspiel" - braucht nicht zu schrecken.
    26) vgl. meine Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips, Seite 6.
    27) Bei dem philosophisch vielfach nach der Richtung des südwestdeutschen Denkens orientierten MAX WEBER ist die - durchaus bewußte - Wahl der rationalen Formensprache der Ausdruck eines höchst positiven und starken Lebensgefühls: Verzicht auf jede  theoretische  Weltanschauung, harte Selbstzucht und "innerweltliche Askese", stählerne "Verantwortlichkeitsethik" und bei all dem doch eine letzte unbefriedigte Sehnsucht nach dem Über-Rationalen, das aber jenseits alles theoretischen Verhaltens zu lassen Pflichtgebot ist. Wer Gefühl für die Formensprache hat, dem können die hier nur angedeuteten entscheidenden Unterschiede nicht entgehen.