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Wissen schaffen
HERMANN HELMHOLTZ

Jede einseitige Ausbildung hat ihre Gefahr; sie macht unfähig für die weniger geübten Arten der Tätigkeit, beschränkt dadurch den Blick für den Zusammenhang des Ganzen; namentlich aber treibt sie auch leicht zur Selbstüberschätzung. Wer sich bewußt ist, eine gewisse Art geistiger Arbeit viel besser zu verrichten als andere Menschen, vergißt leicht, daß er manches nicht leisten kann, was andere viel besser tun als er selbst; und Selbstüberschätzung - das vergesse niemand, der sich den Wissenschaften widmet - ist der größte und schlimmste Feind aller wissenschaftlichen Tätigkeit. Wie viele und große Talente haben nicht die dem Gelehrten vor allen Dingen nötige und so schwer zu übende Selbstkritik vergessen, oder sind ganz in ihrer Tätigkeit erlahmt, weil sie trockene emsige Arbeit ihrer selbst unwürdig glaubten und nur bestrebt waren, geistreiche Ideenkombinationen und weltumgestaltende Entdeckungen hervorzubringen! Wieviele haben nicht in verbitterter und menschenfeindlicher Stimmung ein melancholisches Leben zuende geführt, weil ihnen die Anerkennung der Menschen fehlte, die natürlich durch Arbeit und Erfolge errungen werden muß, nicht aber dem bloß sich selbst bewundernden Genie gezollt zu werden pflegt. Und je isolierter der Einzelne ist, desto leichter droht ihm eine solche Gefahr; während umgekehrt nichts belebender ist, als zur Anstrengung aller Kräfte genötigt zu sein, um sich die Anerkennung solcher Männer zu erringen, denen man selbst die höchste Anerkennung zu widmen sich gezwungen fühlt.

Ich erinnere an den riesenhaften Umfang des Materials unserer Wissenschaften. Zunächst ist klar: je größer dieser Umfang ist, eine desto bessere und genauere Organisation und Anordnung gehört dazu, damit man sich nicht im Labyrinth der Gelehrsamkeit hoffnungslos verläuft. Je besser die Ordnung und Systematisierung ist, desto größer kann auch die Anhäufung der Einzelheiten werden, ohne daß der Zusammenhang leidet. Unsere Zeit kann so viel mehr im Einzelnen leisten, weil unsere Vorgänger uns gelehrt haben, wie die Organisation des Wissens einzurichten ist.

Diese Organisation besteht in erster Stufe nur in einer äußerlichen mechanischen Ordnung, wie sie uns unsere Kataloge, Lexika, Register, Indizes, Literaturübersichten, Jahresberichte, Gesetzessammlungen, naturhistorischen Systeme usw. geben. Mit Hilfe dieser Dinge wird zunächst nur erreicht, daß dasjenige Wissen, welches nicht unmittelbar im Gedächtnis aufzubewahren ist, jeden Augenblick von demjenigen, der es braucht, gefunden werden kann. Mittels eines guten Lexikons kann jetzt ein Gymnasiast im Verständnis der Klassiker manches leisten, was einem ERASMUS trotz der Belesenheit eines langen Lebens schwer geworden sein muß. Die Werke dieser Art bilden gleichsam den Grundstock des wissenschaftlichen Vermögens der Menschheit, mit dessen Zinsen gewirtschaftet wird; man könnte sie vergleichen mit einem Kapital, was in Ländereien angelegt ist. Wie die Erde, aus der das Land besteht, sieht das Wissen, das in Katalogen, Lexika und Verzeichnissen steckt, wenig einladend und unschön aus; der Unkundige weiß die Arbeit und Kosten, welche in diesen Acker gesteckt sind, nicht zu erkennen und nicht zu schätzen; die Arbeit des Pflügers erscheint unendlich schwerfällig, mühsam und langweilig. Aber wenn auch die Arbeit des Lexikographen oder des naturhistorischen Systematikers einen ebenso mühsamen und hartnäckigen Fleiß in Anspruch nimmt, wie die des Pflügers, so muß man doch nicht glauben, daß sie untergeordneter Art oder so trocken und mechanisch sei, wie sie nachher aussieht, wenn man das Verzeichnis fertig gedruckt vor sich liegen hat. Es muß eben auch dabei jede einzelne Tatsache durch aufmerksame Beobachtung aufgefunden, nachher geprüft und verglichen, es muß das Wichtige vom Unwichtigen gesondert werden, und das alles kann offenbar nur jemand tun, der den Zweck, zu welchem gesammelt wird, den geistigen Inhalt der betreffenden Wissenschaft und ihre Methoden lebendig aufgefaßt hat. Für einen solchen wird auch jeder einzelne Fall wieder in Zusammenhang mit dem Ganzen treten und sein eigentümliches Interesse haben. Sonst würde ja auch diese Tätigkeit die schlimmste Sklavenarbeit sein, die sich ausdenken läßt.


LITERATUR, Hermann Helmholtz, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaft, Vorträge und Reden, Bd. 1, Braunschweig 1896